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„Wir haben nichts mehr gemeinsam“ – warum der Osten mir fremd geworden ist

Eigentlich stand unsere Autorin immer auf der Seite der Ostdeutschen. Der Rassismus, den sie im Ostseeurlaub miterlebt, erschüttert ihr Selbstverständnis.

Der Rassismus, der dem Ehemann unserer Autorin im Urlaub an der Ostsee entgegenschlug, brachte sie zum Nachdenken, wie sehr sie sich noch mit dem Osten identifizieren kann.
Der Rassismus, der dem Ehemann unserer Autorin im Urlaub an der Ostsee entgegenschlug, brachte sie zum Nachdenken, wie sehr sie sich noch mit dem Osten identifizieren kann.Jens Büttner/dpa

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Seit drei Tagen machen mein ivorischer Ehemann und ich Urlaub an der Ostsee auf dem Darß, wo wir eine winzige Ferienwohnung am Bodden gemietet haben. Der Darß ist traumhaft schön. Eine unberührte Landschaft mit einem weiten Blick über Wiesen und Wasser, kleine Orte mit reetgedeckten Häusern, dazu das nahe Meer, der Wind, das Wolkenspiel. Seit wir hier sind, regnet es jeden Tag, aber oft kommt plötzlich die Sonne zurück und wir haben bereits unzählige Fotos von verschiedenen Regenbögen gemacht. Mein Mann erzählt mir, dass man in der Elfenbeinküste sagt, bei jedem Regenbogen werde ein Elefant geboren. Wir witzeln, wie viele Elefanten es auf dem Darß in diesem Jahr wohl geben mag.

Mein Mann ist erst vor einem halben Jahr nach Deutschland gekommen, nach unserer Heirat in der Elfenbeinküste mussten wir fast ein Jahr warten, bis er das Visum für die Familienzusammenführung bekam. Ich hatte ein wenig Sorgen, ob er sich hier wohlfühlen wird, die AfD hat bei den letzten Wahlen im Wahlkreis Wieck 40,8 Prozent der Stimmen erhalten und ich wusste nicht, wie jetzt die Stimmung hier ist. Aber mein Mann liebt das Meer, genauso wie ich, und meine Freunde beruhigten mich: „Komm schon, die Leute sind auf die Touristen angewiesen, die können es sich nicht leisten, unfreundlich zu sein!“ Ich hatte vorher tatsächlich überlegt, ob ich unsere Vermieterin vorwarnen solle, dass mein Mann eine Schwarze Hautfarbe hat, aber ich hatte eingesehen, dass das albern ist.

Die reetgedeckte Idylle kann über die misstrauischen Blicke und Begegnungen nicht hinwegtäuschen.
Die reetgedeckte Idylle kann über die misstrauischen Blicke und Begegnungen nicht hinwegtäuschen.Stephan Herlitze/imago

Belehrungen zu jeder Gelegenheit

Die Eigentümer unserer Ferienwohnung wohnen ebenfalls auf dem Gelände, zwischen den vielen kleinen Häuschen, die im Garten verstreut stehen. Die Vermieterin putzt den ganzen Tag, zupft im Garten herum oder hängt direkt vor unserer Terrasse Wäsche auf. Aber auch nachts scheint sie auf den Beinen zu sein. An unserem ersten Morgen weist sie mich darauf hin, dass wir abends das Licht auf der Toilette ausmachen müssten, da der Strom hier oben so teuer sei. Ich frage mich, wie sie von ihrem Haus aus unser Toilettenfenster sehen konnte, aber ich habe keine Lust, mich zu rechtfertigen, deshalb nicke ich nur stumm.

Ich bin allergisch gegen Belehrungen, und plötzlich fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Während unserer Schulzeit mussten wir bei den Pionier- und FDJ-Versammlungen regelmäßig Rechenschaftsberichte abgeben, und auch in unserer Freizeit im sozialistischen deutschen Staat wurden wir permanent belehrt und überwacht. Erstaunt stelle ich fest, dass ich dieses Gefühl schon fast vergessen hatte, und frage mich, ob diese Belehrungswut ein ostdeutsches oder ein gesamtdeutsches Phänomen darstellt.

Auch beim Fahrradverleih werden wir belehrt. Mein Mann hält sich im Hintergrund, er spricht noch nicht so gut Deutsch und ist sowieso bemüht, nicht aufzufallen, während mir der Vermieter lang und breit erklärt, wie ein Fahrrad funktioniert. Als ich ihm versichere, dass ich jeden Tag Fahrrad fahre, unterbricht er mich barsch. Zu anderen Gästen ist er freundlicher als zu mir, er kann sogar scherzen und Witze machen, beobachte ich, und hinterher sagt mir mein Mann, dass die Unfreundlichkeit des Mannes sicher an seiner schwarzen Hautfarbe liegt. Ich will das nicht glauben, ich versuche meinen Mann zu beschwichtigen, dass die Norddeutschen generell verschlossener sind und die Berliner noch nie leiden konnten

„Mein Mann wird fixiert, als hätten die Leute noch nie einen Schwarzen gesehen“

In den folgenden Tagen muss ich jedoch feststellen, dass die meisten Menschen, denen wir begegnen, nicht offen auf uns reagieren. Nur die Touristen wie wir, vor allem die jüngeren, grüßen uns, wie es hier allgemein üblich ist, wenn man auf den Fahrradwegen aneinander vorüberfährt. Die anderen starren uns mehr oder weniger unverhohlen an.

