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Zwischen Exil und Ekstase: Shanghai ist die Metropole der Gegensätze

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Shanghai die fernöstliche Hochburg des Vergnügens. Die Stadt wurde später auch zum Zufluchtsort für Tausende deutsche Juden.

Spaziergänger in Shanghai 1935. Im Hintergrund das Cathay-Hotel.
Spaziergänger in Shanghai 1935. Im Hintergrund das Cathay-Hotel.CPA Media/imago

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Nur wenige Städte erwecken schon beim Aussprechen ihres Namens jene seltsam magische Anziehungskraft, die uns träumen macht. Diese Orte müssen nicht unbedingt groß oder bedeutsam sein, aber ihr Klang, ihre Geschichte oder ihre Lage lösen ein fast unwiderstehliches Gefühl der Sehnsucht aus. Für jeden haben diese Städte einen anderen Namen – etwa Sagunt oder Dyrrhachium, Trapzon oder Algeciras. Seltener Kopenhagen, Zürich oder Hannover. Woran das liegt? Je entlegener die Stadt, desto intensiver die Projektionen.

Im 21. Jahrhundert schlägt der Puls der Urbanität in Asien. Wenn es, neben Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemals kolonialen Saigon, eine asiatische Metropole mit unübersehbar europäischen Anklängen gibt, so ist dies zweifellos Shanghai, die chinesische Megacity mit 23 Millionen Einwohnern am Flusslauf des Huangpu.

Shanghai ist nicht nur traditionell die bedeutendste Handels- und Industriestadt Chinas, sondern auch Geburtsort der chinesischen literarischen Moderne. Lu Xun, ihr bedeutendster Vertreter, lebte im japanisch geprägten Stadtteil Hongkou. Noch heute lesenswert ist sein Erzählband „Tagebuch eines Verrückten“, der vom schmerzhaften, aber unausweichlichen Zusammenprall zwischen traditioneller und moderner Welt berichtet. Lu Xuns Grab befindet sich heute in einem hübschen Park zwischen Hochhäusern und einem Fußballstadion.

Das Spiel der Gegensätze ist typisch in Shanghai, nicht nur künstlerisch und literarisch, sondern auch architektonisch. Zwischen gläsernen Hochhausfassaden und den Schaufenstern einer Luxus-Mall steht ein niedriges Holzhaus, in welchem der junge Mao als Student ein Zimmer bewohnte. Darin ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine Lampe. Mehr braucht es nicht, um mit Ideen die Welt aus den Angeln zu heben.

Das Haus, in dem sich Maos Studentenwohnung befand.
Das Haus, in dem sich Maos Studentenwohnung befand.Imagechine-Tuchong/imago

Literatur, Film und Glamour

In den 1920er- und 1930er-Jahren war Shanghai die fernöstliche Boomtown des Vergnügens, zugleich ein beliebter Zwischenstopp von Filmstars und Kulturschaffenden. Der britische Dramatiker Noël Coward schrieb, während seines Aufenthaltes in Shanghai, auf Zimmer 314 des luxuriösen Cathay-Hotels seine Komödie „Private Lives“. Das pikante Stück handelt von zwei jungen Paaren auf Hochzeitsreise, die sich jeweils in den Partner des anderen verlieben. Polyamorie ist offenbar keine Erfindung der Gegenwart. In dem Theaterstück spielten unter anderem Laurence Olivier, der Hitchcock-Star Tallulah Bankhead, später Elizabeth Taylor, Richard Burton und John Gielgud. Mehr Glamour geht eigentlich nicht.

Das ehemalige Cathay-Hotel, ein Haus mit bewegter Geschichte, heißt nunmehr Peace-Hotel. Es beherbergt eine der schicksten Bars der Stadt mit einem weiten Blick über den Fluss auf die imponierende Skyline des hypermodernen Stadtteils Pudong.

Historisch und literarisch bedeutsam sind die Spuren der Emigration in Shanghai. Bereits nach der russischen Oktoberrevolution waren Tausende Russen nach China, vor allem nach Harbin und Shanghai, geflohen. Zaristische Generäle stifteten orthodoxe Kirchen. In einer von ihnen, in der Gao Lan Road 16, befindet sich heute eine Buchhandlung; nicht die schlechteste Idee für ungenutzte Sakralbauten.

Orthodoxe Kirche in Shanghai
Orthodoxe Kirche in ShanghaiAndrey Guryanov/imago

Als kosmopolitisches Zentrum in Fernost bildete Shanghai zudem ein beliebtes künstlerisches Setting, Tummelplatz für Literaten und Lebenskünstler aller Art. Emily Hahn, J.G. Ballard und Agnes Smedley verbrachten prägende Jahre in Shanghai. Der erste Hollywoodfilm, der hier gedreht wurde, war übrigens Steven Spielbergs „Empire of the Sun“ von 1987. Shanghais traditionsreichstes Kino, das gut erhaltene Grand Théatre, ist bis heute Spielstätte eines internationalen Filmfestivals. Der ungarische Architekt László Hudec hat das Gebäude in den 1920er-Jahren im Art-déco-Stil erbaut. Damals stand es noch direkt neben der Pferderennbahn.

Zufluchtsort für Tausende Jüdinnen und Juden

Ende der 1930er-Jahre gehörte die junge Republik China weltweit zu den wenigen Staaten, die jüdische Flüchtlinge aus Europa ohne Visum und ohne Quote aufnahm. Das rettete mindestens 20.000 europäischen Juden das Leben. Die Flüchtlinge kamen buchstäblich mit den letzten Booten aus Südeuropa nach Shanghai. Erst mit dem Kriegseintritt Italiens wurden die wenigen verbliebenen freien Schiffsrouten endgültig geschlossen. Unter den jüdischen Emigranten in China waren der später weltberühmte Berliner Fotograf Helmut Newton und der Violinist und Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, Hellmut Stern.

Zu diesem Zeitpunkt war Shanghai eine chaotische, stets von Krieg und Bürgerkrieg bedrohte Stadt. Die jüdischen Flüchtlinge wurden ab 1941 von der japanischen Besatzungsmacht ghettoisiert, doch außer polizeilichen Repressalien fanden keine systematischen Verfolgungen und erst recht keine Pogrome statt. Antisemitismus war zu diesem Zeitpunkt in China quasi unbekannt. Einige Emigranten heirateten sogar in die ortsansässige Bevölkerung ein. Die Geschichte der jüdischen Emigration nach Shanghai, heute ausgestellt im sehenswerten Jewish Museum, hatte tatsächlich ein Happy End.

Das Grand Théatre
Das Grand ThéatreGemini Collection/imago

Von den Schwierigkeiten des Neuanfangs in Zeiten der Verfolgung handelt auch Vicki Baums Roman „Shanghai Hotel“. Er erschien 1940 als Fortsetzungsroman in einer deutschsprachigen Tageszeitung. Es war das Shanghaier „8 Uhr Abendblatt“, und seine Leserinnen und Leser haben, fern von Europa, den Holocaust überlebt. Shanghai, die Metropole des Fernen Ostens, ist bis heute eine Stadt des vibrierenden Lebens: historisch, literarisch, kulturell.

Dominik Pietzcker unterrichtet an der Macromedia-Hochschule in Berlin und ist regelmäßig in China, zuletzt als visiting scholar an der Shanghai International Studies University. Er publiziert zum Thema interkulturelle Aspekten in Wirtschaft, Medien und Gesellschaft.

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