Interview

Berliner Chefermittler: Kriminelle Dienstleistungen werden im Darknet eingekauft

Kriminaldirektor Stefan Pietsch spricht mit der Berliner Zeitung darüber, wie man Kriminellen das Geld wegnimmt. Auch über die Tricks der Autodiebe, Clans und Cannabis.

Kriminaldirektor Stefan Pietsch ist Dezernatsleiter im Berliner Landeskriminalamt.
Kriminaldirektor Stefan Pietsch ist Dezernatsleiter im Berliner Landeskriminalamt.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Den Schwerkriminellen die illegalen Gewinne wegnehmen – das ist eines der Ziele von Polizei und Staatsanwaltschaft. Und von Kriminaldirektor Stefan Pietsch. Seit 2019 leitet der heute 58-Jährige im Berliner Landeskriminalamt das Dezernat 41. Seine etwa 90 Mitarbeiter verfolgen unter anderem die grenzüberschreitende qualifizierte Bandenkriminalität, internationale Autoschieberbanden, Falschgelddelikte, Rockerbanden und weitere Phänomene der Organisierten Kriminalität. Dieser nicht ganz einfache Begriff wird von Fachleuten mit „OK“ abgekürzt. Im LKA-Gebäude am Tempelhofer Damm sprachen wir mit Pietsch über aktuelle Entwicklungen in der Berliner Unterwelt.

Herr Pietsch, womit verdient die Organisierte Kriminalität derzeit das meiste Geld?

Nach wie vor ist das Rauschgiftgeschäft weltweit die Haupttriebfeder der Organisierten Kriminalität. Hier sind die Gewinne am höchsten. Die Handelswege sind weltweit verstrickt; vieles kommt aus Asien, vieles aus Südamerika. Die Verluste im Tonnenbereich – wenn mal ein U-Boot aufgegriffen wird oder eine Yacht oder wenn die Polizei in Europa einen Schiffscontainer aufmacht – sind eingepreist. Wenn man sieht, wie ganz bewusst Tonnen an Kokain aufgegeben werden, dann ahnt man, was dort für Umsätze gemacht werden, und dass Rauschgift ein ganz großes Geschäft ist.

Gibt es Schätzungen zur Höhe der Profite im Rauschgifthandel?

Das kann Ihnen keiner seriös beziffern. Ein Kilo Kokain kostet im Einkauf im Minimum zirka zwanzigtausend Euro. Das hängt auch vom Reinheitsgrad ab.

Immer wieder ziehen die Behörden Vermögen von Kriminellen ein, das mit illegal erlangtem Geld bezahlt wurde.
Immer wieder ziehen die Behörden Vermögen von Kriminellen ein, das mit illegal erlangtem Geld bezahlt wurde.Andreas Gora/imago

Wo machen Kriminelle noch das große Geld?

Bei internationaler Kfz-Verschiebung, zum Beispiel. Ich habe hier mal die Zahlen nur für Berlin. 2022 machte die Anzahl der Kfz-Diebstähle 1,7 Prozent aller Straftaten aus. Dadurch wurde aber ein Schaden von über 112 Millionen Euro verursacht. Das sind 14,5 Prozent des Gesamtschadens aller Straftaten in Berlin.

Das ist stattlich.

Die Tatgelegenheiten in Berlin sind ja auch zahlreich. Wir haben hier extrem viele sehr hochwertige Fahrzeuge. Es gibt nicht so viele Garagen und gesicherte Stellplätze, die Fahrzeuge stehen also auf den Straßen. Und die Entfernung zum Hauptverbringungsort Polen ist kurz. Die Autobahn macht es den Tätern noch leichter.

Welche Automarken sind derzeit bei Dieben besonders gefragt?

Bezogen auf das Phänomen der internationalen Kfz-Verschiebung alle hochwertigen Automarken. Da gibt es keine Ausnahmen.

Vor ein paar Jahren hieß es noch, vor allem deutsche Marken würden gestohlen.

Das passiert jetzt auch bei Maserati, Ferrari oder Range Rover. Es geht um den Wert und den Bedarf, der nachgefragt wird.

