Genau 100 Tage ist Berlins schwarz-rote Landesregierung im Amt. Pünktlich, sozusagen als Morgengabe, trudelte die erste Umfrage seit der Wiederholungswahl am 12. Februar ein: Demnach käme die Union laut der Erhebung des Instituts Civey auf 24 Prozent – im Vergleich zu 28,2 Prozent bei der Wahl. Für den Koalitionspartner SPD ermittelte Civey 19 Prozent, etwas mehr als das Wahlergebnis von 18,4 Prozent. Die Grünen kämen auf 17, die Linke auf 13, die AfD auf 10 und die FDP auf 6 Prozent.
Mehr als vier Prozentpunkte minus? Ist Kai Wegner, kaum zum Regierenden Bürgermeister gewählt, also schon wieder auf dem Weg nach unten? Wohl kaum. Alle Beobachter und Beteiligten, Wegner eingeschlossen, wussten: Die 28,2 Prozent waren Ergebnis eines Protests. Protest gegen die Tatsache, dass es diese Wahlwiederholung überhaupt gab, dass die rot-grün-rote Koalition vor allem mit sich selbst beschäftigt war. Dass die Sperrung einer verkehrstechnisch eher unwichtigen Straße wie der Friedrichstraße zur Spaltung der Stadt führte. Dass, dass, dass ... Die 24 Prozent für die CDU sind wahrscheinlich ein ehrliches Ergebnis.
Kai Wegner hat die neuen Berliner Zahlen nicht öffentlich kommentiert. Warum auch, er ist gerade bundespolitisch unterwegs. Er arbeitet sich mal wieder an seinem neuen Lieblingsgegner ab, am CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz. Mit diesem hat Wegner spätestens im vergangenen Herbst endgültig gebrochen, als Merz – beziehungsweise dessen damaliger Generalsekretär Mario Czaja – mitten im Berliner Wahlkampf das Zugpferd wechseln wollte. Wegner sollte die Spitzenkandidatur für die Wiederholungswahl abgeben, Jens Spahn sollte übernehmen. Es ist anders gekommen, Wegner wehrte den Angriff ab. Aber der Stachel sitzt tief.
Kai Wegner ist der lauteste Friedrich-Merz-Kritiker in der CDU
Seit einigen Wochen ist der Generalsekretär Czaja Geschichte, umso mehr ist nun Friedrich Merz Ziel von Wegners Furor. Kürzlich war er der erste CDU-Grande, der Merz für seinen Schmusekurs mit der AfD öffentlich abkanzelte. Mit den Rechtspopulisten gebe es keine Zusammenarbeit.
Und weiter geht’s: In einem Interview des Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte der Regierende Bürgermeister und Chef der CDU Berlin auf die Frage, ob Merz als CDU-Parteichef das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur habe: „Eine Kanzlerkandidatur muss immer von einer breiten Mehrheit der Partei getragen werden. Natürlich wird Friedrich Merz an ganz entscheidender Stelle die Gespräche mitführen.“ Noch gönnerhafter hätte es Wegner kaum ausdrücken können, ohne grob unhöflich zu werden.
Kai Wegner gibt Friedrich Merz vergiftete Ratschläge
„Die CDU gewinnt Wahlen immer in der Mitte“, sagte Wegner. Er sei sich sicher, dass CDU-Chef Merz und Generalsekretär Carsten Linnemann das wüssten. Auch das klingt paternalistisch. Schon erstaunlich, was eine gewonnene Wahl aus einem Politiker machen kann. Breiter waren Wegners Schultern wohl noch nie.
Bei Kai Wegner wird einem gerade fast schwindelig, in welchem Takt er liebgewonnene Gewissheiten über den Haufen wirft. Es ist, als stecke der eigene Kopf in der Waschmaschine. Und Wegner hat den Knopf für den Schleudergang gedrückt.
Die #Schuldenbremse darf keine #Zukunftsbremse sein! Als @CDU sollten wir den Mut haben, neu zu denken. Wir sollten auch den Ökonomen zuhören, die Kredite nicht per se verteufeln. Es geht um Investitionen in krisenhaften Zeiten. Es geht um klare Tilgungspläne. (1/2)
— Kai Wegner (@kaiwegner) August 3, 2023
So forderte Wegner in dem RND-Interview von der Bundesregierung, die Schuldenbremse auf Eis zu legen. Ein führender CDU-Politiker positioniert sich gegen die Schuldenbremse!
