Wahl 2021

Chaos am Super-Wahltag in Berlin: Muss die Wahl wiederholt werden?

Warteschlangen, Wartezeiten, fehlende und vertauschte Stimmzettel: Was ging am Sonntag schief? Die Landeswahlleitung versucht eine Erklärung. 

Sie hatte am Montag keinen leichten Stand: Die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis musste viele Fragen zum Wahl-Durcheinander am 26. September beantworten.
Sie hatte am Montag keinen leichten Stand: Die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis musste viele Fragen zum Wahl-Durcheinander am 26. September beantworten.dpa/Christoph Soeder

Berlin-Muss die Wahl in Berlin wiederholt werden? „Das kann ich noch nicht sagen“, teilte die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis am Montag mit. Doch das gesamte Ausmaß des peinlichen Wahl-Durcheinanders am Sonntag wird immer klarer. So gibt es jetzt erstmals eine offizielle Schätzung darüber, in wie vielen Wahllokalen die Stimmzettel ausgegangen sind. „Ich vermute, dass es sich um eine hohe zweistellige oder niedrige dreistellige Zahl handelt“, sagte Geert Baasen, dem die Geschäftsstelle der Landeswahlleiterin untersteht. Michaelis sprach von „relevanten Wahlfehlern“, die nun untersucht würden. Am Sonntag seien ungünstige Faktoren zusammengekommen, bedauerte die Juristin. „Es war eine Situation, die an Überforderung grenzte“, sagte sie. 

Lange Warteschlangen, stundenlange Wartezeiten, fehlende, falsche oder vertauschte Stimmzettel: Bei dem Versuch, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen, wurden tausende Wähler in Berlin mit Chaos konfrontiert. Bei dem Versuch, es zu erklären, zeigte sich Petra Michaelis ratlos.

Bitte um mehr Personal in den Wahlämtern blieb ohne Reaktion

„Mir ist es auch unverständlich, warum in einigen Wahllokalen die Stimmzettel ausgegangen sind“, gab sie am Montag zu. „Wo sie gelegen haben, kann ich Ihnen nicht sagen.“ Betroffen waren die Bezirke Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf, sagte Geert Baasen.  Auch darüber, dass Wähler nicht alle fünf Stimmzettel bekamen, war Michaelis überrascht: „Das hat mich erstaunt.“ Manchmal wirkte die Landeswahlleiterin so, als könne sie die Berichte selbst nicht glauben. So meinte sie zunächst, die Warteschlangen hätten sich „im Rahmen des Üblichen“ gehalten. Später sagte sie, dass „keine Warteschlangen“ üblich seien.

Allerdings hatten die Verantwortlichen schon geahnt, dass es zu Problemen kommen würde. Denn am Sonntag wurde in Berlin nicht nur der Bundestag gewählt, sondern auch das Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen. Der Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co  enteignen kam hinzu. „Es war eine Herausforderung, die wir mit großer Sorge gesehen haben“, berichtete Michaelis am Montag. In Berlin hatte man diskutiert, ob man die Stimmabgabe besser auf zwei Termine innerhalb von sechs Wochen verteilen sollte. Letztlich entschied man sich dagegen: „Wir wären noch mit der ersten Wahl beschäftigt, wenn wir die nächste schon vorbereiten müssten.“

So stand man in Berlin am 26. September vor der Aufgabe, die Auszählung von fünf Stimmzetteln pro Wähler zu organisieren. Je nachdem, ob es um den Bundestag, das Abgeordnetenhaus oder die Bezirksparlamente geht, gibt es in Berlin bis zu 2,7 Millionen Wahlberechtigte. Von ihnen nahmen am Sonntag bis zu 75,7 Prozent ihr Wahlrecht wahr, unter Corona-Bedingungen mit Abstands- und Hygieneregeln sowie während des Berlin-Marathons, der Straßen zeitweise lahmlegte.