Wo werden die gestohlenen Autos hingebracht?

Ganz überwiegend nach Osteuropa.

Manche Autos kann man sogar orten – einige sogar in Tadschikistan.

In jedem neuen Fahrzeug ist ein GPS eingebaut. Natürlich ist es technisch möglich, das Fahrzeug zu orten. Grundsätzlich reicht dazu das Einverständnis des Geschädigten aus. Allerdings können professionelle Autodiebe die Ortung durch technische Gegenmaßnahmen verhindern.

Ortet man denn?

Wenn die Voraussetzungen vorliegen und je nach Einzelfall.

Das heißt: Wenn mein schöner neuer Ferrari weg ist und in Tadschikistan herumfährt, dann könnte die Berliner Polizei ihn dort ermitteln?

Technisch ja. Bezüglich der Eigentumssicherung wird mit den Versicherungen geklärt, ob es Sinn macht, den Wagen aus dem jeweiligen Staat zurückzuholen, weil dazu auch die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen müssen. Überwiegend beschränken wir uns auf unser östliches Nachbarland, um gemeinsam mit den Behörden dort operativ tätig zu werden, auch im Sinne der Eigentumssicherung für den Geschädigten respektive für die Versicherung. Wir arbeiten in den Fällen auch sehr eng mit den Versicherungen zusammen. Wir haben einen sehr engen Austausch mit Polen, es gibt gemeinsame Ermittlungsverfahren mit sogenannten Joint Investigation Teams und auch mit den Staatsanwaltschaften. So lassen sich auch gemeinsame Operationen planen.

Nachdem der Kfz-Diebstahl in der Corona-Zeit fast zum Erliegen kam, sind die Zahlen wieder stark gestiegen. Hat sich an der Vorgehensweise der Täter etwas geändert?

Das technische Niveau wird immer höher.

Wie muss man sich das vorstellen?

Die Möglichkeiten der Straftäter, in Wegfahrsperren einzugreifen, Autos zu starten, Systeme zu überwinden, werden immer angepasster.

Kriminaldirektor Stefan Pietsch
Kriminaldirektor Stefan PietschMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Können Sie das erklären?

En détail werde ich das nicht tun, aber Sie müssen sich ein Gerät vorstellen, das etwas größer ist als ein Smartphone. Damit gehen Sie einfach nur ans Auto. Die neuen Autos kommunizieren permanent nach außen, denn sie suchen ihre legalen Besitzer. Und wenn ich ein Gerät habe, das ihnen vorgaukelt, dass ich der legale Besitzer bin, dann kann ich den Wagen nicht nur öffnen, ich kann ihn auch starten.

Man hört auch von jenen Fällen, in denen die Daten des Keyless-Autoschlüssels, der hinter der Wohnungstür liegt, von den Dieben gescannt und kopiert werden.

Das, was Sie meinen, sind sogenannte Funkstreckenverlängerer. Die gibt es noch, aber die Entwicklung ist weitergegangen. Das ist oldschool. So wie es immer noch Leute gibt, die Scheiben einschlagen.

Ein Zollbeamter präsentiert während einer Pressekonferenz des Hauptzollamtes Frankfurt (Oder) mehrere Pakete Rauschgift. Ein Kilo Kokain kostet im Einkauf im Minimum zirka zwanzigtausend Euro. Das hängt auch vom Reinheitsgrad ab.
Ein Zollbeamter präsentiert während einer Pressekonferenz des Hauptzollamtes Frankfurt (Oder) mehrere Pakete Rauschgift. Ein Kilo Kokain kostet im Einkauf im Minimum zirka zwanzigtausend Euro. Das hängt auch vom Reinheitsgrad ab.Ralf Hirschberger/dpa

Das alles klingt beunruhigend. Kann man sich überhaupt noch gegen Autoklau schützen?

Am effektivsten ist eine Kombination aus mechanischer und elektronischer Sicherung, die nicht serienmäßig eingebaut ist, wie zum Beispiel mit einer Parkkralle am Vorderrad. Eine mechanische Sicherung schreckt immer noch mehr ab – zum Beispiel das klassische Lenkradschloss. Das ist zwar auch oldschool, aber Einbrecher sind bequem und suchen sich das aus, was leichter ist – genau wie bei der Haustürsicherung.