Alles Taktik, nur weil Friedrich Merz für die Einhaltung der Schuldenbremse steht? Oder meint Wegner das am Ende wirklich so?
Die Antwort lautet: Offenbar ja – zumindest für den Moment! „Wir müssen die Schuldenbremse auf Bundesebene aussetzen, um Investitionen zu ermöglichen“, sagte Wegner. Zumindest für fünf Jahre.
Kai Wegner wettert gegen die Schuldenbremse
Wegner nannte Investitionen in neue Schulen, die Wohnungsbauförderung und Hilfen für eine sichere und bezahlbare Energieversorgung als Beispiele. Alles Dinge, auf die sich die von ihm angeführte schwarz-rote Koalition in Berlin längst geeinigt hat. Dieselbe Koalition, die gerade ein Sondervermögen von bis zu 10 Milliarden Euro für Investitionen in Klimaschutz und Resilienz auf den Weg bringt. Ein Sondervermögen, sagen Kritiker, ist nichts anderes als eine Neuverschuldung am regulären Haushalt und dessen im Grundgesetz verankerter Schuldenbremse von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorbei.
Kai Wegner: Christian Lindner wird der Totengräber Deutschlands
Und was sagte Kai Wegner? „Die Schuldenbremse ist ein Hindernis, wenn wir den Industriestandort Deutschland sichern und stärken wollen.“ Und: „Wenn der Bundesfinanzminister so weitermacht, wird er der Totengräber des Industriestandorts Deutschland sein.“
Wenn Konservative in der Realität ankommen, dann erzählen sie das, was sie bei Rot-Grün-Rot noch verteufelt haben. https://t.co/rREH4o7gDG
— Tobias Schulze (@Tobias_Schulze) August 3, 2023
War die FDP – und damit auch deren Vorsitzender, Bundesfinanzminister Christian „Totengräber“ Lindner – nicht neulich noch der natürliche Partner der CDU?
Nun, Kai Wegner sieht das seit geraumer Zeit nicht mehr so. Auch wenn die kulturelle Nähe beider Parteien weiter groß ist, hat sich Wegner vom Mini-Dauerpartner gelöst. Spätestens als klar war, dass in Berlin die katastrophal verbockte 2021er-Wahl wiederholt werden musste, schwenkte er um, weg von den Liberalen. Nur so hatte er eine realistische Chance, sein Ziel zu erreichen: Regierender Bürgermeister zu werden.
Kai Wegner sah seine Chance früher als andere. Er wurde aggressiver und gleichzeitig sozialer. Er war im Wahlkampf, als andere sich noch fragten, wie es so weit kommen konnte. Die wohnungspolitischen Beschlüsse der Partei aus dem vorigen Jahr waren anschlussfähig bei SPD oder den Grünen. Man könnte auch sagen: in der Stadtgesellschaft. Und jetzt sagt Wegner, er wolle den Wohnberechtigungsschein so ausgeweitet sehen, „dass auch Normalverdiener eine bezahlbare Wohnung in dieser Stadt finden können“. Das sei nämlich so gut wie unmöglich.
Kai Wegner: Ich weiß, wie es ist, wenn man Angst um seine Wohnung hat
Man würde Wegner unrecht tun, wenn man das als Taktik abtut, als Anbiederung an den Zeitgeist in der linken Stadt Berlin. Der Sozialpolitiker Wegner ist echt. Wegner ist in kleinbürgerlichen Verhältnissen im kleinbürgerlichen Hakenfelde im Norden Spandaus aufgewachsen. Seine Mutter war Verkäuferin, sein Vater Bauarbeiter. Er wisse aus eigener Erfahrung, wie Menschen fühlten, die fürchteten, ihre Wohnung nicht mehr bezahlen zu können, hat er einmal der Berliner Zeitung gesagt.
Diese Prägung wirkt nach. Daran ändert auch nichts, dass er längst in Kladow lebt. Das ist auch Spandau, aber im Süden, bei den Bürgerlichen, den Gutsituierten.
Wegner galt als Mann fürs Grobe, ein wenig Schlichte. Nicht umsonst trägt er den bösen Spitznamen „der kleine Kai“. Aus seiner Zeit im Deutschen Bundestag – immerhin saß er dort von 2005 bis 2021 – ist kaum etwas haften geblieben.
