Berlin

Oktoberfest am Alexanderplatz: Warum gerade Berliner auf bayerische Bräuche stehen

O’zapft is … auch in Berlin! Warum sind ausgerechnet Oktoberfest und bayerische Trachten bei uns so beliebt? Eine Recherche im Hofbräu Wirtshaus am Alex.

In Berlin, hier die „Angermaier Trachtennacht“ im Hofbräu Wirtshaus, trifft Tradition auf Trash.
In Berlin, hier die „Angermaier Trachtennacht“ im Hofbräu Wirtshaus, trifft Tradition auf Trash.Frauke Joana

Angelika Jordan ist begeistert. Sie trage „sehr, sehr jerne Dirndl“, sagt die Hellersdorferin in schönstem Ostberliner Dialekt, wenngleich sie sich an diesem Abend in ein eher lockeres kariertes Landhauskleid geworfen hat, das einen charmanten Kontrast zu ihrem rot und schwarz gefärbten Strubbelhaar bildet.

Das Ehepaar Gresitza aus Marienfelde mag es indes formeller: Sie trägt Dirndl und Spitzenschürze, er Krachlederne und Wadenwärmer, dazu einen lebkuchenherzförmigen Anstecker mit „Hasi“-Schriftzug auf der Brust. „Den habe ich meinem Mann gekauft, weil das sein Spitzname ist“, sagt die Gattin und lächelt milde.

Und dann wäre da noch Matteo Friedrich, der zur Lederhose ein Charivari trägt, die traditionelle Schmuckkette mit Wildsauzahn, Geweih und Dachsbart also, die – pardon – recht lustig vor dem Schritt rumbaumelt. Für den heutigen Abend sei er „extra aus Charlottenburg angereist“. Nicht auf die Theresienwiese allerdings, Friedrich ist aus dem Berliner Westen lediglich nach Mitte gefahren – und trotzdem in einer anderen Welt gelandet.

Angelika Jordan mag Trachten und alles, was so dazugehört.
Angelika Jordan mag Trachten und alles, was so dazugehört.Frauke Joana

Es ist die „Angermaier Trachtennacht“ im Hofbräu Wirtshaus am Alexanderplatz, auf der wir vor wenigen Wochen die Berliner Dirndl-Fans und Lederhosenenthusiasten treffen. Die Party des bekannten Trachtenherstellers gilt als wichtigstes „Wiesn-Warm-up“ der Stadt – als Vorglühen für das große Oktoberfest, das heute mit der Tradition des Anzapfens eröffnet wird. In München sowieso, aber eben auch in Berlin, im Wirtshaus am Alex, so wie in zahllosen weiteren Städten der Welt von Düsseldorf bis Dresden, von Denver bis nach Delhi.

Auf unserem Oktoberfest kommen mehr als 90 Prozent unserer Gäste aus Berlin.

Björn Schwarz

Das Volksfest, könnte man sagen, ist zu einer weltumspannenden Gaudi mit unzähligen internationalen Wiesn-Ablegern geworden, die bayerische Traditionen und bayerische Tracht bis in die entlegensten Winkel des Planeten tragen. Und Björn Schwarz ist einer, der davon profitiert, dass ausgerechnet Münchner Bräuche auch in Berlin viel Anklang finden.

Noch „kannst dich dazusetzen“, zum Oktoberfest-Auftakt sind die Tische im Wirtshaus allerdings ausgebucht.
Noch „kannst dich dazusetzen“, zum Oktoberfest-Auftakt sind die Tische im Wirtshaus allerdings ausgebucht.Frauke Joana

„An normalen Abenden kommen etwa 80 Prozent unserer Gäste aus dem restlichen Deutschland, viele auch aus dem Ausland“, sagt der Geschäftsführer des Hofbräu Wirtshauses am Alexanderplatz, dem am heutigen Samstag die Ehre zuteilwird, hier den Zapfhahn mit einem hölzernen Schlegel beherzt ins Bierfass zu donnern. „Auf unserem Oktoberfest aber“, so Schwarz, „kommen mehr als 90 Prozent unserer Gäste aus Berlin.“ Ganz wie beim Münchner Original seien auch hier die Tische seit Monaten ausgebucht.

