Zweifelhafte Hits

„Deine Küsse sind so süß“ – Skandalsongs können nicht nur Rammstein

Nicht nur Rammstein – auch andere Bands und Künstler sind mit Hits berühmt geworden, die so heute nicht mehr funktionieren würden.

Sang schon Skandalsongs als es Rammstein noch gar nicht gab: Falco, hier bei einem Auftritt 1986, schockte den deutschsprachigen Raum mit dem Stalker-Stück „Jeanny“.
Sang schon Skandalsongs als es Rammstein noch gar nicht gab: Falco, hier bei einem Auftritt 1986, schockte den deutschsprachigen Raum mit dem Stalker-Stück „Jeanny“.

Skandale gehören zum Pop, seitdem es ihn gibt: von Chuck Berry, der „My Ding-a-Ling“ besang, bis zu den Beatles, die schon den allerersten Song ihres Debütalbums mit „one, two, three, fuck!“ anzählten. Inzwischen ist der Skandalsong fast schon ein eigenes Genre geworden – Radio eins widmete dem Thema „Skandal, Skandal“ einen ganzen Sommersonntag.

Wobei die von einer Jury aus Musikschaffenden erstellten „100 besten Skandalsongs“ wiederum von einem Skandal überschattet wurden: Drei der Lieder waren von Rammstein und von daher offenbar zu skandalös, um selbst im Skandal-Kontext gespielt zu werden.

Das Erstaunlichste an den meisten Songs, die heute als Skandalsongs kursieren, ist jedoch der Umstand, dass die Skandale, die sie zur Zeit ihrer Veröffentlichung auslösten, so recht gar keine waren, und der öffentliche Aufschrei vulgo Shitstorm heute viel, viel größer wäre – wenn die Songs überhaupt erschienen wären. Ob die Welt ärmer wäre? Ein paar Beispiele:

1. Falco: „Jeanny (Part 1)“, 1985: „Sie kommen, dich zu holen, Sie werden dich nicht finden, niemand wird dich finden, du bist bei mir …“ Vergewaltigungsfantasie oder Moritat eines Stalkers, der sein Opfer im Wahn des Verschmäht-Werdens umbringt – das konnte man sich schon 1985 aussuchen. So oder so setzte es für Falco einen Radiobann und einen Rüffel von Thomas Gottschalk, der Falco ein „Wiener Würstchen“ nannte, das „Schwachsinn“ produziere. Den Shitstorm, den der 1998 verstorbene Österreicher heute mit dem Lied auf sich ziehen würde, mag man sich nicht ausmalen.

2. Charlotte & Serge Gainsbourg: „Lemon Incest“, 1984:  „Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles“, säuselt die zwölfjährige Charlotte Gainsbourg, ihr Vater Serge, 57, rasselt: „Deine Küsse sind so süß.“ Im zugehörigen Video räkeln sich die zwei im Bett, in einem Pyjama für zwei – er in der Hose, sie im Oberteil. Selbst für die notorische Skandalnudel Serge Gainsbourg war dies ein starkes Stück. Und natürlich raschelte es heftig im Blätterwald – die Zeitschrift Tempo etwa nahm Charlotte Gainsbourg mit der Zeile auf den Titel: „Tabu Inzest“. Heute stünden wohl das Jugendamt und die Staatsanwaltschaft vor Gainsbourgs Tür.

3. The Stranglers: „Peaches“, 1977: „Walking down the beaches, looking at the peaches …“ Der Ich-Erzähler läuft geil und geifernd den Strand entlang, und es ist nicht klar, ob seine sabbernden Bemerkungen innerer Monolog sind, pubertärer Jungstalk oder misogyne Anmachsprüche. Der BBC war es egal, sie versetzte den Song mit einem Radiobann, und als die Single trotzdem in die Top Ten einstieg, lud man die Band zwar pflichtschuldig zu „Top of the Pops“ ein – sie musste jedoch die B-Seite spielen. In Zeiten, in denen sogar Gedichte von Eugen Gomringer in den Verdacht der Frauenfeindlichkeit geraten, wäre diese, die zweite Single der Stranglers, tendenziell ihre letzte gewesen.

4. t.A.T.u.: „All The Things She Said“, 2002: Unglaublich, aber wahr: Noch im 21. Jahrhundert war ein Lied über die Liebe zweier junger Frauen zueinander ein Skandal, dargeboten zumal von zwei russischen Teenagern, die angeblich auch im wirklichen Leben ein Paar waren und sich gerne auf offener Bühne küssten. Erstmals lief „Wetten, dass …?“ nicht live, sondern um ein paar Sekunden zeitversetzt, damit die Kamera ins Publikum schwenken konnte, wenn es zum Äußersten käme. Heute wäre der Skandal ein anderer – nämlich, dass der weiße britische Produzent Trevor Horn (Frankie Goes To Hollywood) zwei minderjährige russische Hetero-Mädchen zum Pläsier alter weißer Männer die Lesben mimen lässt.