Die Organisierte Kriminalität hat sich nicht nur auf Autodiebstahl spezialisiert. Welche Gruppen sind für Sie derzeit besonders relevant?

Wir stellen fest, dass die Täter nicht mehr abgeschottet agieren, sondern sie finden sich fallweise zusammen. Man engagiert Spezialisten für bestimmte Aufgaben. Früher waren die Gruppen geschlossen, weil es weniger Kommunikationsmöglichkeiten gab. Man kannte sich vom Hörensagen, man musste Telefonnummern tauschen. Das braucht man heute alles nicht mehr. Man kann mit jedem kommunizieren über WhatsApp, über verschlüsselte Kommunikation. Im Darknet kann man gucken, wer was kann. Insofern sind das Angebot und die heterogene Zusammenarbeit breiter.

Man kauft sich die kriminellen Dienstleistungen ein?

Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Hier in meinem Dezernat habe ich auch mit Geldfälschung zu tun. Früher waren die Geldfälscher hochprofessionell. Sie hatten hochwertige Drucktechnik und Papier und die Vertriebsstrukturen. Das braucht man heutzutage alles nicht mehr. Man geht ins Darknet und guckt, wo es Falschgeld gibt. Das kann man bestellen und sich schicken lassen.

Das hört sich komfortabel an.

Na ja. Da gibt es eine schöne Geschichte. Jemand, der Falschgeld kaufen wollte, ist selbst einem Betrüger und dessen Wash-Wash-Methode reingefallen. Er hatte ein super Angebot, hat mit Echtgeld bezahlt. Der Verkäufer hat ihm gesagt, er solle das Falschgeld in eine chemische Flüssigkeit tun, dann wird das Geld sauber. Blüten hat er allerdings nicht bekommen und sein echtes Geld war weg.

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Der Chefermittler
Stefan Pietsch fing 1984 bei der Berliner Polizei an. Es folgten drei Jahre Fachhochschulstudium, dann neun Jahre gehobener Dienst, Studium an der Polizeihochschule Hiltrup für den höheren Dienst. Viele Jahre lang arbeitete er unter anderem im Bereich der Geldwäsche und Vermögensabschöpfung gegen kriminelle Gruppierungen sowie im Bereich der Korruptionsbekämpfung.

Die Tücken der Beweislastumkehr

Themawechsel: Hat der russische Überfall auf die Ukraine Auswirkungen auf die kriminelle Szene Berlins?

Bisher noch nicht. Ich schließe nicht aus, dass das nach Kriegsende, wenn traumatisierte Soldaten kommen, ein Szenario wird.

Gib es Hinweise darauf, dass geflüchtete ukrainische Frauen ins Rotlichtmilieu verschleppt wurden?

Die wenigen Verdachtsfälle, über die berichtet wurde, konnten nicht verifiziert worden.

Wie geht es eigentlich der italienischen Mafia in Berlin?

Nach unseren Beobachtungen konzentrieren sich deren Aktivitäten eher auf den süddeutschen Bereich oder auch auf Erfurt. Aber wir sind aufmerksam, haben eine Koordinierungsstelle in dem Bereich. Wir stellen aber keine Straftaten in dem Milieu fest.

Weil die sich so vorsichtig bewegen und ihr Schwarzgeld in Baustellen versenken?

Man könnte natürlich in jeder Ethnie, in jedem Milieu schauen: Wo kommt das Geld für eine Restaurantkette her oder für ein Nagelstudio, für eine Shisha-Bar, einen Barbershop, ein Wettbüro. Die Frage ist nur – und ich war ja elf Jahre im Bereich Finanzermittlungen, Geldwäsche tätig – ob ich Verdachtsmomente habe: dass da Geld reingeflossen ist, das erstmal nicht nachvollziehbar ist. Ob es eine Verknüpfung zu einem Herkunftsdelikt gibt.