Es kaufen definitiv sehr viele Berliner und Brandenburger bei uns ein.

Nina Munz

„Es kaufen definitiv sehr viele Berliner und Brandenburger bei uns ein“, sagt auch Nina Munz, die Tochter des Trachten-Angermaier-Chefs mit Blick auf ihr Berliner Geschäft direkt unten im Hofbräu Wirtshaus. Neben den Filialen in München und Stuttgart sei auch der Laden am Alexanderplatz „ein gutes weiteres Standbein“. Eines in Lederhose und Wadenwärmer, sozusagen.

Manuela Gresitza und ihr „Hasi“ Steffen kommen aus Marienfelde.
Manuela Gresitza und ihr „Hasi“ Steffen kommen aus Marienfelde.Frauke Joana

Wie aber kommt es, dass sich Berlinerinnen und Berliner gern in die feschen Kleider und kernigen Hosen der Bayern werfen – nicht aber in jene Trachten, die ihnen zumindest geografisch näher lägen? In die traditionellen Kleider des Spreewalds, die der Sorben mit ihren aufwendig gelegten Kopftüchern zum Beispiel, oder in jene der Wenden mit ihren üppig von Hand gestickten Perlenpartien?

Die eine, echte Tracht gibt es nicht, nur das, was als solche festgelegt wurde.

Alexander Karl Wandinger

Alexander Karl Wandinger, ganz der Kulturwissenschaftler, empfiehlt erstmal einen Blick in die Geschichte dessen, was heute gemeinhin unter Tracht verstanden wird. „Eine Idee, ein Konstrukt“, so Wandinger, der das Zentrum für Trachtengewand des Bezirks Oberbayern leitet. „Die eine, echte Tracht gibt es nicht“, sagt er programmatisch. „Wohl aber das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte als Tracht festgelegt wurde.“

Zum Treff im Brandenburger Biergarten trägt die Dame um 1920 sorbisches Gewand, das erfreut die Touristen.
Zum Treff im Brandenburger Biergarten trägt die Dame um 1920 sorbisches Gewand, das erfreut die Touristen.Imago

Wie alle anderen Moden hätten sich auch die Trachten – von der Altländer Tracht ganz im Norden bis zur Oberstdorfer Tracht im südlichsten Zipfel Deutschlands, von der Marburger Tracht im Westen bis zur Altenburger Tracht in Ostdeutschland – zunächst ganz natürlich entwickelt. „Überregionale, auch kontinentale Stile wie die Empiremode oder das Biedermeier haben auch auf die regionalen Kleidergewohnheiten in Deutschland Einfluss gehabt.“ Die Idee einer ursprünglichen, unveränderlichen Tracht sei erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden.

Zur Formung eines Nationalbewusstseins bietet sich auch die Mode an.

Alexander Karl Wandinger

In der Romantik sei auch „der Mensch auf dem Land“ in seinen Eigenarten und Bräuchen zunehmend vom Bürgertum entdeckt und schwärmerisch hervorgehoben worden. Grafiker und Künstler fingen damit an, individuelle Kleidungsformen in ihren Zeichnungen gewissermaßen zu fixieren; ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Einführung einer Trachtenkultur mit Trachtenfesten hinzu – nicht nur aus einer Romantisierung des einfachen Landlebens heraus, sondern auch mit politischem Kalkül.

