Die deutsche Stimme des ESC, Peter Urban, darf bei seinem Abschied nach 25 Jahren die Schmach verkünden: „Wir sind wieder die Letzten. Und da werden wir auch bleiben.“
Lord of the Lost, die Vertreter Deutschlands beim Eurovision Song Contest, wurden abgewählt, sowohl von den nationalen Jurys als auch vom TV-Publikum weltweit: Insgesamt kamen 18 Punkte zustande, damit zurück auf den letzten Platz. Urban kann es nicht fassen und er hat die Erklärung dafür schnell bei der Hand: „Irgendwie war das heute Abend der falsche Abend, das falsche Publikum, die falschen Jurys!“ Schuld an dem neuerlichen Desaster sind – wie so oft in den letzten Jahren – die anderen.
Bildstrecke
50 Jahre nach „Waterloo“
Keiner wollte den deutschen Absturz vorhersehen, aber alle wussten seit Wochen schon Bescheid über die Siegerin: Loreen aus Schweden. Die Gewinnerin von 2012 steht zum zweiten Mal ganz oben und verpflichten damit ihr Heimatland, exakt 50 Jahre nach dem ersten Sieg Schwedens mit Abbass „Waterloo“ das Festival erneut auszurichten. Und Schweden liegt damit jetzt im Ranking der Gewinnerländer gleichauf mit Irland, die mit ihren sieben Siegen bislang diese Liste anführten.

Obwohl Loreen so lange schon bei den Fans und den Wettbüros als Siegerin gehandelt wurde, dieser Favoritendruck ist bei ihr nie wirklich angekommen. Ihr Selbstverständnis als Künstlerin, gepaart mit einem Hang zur Spiritualität, haben sie davor bewahrt, bei ihrem finalen Auftritt zu versagen. Sie will das Publikum berühren, erklärt sie immer wieder: „Für mich ist der ESC ein Kanal zu Millionen von Menschen, denen ich gute Schwingungen sende“, sagt sie kürzlich in einem Zeitungsinterview. Und fährt fort: „Wir sind alle mit dem Universum verbunden und miteinander. Ich verbinde mich mit Menschen über Kreativität.“

Dass Loreen damit so weit kommt, wie sie gekommen ist, hat sie auch denen zu verdanken, die mit ihr seit Jahren schon zusammenarbeiten. Dazu gehört vor allem ein Mann, der Komponist Thomas Gustafsson, besser bekannt als Thomas G:son. Er hat „Euphoria“, das Siegerlied von 2012 ebenso für sie geschrieben wie jetzt „Tattoo“, die Nummer eins von Liverpool. G:son ist ein Phänomen im ESC-Geschäft, 16 Titel hat er bereits zum Wettbewerb beigesteuert, für Schweden natürlich, aber auch für Norwegen, Georgien, Spanien, Zypern, Frankreich und Malta. Und die Anzahl der Titel, die er für die Vorentscheide in diversen europäischen Ländern komponiert hat, beziffert sich auf über 100. Damit ist er bald gleichauf mit dem Großmeister des ESC, dem Münchner Komponisten Ralph Siegel. Der nahm in den letzten Jahrzehnten mit insgesamt 25 Titeln schon am ESC teil.
Rammstein-Tattoo auf der Brust
Neben Loreen war vor allem beim Publikum in der Liverpooler M&S Bank Arena Käärijä aus Finnland der ebenbürtige Gewinner. Sein Trinklied „Cha Cha Cha“ aktivierte die rund 6000 Zuschauer in der Halle zum Mitsingen, zum Mitgrölen. Der Rapper, der eigentlich Jere Pöyhönen heißt und ein Tattoo seiner Lieblingsband Rammstein auf der Brust trägt, überzeugte mit nacktem Oberkörper und giftgrünen Puffärmeln, konterkariert von den leuchtend rosafarbenen Outfits seiner Tänzerinnen und Tänzer. Der finnische Song, eine wüste Mischung aus Metal, HipHop und Schlager, war offensichtlich genau der richtige Titel in diesen Zeiten, präsentiert auf einem Stapel von Europaletten lieferte er nichts mehr als drei Minuten pure Unterhaltung.
Denn die Erinnerung an den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war in der überbordenden Finalshow am Samstagabend immer mit dabei. Schließlich war Liverpool nur der Platzhalter für die Ukraine, die nach ihrem Sieg im vergangenen Jahr eigentlich das Festival hätten ausrichten sollen. Der Präsident des Landes, Wolodymyr Selenskyj, bestand zunächst sogar darauf, den ESC in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol auszurichten. Aufgrund der kriegsbedingten Sicherheitslage war daran aber überhaupt nicht zu denken, die BBC sprang ein und wählte Liverpool zum Austragungsort.

So wie im Stadtbild von Liverpool in den letzten Wochen alles an die Ukraine erinnerte, so war auch die Show in der Bank Arena voller Verweise auf den eigentlichen ESC-Gastgeber, ukrainische Künstlerinnen und Künstler gehörten singend und tanzend zum Programm des Abends, und mit dabei im Moderationsteam war die Sängerin Julija Sanina aus Kiew. Als Selenskyj aber anbot, an diesem Abend auch mit einer Videobotschaft dabei zu sein, verwehrten ihm das die Veranstalter des ESC, die Europäische Rundfunkunion (EBU). Mit Verweis auf den unpolitischen Charakter der Veranstaltung. Eine Begründung, die die EBU immer dann aus der Tasche zieht, wenn sie etwas verhindern oder ablehnen will.
Das befremdet vor allem in diesem Jahr, da der Krieg in der Ukraine auf der ganzen Veranstaltung lastete. Selenskyj, der mit seinen Videos weltweit schon zu Gast war in den verschiedensten Parlamenten und auch Grußbotschaften entsenden durfte beispielsweise bei der Berlinale, der Biennale von Venedig, bei den Golden Globes oder der Frankfurter Buchmesse, darf just da nicht sprechen, wo er eigentlich oberster Gastgeber ist. Das verstoße gegen die Regeln, heißt es aus der EBU-Zentrale in Genf. Dabei hätte mit dieser Videobotschaft, „ein neues Genre der politischen Kommunikation“ (FAZ), die Anteilnahme am Schicksal der Ukraine noch einmal bekräftigt werden können.

Für Deutschland bleibt in diesem Jahr wieder die gleiche Frage wie jedes Jahr: Wie soll es weitergehen? Welche Konsequenzen muss die für die deutsche ESC-Teilnahme zuständige Sendeanstalt, der NDR, aus der neuerlichen Niederlage ziehen? Die Verantwortung dafür abgeben an einen anderen Sender? Endlich ein neues Verfahren finden für die Titelauswahl und die Durchführung des Vorentscheids? Oder gar ganz aus dem Wettbewerb aussteigen? So oder ähnlich laufen bereits in der Nacht die Diskussionen in den Fan-Foren des Internets.
Der NDR hat dann am Sonntagmittag reagiert: Man wolle „Ursachenforschung betreiben“, so Andreas Gerling, Chef des ARD-Teams für den Contest beim NDR. „Wir sind mit einem außergewöhnlichen Act gestartet, der überhaupt nicht das Ergebnis erzielt hat, das wir uns gewünscht haben. Das ist sehr, sehr enttäuschend und ernüchternd.“
