Bundesinnenministerin Nancy Faser hat – schließlich ist Wahlkampf in Hessen – angekündigt, eine vollständige Beweislastumkehr bei der Herkunft von unklarem Vermögen zu prüfen. Seit 2017 gibt es das Vermögensabschöpfungsgesetz, durch das es im Jahr 2018 erstmals möglich war, 77 Clan-Immobilien zu beschlagnahmen. Sie waren mit Geld bezahlt worden, das mutmaßlich aus Straftaten stammte. Reicht das Gesetz zur Vermögensabschöpfung noch nicht aus?

Ich war seinerzeit im LKA Berlin verantwortlich für die Vermögensabschöpfung und habe damit auch die Sicherung dieser Immobilien intensiv begleitet. Wir haben jetzt ein System mit einem selbständigen Einziehungsverfahren, einer Art Zivilprozess. Darin müssen wir als Staat Beweise vorlegen, warum die beschlagnahmten Vermögenswerte nicht aus legalem Vermögen stammen. Dabei geht es also nicht um den Nachweis einer Straftat, sondern darum, den Richter zu überzeugen, dass dieses Vermögen aus illegalen Quellen stammt. Und in diesem Verfahren – das ist neu – muss die Gegenseite dann darlegen, warum ihr Vermögen aus legaler Herkunft stammt. Das wirkt ja auch, obwohl die Ermittlungen gerade mit Auslandsbezug sehr schwierig sind. Bei der Beschlagnahme der Clan-Immobilien haben wir trotzdem bisher nur bestätigende Urteile bekommen. Natürlich ist eine Beweislastumkehr für uns positiv. Der Staat steht dann beim Verdacht einer illegalen Herkunft des festgestellten Vermögens nicht mehr in der Beweispflicht, sondern die Gegenseite muss dann darlegen, dass unsere Annahme der rechtswidrigen Herkunft falsch ist.

Beliebt: Nobelkarossen stehen ganz oben auf der „Einkaufsliste“ der Diebe.
Beliebt: Nobelkarossen stehen ganz oben auf der „Einkaufsliste“ der Diebe.Stefan Saeitz/imago

Der Unterschied wäre also, dass der Staat seine Argumentation nicht mehr beweisen müsste?

Es ist die Frage, wie dieses Gesetz ausgestaltet wäre. Wir haben ja rechtsstaatliche Prinzipien …

… und das Grundgesetz bezeichnet das Eigentum immerhin als unantastbar.

Es ist schwierig. Und ich finde das, was wir jetzt schon haben, gar nicht schlecht. Jetzt eine Beweislastumkehr zu installieren – da muss man sehr auf den Gesetzestext gucken. Denn letztendlich muss der Rechtsstaat immer noch klar sagen, warum er der Meinung ist, dass bestimmte Vermögenswerte illegaler Herkunft sind.

Sie sind also kein Fan davon?

Grundsätzlich ist die Idee gut, es wäre der nächste Schritt. Aber es muss trotzdem verfassungskonform und praktikabel sein. Der Schritt, den wir am 1. Juli 2017 mit dem Gesetz zur Verbesserung der Vermögensabschöpfung im Strafverfahren gegangen sind, war schon sehr richtig und wichtig. Das Gesetz war gut gemacht und zeigt auch Wirkung. Und wenn es dann einfacher geht und es praktikabel und rechtsstaatlich ist, bin ich immer dafür.

Sind außer den Clan-Immobilien noch weitere Immobilien beschlagnahmt worden?

Es werden immer Immobilien beschlagnahmt. Das ist auch vorher schon passiert. Stellen Sie sich das an einem Beispiel vor: Jemand betrügt ein älteres Ehepaar und gelangt dadurch an eine Immobilie. Dann kann diese beschlagnahmt werden, und es gibt einen Beschlagnahmevermerk im Grundbuch. Jetzt haben wir aber keinen Betrüger, sondern einen Rauschgifthändler. Und der hat einen Millionenumsatz, versteckt aber seine Taterlöse im Ausland. Nun erbt dieser Rauschgifthändler eine Immobilie. Man kann durch einen Vermögensarrest auch sein legales Vermögen sichern, auch diese geerbte Immobilie, indem der aus dem Rauschgifthandel entstandene Vermögensvorteil rechnerisch bestimmt wird. Auch das ist nichts Neues und wurde schon vor der Reform 2017 erfolgreich praktiziert.