Auch in der DDR, hier 1989 in Dresden, wird die Trachtenkultur gepflegt.
Auch in der DDR, hier 1989 in Dresden, wird die Trachtenkultur gepflegt.Imago

„Auf Bayern übertragen bedeutet das etwa: Mit der Gründung des Königreichs ab 1806 brauchte es ein Nationalbewusstsein, das dem Gelingen eines Königreichs zuträglich ist“, so Wandinger, „und zur Formung dessen bietet sich auch die Mode an.“ Ein anderes Beispiel für die Politisierung der bäuerlichen Bräuche wäre der Schwarzwälder Bollenhut, der in drei protestantischen, zunächst württembergischen Dörfern entstanden war, die erst ab 1810 zu Baden gehörten. Mit ihrem Auftritt in selbigem, mit immer exakt 14 roten Bollen dekorierten Kopfschmuck setzte Großherzogin Luise noch 50 Jahre nach der Übernahme auf ländlichen Festen ein Statement.

Im Alltag hat die Tracht im Alpenraum und in fränkischen Gebieten überlebt.

Alexander Karl Wandinger

So oder so, ob Bollenhut oder Lederhose: Die kulturell manifestierte wie politisch motivierte Festsetzung von regionalen „Volkstrachten“ wirkt bis heute nach, zumindest in Teilen Deutschlands. Während die Kleiderbräuche in einigen Regionen nur noch institutionalisiert in Vereinen und Gruppen – „nur noch in der Pflege“, wie Wandinger es ausdrückt – überlebt haben, gebe es andere Gebiete, in denen sie sich auch im Alltag natürlich weiterentwickelt hätten. „Ganz stark im Alpenraum, auch in fränkischen Gebieten“, vor allem im Freistaat also.

Auf Postkartenmotiven, hier eine Szene aus Lübbenau, wird die Schönheit des Spreewalds modisch unterstrichen.
Auf Postkartenmotiven, hier eine Szene aus Lübbenau, wird die Schönheit des Spreewalds modisch unterstrichen.Imago

Warum Dirndl und Lederhosen hier auch außerhalb von Vereinsstrukturen sichtbar geblieben sind? Das hat laut Wandinger mehrere Gründe, von denen das patriotische „Mia san mia“-Getue mancher Bayern (von dem der aufgeklärte Kulturwissenschaftler freilich wenig hält) nur einer ist. „Zentrale Festivitäten wie das Oktoberfest, damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit, Vorbilder wie FC-Bayern-Spieler in Lederhosen, ein starker Fokus auf das Tourismusgeschäft, für das auch Trachten wichtig sind“, zählt er auf.

Heute zieht mancher AfD-Politiker im Janker durchs Land, was ich kritisch sehe.

Alexander Karl Wandinger

Allerdings: Ohne Unterbrechung seien Krachlederne und Dirndl nicht en vogue geblieben. „Als ich 1986 in Kloster Schäftlarn Abitur gemacht habe“, holt Wandinger aus, „war ich der einzige im Jahrgang, der noch Trachtengewand getragen hat.“ In den Achtzigern seien Trachten kein Thema gewesen – selbst auf dem Oktoberfest nicht. Ein neues Hoch hätten sie erst in den 90ern, vor allem auch im neuen Jahrtausend erlebt. Ein stoffgewordenes Indiz für den neuen Nationalismus, die Deutschtümelei, die sich im Land breitmacht? Schließlich haben doch auch die Nationalsozialisten einst die Tracht für ihre Zwecke missbraucht? Das will Alexander Karl Wandinger so nicht stehen lassen.

Matteo Friedrich ist lediglich aus Charlottenburg nach Mitte gereist.
Matteo Friedrich ist lediglich aus Charlottenburg nach Mitte gereist.Frauke Joana

„Ja, es hat damals Trachtengruppen und Trachtenkapellen gegeben, die durch die Nazis für ihre Zwecke instrumentalisiert wurden. Und ja, auch heute zieht mancher AfD-Politiker im Janker durchs Land, was ich sehr kritisch sehe.“ In den 1930ern habe es aber auch viele Trachtenvereine gegeben, die sich lieber aufgelöst hätten, als den Nationalsozialismus modisch zu untermalen. Und die Vereine, mit denen Wandinger heute in engem Kontakt steht, erlebe er als ausgesprochen weltoffen und tolerant.