5. Brotherhood of Man: „Save Your Kisses for Me“, 1976: Der Song der holländischen Band Brotherhood of Man hat den Ruhm der Gruppe deutlich überdauert und ist das, was man ein klassisches Gute-Laune-Lied nennt. Das Stück wurde folgerichtig zu einem weltweiten Hit und die Band aus Den Haag gewann damit 1976 den Eurovision Song Contest. Und das mit einem Text, der aus heutiger Sicht wenigstens bedenklich scheint. Ein Mann verlässt sein Heim, um zur Arbeit zu gehen und sehnt sich schon danach, zurückzukehren: „Kisses for me, save all your kisses for me / So long, honey, so long / Hang on, baby, hang on / Don’t you dare me to stay / ’Cause you know I’ll have to say …“ Was sich anhört, wie der Gruß an eine Geliebte, stellt sich am Ende als liebevolle Nachricht an ein dreijähriges Kind heraus, was wenigstens einen unangenehmen Beigeschmack hinterlässt. Heute wäre man wohl sensibler, was die inhaltliche Komponente anbelangt.

6. Prince: „Darling Nikki“, 1984: Der Megastar der 80er war sich nie für eine Kontroverse zu schade. Einen der größten Skandale produzierte er mit seinem Song „Darling Nikki“ vom Ausnahmealbum „Purple Rain“, mit dem Prince Michael Jackson den Rang ablief. Das Stück, von Prince live vorgetragen in Spitzenhosen und Stilettos, beschreibt die Begegnung des Sängers mit besagter Nikki, die Prince in der Lobby eines Hotels sieht, wie sie mithilfe eines Pornoheftchens masturbiert.

Weibliche Masturbation war in den 80ern sicherlich ein Tabuthema in den USA, vor allen Dingen, wenn sie von einem schwarzen Mann in hohen Hacken und Reizwäsche vor Teenagern thematisiert wird. Das fand auch Tipper Gore, die Frau des späteren Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Al Gore. Sie „erwischte“ ihre damals elfjährige Tochter Karenna beim Hören des Stücks und geriet darüber so in Rage, dass sie in Folge veranlasste, dass Alben mit expliziteren Inhalten als solche gekennzeichnet werden mussten. Das Ergebnis war der sogenannte Parental Advisory Sticker, der Warnhinweis, der selbst ein Stück Popgeschichte wurde und der vielmals weniger als Abschreckung denn als Veredelung der Alben galt.

7. Henry Valentino: „Im Wagen vor mir“, 1977: Brauchen Stalker eine eigene Hymne? Jeder würde dem wohl energisch widersprechen, immerhin ist „Nachstellung“ seit 2007 ein Straftatbestand. Schon 30 Jahre vorher allerdings wurde Stalking tatsächlich in Liedform gegossen. „Rada rada radadada“, stimmte der deutsche Komponist Hans Blum unter dem Pseudonym Henry Valentino an. „Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen, sie fährt allein und sie scheint hübsch zu sein“, heißt es im Songtext, der eine Autofahrt imaginiert, einen zudringlichen Kraftfahrer, der sich einfach mal an die Frau, die ihm gefällt, ranhängt („Ist sie nicht süß?“).

„Ist sie nicht süß?“: Sänger Henry Valentino (Hans Blum).
„Ist sie nicht süß?“: Sänger Henry Valentino (Hans Blum).Imago

Sängerin Ursula Peysang, genannt Uschi, übernimmt den Part der Bedrängten: „Was will der blöde Kerl da hinter mir nur?“, fragt sie sich und sieht sich schlussendlich genötigt, die allernächste Abfahrt rauszufahren: „Dort werd ich mich verstecken hinter irgendwelchen Hecken / Verdammt, dadurch komm ich zu spät nach Haus“. Dass das Lied mannigfach gecovert wurde, ohne den Text zu verändern, spricht für sich. Was als „Schlagerhit“ und „Ohrwurm“ galt, als fröhliche Nummer, kann wohl nur jemand gutheißen, der noch nie die Straßenseite wechseln oder einen anderen Weg einschlagen musste, weil er sich verfolgt gefühlt hat.

8. Friedhelm Riegel: „Rang zang zang“, 1971: Früher ging so einiges, sagt man. Vor allen Dingen auf Kosten von Minderheiten und Frauen. Ein gutes Beispiel dafür ist „Rang zang zang“, eine Art Karnevalsklopper des Humoristen Friedhelm Riegel, mit dem der Düsseldorfer auf dem Rücken der Schwulen Erfolge feierte. Mit nasaler Stimme und rosa Perücke auf dem Cover intoniert Riegel Textbausteine wie „Rang zang, tingelingeling, haaaallllo Detlev“, was nicht nur nicht witzig ist, sondern auch schon vor fünf Jahrzehnten dumm und diskriminierend war. 2001 wurde Riegel für sein soziales Engagement vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, im vergangenen Jahr verstarb er in seinem Heimatort.