Wie viel Geld haben Ihre Leute den organisierten Kriminellen schon weggenommen?

Im Bereich der OK sind im vergangenen Jahr knapp fünf Millionen Euro gesichert worden. Das liegt im Trend der vergangenen Jahre.

Der Unterschied zwischen Clan-Kriminalität und Organisierter Kriminalität

Was machen eigentlich die Rocker? Haben die Hells Angels in Berlin noch was zu melden?

Im vergangenen Jahr haben wir gegen den Hells Angels MC das Vereinsverbot der Senatsinnenverwaltung umgesetzt, gegen dessen Charter Berlin Central, das eine Nachfolgeorganisation von Berlin City war. Durch das Kuttentrageverbot ist die Präsenz der Rocker in der Öffentlichkeit gegen Null gegangen. Die sind immer noch da, treffen sich auch, haben ihre Strukturen. Aber zumindest dieses subjektive Bedrohungspotenzial ist stark reduziert worden.

Einsatzkräfte der Polizei gehen in Lichtenberg bei einer Razzia gegen mutmaßliche, international operierende Drogenhändler vor. 
Einsatzkräfte der Polizei gehen in Lichtenberg bei einer Razzia gegen mutmaßliche, international operierende Drogenhändler vor. dpa-Zentralbild

Aber sie sind noch im Rotlichtmilieu aktiv?

Im Rotlichtmilieu, und mittlerweile auch im Rauschgiftgeschäft. Aber es gibt nicht mehr diese wahrnehmbaren strukturierten „Clubtaten“, wo zum Beispiel 20 Leute irgendwo reingehen und einen Mann erschießen.

Auf Berlins Straßen wird in letzter Zeit ziemlich viel geschossen. Ist das ein subjektiver Eindruck?

Streitigkeiten gab es schon immer. Aber durch die höhere Verfügbarkeit von Waffen ist die Neigung, sie zu gebrauchen, höher.

In der Öffentlichkeit und der Politik werden Organisierte und Clan-Kriminalität oft in einen Topf geworfen. Es wäre schön, wenn Sie hier etwas Aufklärung liefern könnten.

Hier im LKA 4 bearbeiten wir nur einen Teilaspekt der Clan-Kriminalität – den, wo es eine Überschneidung mit der Organisierten Kriminalität gibt. Deutschlandweit gibt es eine Clan-Definition. Alle Straftaten, die in dem Umfeld begangen werden, fallen dann unter die sogenannte Clan-Kriminalität. Aber das hat nicht unbedingt etwas mit der Organisierten Kriminalität zu tun. Das beginnt bei der Ordnungswidrigkeit, bei Imponierverhalten im Straßenverkehr und kann aber enden im organisierten Rauschgifthandel.

Laut aktuellem Lagebild werden 2021 in Berlin insgesamt 15 OK-Verfahren der Clan-Kriminalität zugerechnet. Bei 77 OK-Verfahren für Berlin ist dies ein Fünftel am Gesamtaufkommen.

Wobei ich mit dieser alten OK-Definition nicht glücklich bin. Die ist von Anfang der Neunziger und aus meiner Sicht anachronistisch.

Laut Definition von BKA und Bundesländern müssen mindestens zwei Kriminelle planmäßig Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen, arbeitsteilig in geschäftsähnlichen Strukturen zusammenwirken, Gewalt anwenden und Einfluss auf Politik, Medien, Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft nehmen. Was ist daran anachronistisch?

Man hat versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und ein Phänomen, das viel komplexer ist, zu definieren. Nur wenn dieses kleinteilige Raster erfüllt ist, ist es OK. Deswegen sind wir bundesweit dabei, das zu erweitern auf den Begriff „Schwere strukturelle Kriminalität/Qualifizierte Bandenkriminalität“. Denn vieles, das nicht in dieses strenge OK-Raster passt, muss eigentlich auch erfasst und analysiert werden.

Cannabis-Teillegalisierung wird Organisierte Kriminalität nicht beeindrucken

Profitiert die Organisierte Kriminalität von der Flüchtlingswelle?