Genau wie ich schätzen Trachtenvereine andere Kulturen genauso wie die eigene.

Alexander Karl Wandinger

„Genau wie ich“, sagt Wandinger, „schätzen sie die anderen Kulturen genauso wie die eigene.“ Tracht dürfe nicht vereinnahmt werden – und könne von jedem und jeder frei nach Gusto getragen werden. Ob eine Berlinerin ein Dirndl und ein Berliner eine Lederhose anziehen dürfe? Diese Frage stellt sich für Wandinger also überhaupt nicht. „Natürlich“, sagt er, „nur was gelebt wird, kann auch überleben.“

Untenrum könnte der Berliner auch ein waschechter Bayer sein, Wildsauzahn, Geweih und Dachsbart inklusive.
Untenrum könnte der Berliner auch ein waschechter Bayer sein, Wildsauzahn, Geweih und Dachsbart inklusive.Frauke Joana

Selbst mit ulkigen Neuinterpretationen, wie sie auf der „Angermaier Trachtennacht“ neulich in Berlin vielfach zu sehen waren – Dirndl mit Totenköpfen, T-Shirts zur Lederhose – hat Wandinger überhaupt kein Problem. „Nur über Plastiktrachten aus Asien freue ich mich aus Gründen des Umweltschutzes und der Qualität nicht“, sagt er.

Berliner sind moderne Trachtenträger, die weniger Wert auf Traditionen legen.

Nina Munz

Als Leiter des Zentrums für Trachtengewand des Bezirks Oberbayern gehört schließlich auch die Aufrechterhaltung einer gewissen Materialqualität zu seinen Aufgaben. „Dass ich mich persönlich für das Handwerk und für gute Qualitäten einsetze, dafür, dass eine Lederhose aus einem sämischgegerbten Hirschleder möglichst aus unserem Raum hergestellt wird, keine belasteten Lederarten zum Einsatz kommen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, das ist klar.“

Schäfer, Loth und Lohfink (v.l.) mit klarem Fokus aufs üppige Dekolleté.
Schäfer, Loth und Lohfink (v.l.) mit klarem Fokus aufs üppige Dekolleté.Frauke Joana

Hinzu komme die Wahrung beachtlicher Handwerkskünste wie dem Sticken mit Pfauenfederkiel, einer traditionellen Technik, die im bayerischen und österreichischen Raum bereits seit 1790 verbreitet ist und heute auch durch Wandingers Zentrum vermittelt wird.

Auf der „Angermaier Trachtennacht“ allerdings scheint der Großteil der Gäste von solchen Feinheiten ganz weit weg. Nicht nur die vielen Trash-Ikonen, die ins Wirtshaus gekommen sind – von Gina-Lisa Lohfink über Micaela Schäfer bis zu Kader Loht, alle mit klarem Fokus aufs üppige Dekolleté –, interpretieren den bayerischen Brauch lieber neu. Tendenziell sei auch der Berliner Durchschnittskunde „ein moderner Trachtenträger, der nicht so viel Wert auf Traditionen legt“, sagt Nina Munz von Trachten Angermaier. „Die Damen mögen es glitzernd und weniger hochgeschlossen, die Herren kurze Lederhosen.“

Warum es immer nur die bayerischen und nie die Spreewälder Kleiderbräuche sind, die in der Hauptstadt sichtbar werden? Wegen der fehlenden lebendigen Trachtenkultur? Als Modefachfrau drückt Munz es geschäftstüchtiger aus: „Weil die bayerische Tracht einfach an allen gut aussieht“, flötet sie. „Ein Dirndl passt zu jeder Figur, betont die Vorzüge, kaschiert eventuelle Problemzonen. Und ein Mann sieht in Lederhosen richtig kernig aus.“ Selbst, wenn es ein Berliner ist.