2019 putschte sich Kai Wegner in der Berliner CDU an die Macht
Am ehesten wusste man, dass er längere Zeit Vorsitzender der Landesgruppe Berlin in der Unionsfraktion war. Das passte ins Bild eines Strippenziehers in der eigenen Partei. Am Ende putschte er Monika Grütters aus dem Amt der Landesvorsitzenden. Das war 2019.
Es war der Start eines bis heute anhaltenden Aufstiegs. Dass Wegner dabei viele konservative Absichten wohl auch notgedrungen abschliff, haben viele nicht wahrnehmen wollen. Der Tagesspiegel dachzeilte damals über die Berliner CDU: „Zurück in den Kleingarten“.
Der heutige Kai Wegner klingt manchmal so, als hätte er mit dem alten so gut wie nichts zu tun. Doch das stimmt nicht. In einer Dokumentation des RBB sagte Wegner über seine Anfangsjahre: „Ich hatte damals eine ganz andere politische Einstellung. Ich war sehr konservativ innerhalb der CDU.“ Doch „irgendwann“, so sagte er, habe er seine „Scheuklappen abgelegt“. Er habe die Realitäten der Stadt zur Kenntnis genommen, „wie die Stadt eigentlich funktioniert, und warum ich eigentlich mein Berlin so liebe. Weil diese Stadt so vielfältig ist, wie sie vielfältig ist.“ So habe sich auch seine politische Einstellung „in vielen Bereichen den Realitäten angepasst“.
Viel Pathos, viel Canossa. Wegner wird das egal sein. Er geht auf in seinem neuen Amt, glüht vor Tatendrang, Freude am Machen und Stolz auf den Sieg. Auch da ist er ganz bei sich.
Zurück zum Kalkül des Machtpolitikers Kai Wegner: Es sei daran erinnert, dass er nach der Wahl mit den Grünen koalieren wollte, lieber als mit der SPD. Jene Grüne, die er nach Herzenslust bekämpft hatte. Jene Grüne, die in Berlin besonders links sind, sollten mit seiner CDU, die unter seinem Vorsitz doch so besonders rechts sein sollte, zusammengehen?
Warum denn nicht, hat Wegner dann stets zurückgefragt. Der Wahlkampf ende mit Schließung der Wahllokale. Dann könne man über Inhalte sprechen, er sehe große Übereinstimmungen mit den Grünen. Und selbst Grünen-Spitzenfrau Bettina Jarasch hielt die Unterschiede zur CDU in der Verkehrspolitik auch nicht für größer als die zur SPD.
Kai Wegner wollte mit den Grünen koalieren – die Zeit war noch nicht reif
Die Chance wäre für Schwarze wie für Grüne groß gewesen: Beide hätten ihr ideologisch-kulturelles Schneckenhaus verlassen, in dem sie sich seit Gründung der Alternativen Liste in Berlin im Jahre 1979 verbarrikadiert hatten. Beide hätten sich Optionen jenseits des bis dahin Möglichen eröffnet.
Hätten. Am Ende haben sich die Grünen nicht getraut. Das Projekt war nicht reif. Und Kai Wegner nahm das Angebot der SPD an. Hauptsache Rotes Rathaus. Der Ex-Partner FDP war mal wieder aus dem Parlament geflogen.

Die FDP nimmt die Ereignisse Kai Wegner persönlich übel. Mit seiner Forderung, die Schuldenbremse auszusetzen, reihe sich dieser „endgültig in die links-grüne Ecke und bei den Herz-Jesu-Sozialisten ein, die weder mit Geld umgehen können, noch die Mühe einer Haushaltskonsolidierung auf sich nehmen wollen“, sagt der Berliner Chef-Liberale Christoph Meyer. „Diese Politik wird Berlin über die nächsten Jahrzehnte enorm schaden.“ Die Hauptstadt habe kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. „Und das sollte auch der ,Rote Kai' mittlerweile verstanden haben.“ Wow!
Es gibt viele, die Kai Wegner seinen Wandel nicht recht abnehmen, den „roten Kai“. Auch in den eigenen Reihen zweifeln viele. Sie erinnern an die Vornamen-Debatte, als Wegners CDU forderte, die Polizei solle die Vornamen der Festgenommenen aus der Silvesternacht nennen. Warum? Weil man wissen müsse, mit wem man es zu tun habe, um diesen dann mit integratorischen Maßnahmen zu helfen, sagte Wegner und klang dabei fast wie ein Sozialarbeiter. Weil die CDU und Kai Wegner rassistisch seien, sagten die anderen.