„So einen Super-Wahltag hat es in der Geschichte dieser Stadt noch nicht gegeben“, sagte Michaelis am Montag. Die verantwortlichen Bezirkswahlämter arbeiteten zudem „am Limit“ und mit knappem Mitarbeiterstamm. In einem Brief an die Bezirksbürgermeister hatte sie deshalb um mehr Personal gebeten. „Es gab keine Reaktion.“

Trotzdem sei sie nach mehreren Testläufen zuversichtlich in den Sonntag gestartet, sagte die Landeswahlleiterin. „Ich ging davon aus, dass wir die Sache gemeinsam mit den Bezirkswahlämtern stemmen können.“ Normalerweise würden bei einer Wahl in Berlin rund 20.000 ehrenamtliche Wahlhelfer eingesetzt, am Sonntag seien es 34.000 gewesen. Auch die Zahl der Wahllokale sei erhöht worden: um rund 500 auf 2257. Dasselbe galt für die Zahl der Wahlurnen, auch wenn Geert Baasen deren Zahl nicht beziffern konnte. Nicht zuletzt wurden für 110 bis 120 Prozent der Wahlberechtigten Stimmzettel beschafft. „Wir gingen davon aus, dass es genug für alle gibt.“

Vom Senat rief niemand an

Doch dann kam eine Berliner Besonderheit ins Spiel, das „Behörden-Pingpong“:  Senats- und Bezirksebene schieben die Verantwortung hin und her. Für die Abwicklung im Detail seien die Bezirkswahlämter und die Wahlvorstände verantwortlich, betonte Petra Michaelis. Sie bestimmen zum Beispiel die Zahl der Stimmzettel. „Als die Probleme am Sonntag bekannt wurden, haben wir mit den Zuständigen in den Bezirken gesprochen. Aber einen direkten Zugriff in die einzelnen Wahllokale haben wir nicht“, so Baasen. Immerhin zeigte die Landeswahlleitung mehr Interesse als die Senatsinnenverwaltung. Von Seiten des Senats habe sich an diesem Sonntag niemand bei ihnen gemeldet, so Petra Michaelis.

Inzwischen wurden erste Forderungen laut, dass Innensenator Andreas Geisel (SPD) Konsequenzen ziehen müssen. Doch die Landeswahlleitung sei der Innenverwaltung weder „angegliedert“ noch ihr „unterstellt“, betonte Geisels Sprecher Martin Pallgen. „Die Position der Landeswahlleiterin ist eine ehrenamtlich ausgeführte, sie handelt unabhängig und ist nicht weisungsgebunden.“ Das müsse aus demokratietheoretischer Sicht auch so sein. „Es kann ja nicht sein, dass eine Regierung eigene Wahlen durchführt und organisiert. Es geht hier um die Selbstorganisation des Wahlvolkes“, so Pallgen.

Die Aufsicht der Innenverwaltung erstrecke sich auf die Rechtsaufsicht, stellte der Sprecher klar. „Aufgabe der Innenverwaltung ist es, darauf zu achten, dass eine Wahl nach Recht und Gesetz abläuft. Dieser Aufgabe kommen wir nach. Sie bezieht sich aber nicht auf die unmittelbare Durchführung der Wahl. Werden Verstöße bekannt, gehen wir diesen nach.“

Wie geht es nun weiter? Geprüft werde jetzt, ob die Wahl im rechtlichen Sinne ordnungsgemäß verlaufen ist, sagte sie. Wenn Wähler nicht wählen können, weil sie nicht mit den richtigen Stimmzettel ausgestattet wurden, liege ein relevanter Wahlfehler vor. Das gelte auch, wenn nicht alle fünf Stimmzettel ausgeteilt oder Stimmzettel vertauscht wurden.

Staatsrechtler: Erfolgschancen einer Wahlanfechtung sind gering

Sobald am 14. Oktober das Endergebnis vorliegt, darf die Wahl angefochten werden, je nachdem vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin. Doch Juristin Michaelis machte deutlich, dass die Latte hoch gehängt ist: Nur „mandatsrelevante Wahlfehler“ seien erheblich, zum Beispiel, wenn in Folge ein Abgeordnetenmandat falsch vergeben wurde.

Bedenken gab es auch, weil Wähler noch nach 18 Uhr ihre Stimme abgeben durften – obwohl dann bereits erste Hochrechnungen bekannt waren. Nach der Wahlordnung darf jeder, der sich bis dahin in eine Warteschlange vor einem Wahllokal einreiht, noch zur Wahlurne vorgelassen werden. Es müsste nachgewiesen werden, dass so viele Wähler wegen der Prognosen ihre Präferenz geändert haben, dass sich die Sitzverteilung im Parlament ändert, sagte der Staatsrechtler Christian Pestalozza der Berliner Zeitung. „Auf den ersten Blick will ich nicht ausschließen, dass die Sache jemand als Grund für eine Wahlanfechtung nimmt. Aber es wird schwierig, da etwas ganz klar nachzuweisen.“