Ja. Schon in der ersten Welle gab es das Phänomen, dass Wohnraum als Flüchtlingsunterkünfte angeboten wurde und dass nicht korrekt abgerechnet wurde. Da gab es mitunter gar nicht so viel Platz, wie da untergebracht wurden. Aber Abrechnungsbetrug gab es auch in der Corona-Zeit.

Die Kriminellen sind sehr einfallsreich, oder?

Ja, und daran sieht man auch die Evolution von Kriminalität, wie sie sich weiterentwickelt. Diese Perseveranz, also das Festhalten eines Täters an einem bestimmten Deliktbereich und an einer bestimmten Vorgehensweise, dass ein Täter immer mit seiner Gruppierung zusammenbleibt, ist schon lange überholt. Die Gruppen sind durchlässiger geworden.

Vor einigen Jahren gab es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Tschetschenen-Gruppierungen und arabischen Clans. Seit einiger Zeit ist es ruhig. Sind die Tschetschenen verschwunden?

Sie waren überwiegend durch Gewaltdelikte in Erscheinung getreten, im Sinne von Zwangsinkasso, zum Teil Schutzgelderpressung – alles, was mit Geldeintreiben zu tun hat. Sie haben aber erkannt – und das ist eben auch wieder Evolution – dass es vielleicht ganz gut ist, wenn man mal auf eigene Rechnung agiert. Wenn man selbst Umsätze im Drogengeschäft machen will, tritt man nicht mehr so offensiv in Erscheinung. Denn das stört die Geschäfte.

Als Europol mehrere von Banden benutzte Messengerdienste, wie EncroChat, knackte und Zehntausende Schwerkriminelle enttarnte, muss für die Polizei Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen sein. War das ein Glücksmoment?

Das Arbeitsaufkommen hat sich extrem gesteigert. Das BKA hat viele Fälle in die Bundesländer ausgerollt. Bei uns war es ein höherer dreistelliger Bereich. Es brachte aber Erkenntnisgewinn, hohe Haftstrafen und hohe Sicherungssummen im Bereich Finanzen, Betäubungsmittel und Waffen.

Keine Woche vergeht ohne eine Durchsuchung und Festnahme, die auf EncroChat zurückzuführen sind.

Das wird aber langsam auslaufen, irgendwann ist alles abgearbeitet.

Auch wenn Sie nicht das Drogendezernat leiten, muss ich diese Frage stellen: Erhoffen Sie sich durch die Freigabe von Cannabis eine Entlastung für die Polizei?

Ich habe mir diesen über hundert Seiten starken ersten Gesetzentwurf angeschaut. Geringe Entlastungen könnte es im Bereich der Besitz-, jedoch nicht der Handels- und Schmuggeltatbestände geben. Es gibt jedoch noch viel Abstimmungsbedarf. Im Gesetzentwurf wird zum Beispiel unterschieden zwischen Cannabispflanzen und Stecklingen. Man darf fünf Stecklinge, aber nur drei Pflanzen haben. Noch schwieriger wird es bei den Anbauvereinen. Da muss es einen Vorsitzenden und eine gewisse Struktur geben.

Kriminaldirektor Stefan Pietsch
Kriminaldirektor Stefan PietschMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Ich frage Sie auch, weil Sie sagten, Rauschgift sei das Schmiermittel der Organisierten Kriminalität. Wird mit der Teillegalisierung etwas besser?

Wir haben bestimmte Obergrenzen an THC-Gehalt, wir haben die Altersgrenze ab 18. Was passiert, wenn Leute unter 18 Cannabis und auch mehr THC wollen? Und was passiert, wenn der offizielle Shop gerade geschlossen hat oder wenn man nicht in einem Anbauverein aufgenommen wird? Da bleibt immer noch ein Segment für die OK. Die wird das illegale Segment sowieso bedienen und das legale Segment vielleicht auch noch, indem Anbauvereine von ihr geführt werden. Insofern glaube ich nicht, dass wir weniger Arbeit haben und sich die Organisierte Kriminalität durch die Teillegalisierung beeindrucken lässt.