Mein Mann ist der einzige Schwarze hier, es gibt keine Ausländer an der ostdeutschen Ostsee, bis auf die beiden Kassierer im Wiecker Supermarkt, die vielleicht aus Syrien oder Afghanistan stammen, und oft wird mein Mann fixiert, als hätten die Leute noch nie einen Schwarzen gesehen. Als ich meinen Mann frage, wie er sich fühle, beruhigt er mich. Es gehe ihm gut, erklärt er mir, und dass ihn die Meinung der Leute sowieso nicht interessiere.

Das kann ich von mir nicht behaupten. Inzwischen achte ich penibel auf die Reaktionen der Menschen und ärgere mich, dass mir nach und nach meine Leichtigkeit verloren geht, die doch eigentlich zum Urlaub gehören soll. Auch die Freundlichkeit unserer Vermieter erscheint mir aufgesetzt, sie hat etwas Lauerndes, Bewertendes, als ob sie nur darauf warten würden, dass wir einen Fehler begehen.

Die Freundlichkeit scheint nur aufgesetzt, die Abneigung gegen alles Fremde ist spürbar.
Die Freundlichkeit scheint nur aufgesetzt, die Abneigung gegen alles Fremde ist spürbar.Anna Reinert/imago

In den vergangenen Jahren wurde viel über die rechtsradikalen Ostdeutschen diskutiert. Es wurde nach Ursachen für ihre Einstellung gesucht, nach ihren tief sitzenden Traumata geforscht und über die Auswirkungen eines sozialistischen Erziehungssystems spekuliert. Dabei wurden sie mehr oder weniger gern beschimpft. Vor allem nach den Wahlergebnissen in diesem Jahr wollte niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben und ein Urlaub im Osten war jetzt endgültig tabu.

Ich weiß nicht mehr, ob ich auf der Seite der Ostdeutschen stehe

Ich habe immer versucht, mich am Ostdeutschen-Bashing nicht zu beteiligen, denn irgendwie haben mich die Bücher, in denen man die ostdeutsche Seele erklärt und begründet, warum die Ostler erst zur Demokratie erzogen werden müssen, verletzt. Ich habe mich trotz allem zu ihnen dazugezählt. Ich habe ihre Erfahrungen geteilt, ich bin mit ihnen zusammen in einem Staat aufgewachsen, der über Nacht zusammenbrach, und habe erlebt, wie alles, was bisher als selbstverständlich galt, plötzlich keine Gültigkeit mehr besitzt.

Ich habe mich ebenso wie sie nach der Wende dafür rechtfertigen müssen, im Osten geboren worden zu sein und nicht die Flucht ergriffen zu haben. Ich habe erlebt, wie das Leben meiner Eltern entwertet wurde, als sie ihre Arbeit verloren, und wie sie nicht damit klargekommen sind. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man im eigenen Staat keine Stimme besitzt und einem die Deutungshoheit über die eigene Geschichte genommen wird. Und dabei rede ich hier nur über die Verteilung der ideologischen Machtpositionen, noch nicht einmal über das finanzielle Ungleichgewicht. Wir mussten zusehen, wie die Westdeutschen unsere Häuser kauften, die wir uns nicht leisten konnten, weil wir nicht über die gleichen finanziellen Ressourcen verfügten wie sie, und immer öfter müssen wir Angst haben, unsere Wohnungen zu verlieren.

Das alles hat mich dazu gebracht, trotz allem auf der Seite der Ostdeutschen zu stehen. Doch plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob das stimmt.

Nach der Wende hat sich der Lebensweg unserer Autorin in andere Richtungen entwickelt als der anderer Ostdeutscher, denen sie nun wieder begegnet.
Nach der Wende hat sich der Lebensweg unserer Autorin in andere Richtungen entwickelt als der anderer Ostdeutscher, denen sie nun wieder begegnet.Ali Bergen/unsplash

Ich habe nichts mehr gemein mit diesen Menschen, ich bin nach der Wende andere Wege gegangen als sie und ich frage mich, ob es daran liegt. Meine Vermieterin und ihr Mann sind in diesem Dorf aufgewachsen und haben sich seitdem nicht weit fortbewegt. Auch die Ausländer haben die ostdeutsche Ostsee gemieden, für die Menschen hier ist ihre Welt eine noch unberührte Idylle, die man vor einer unbekannten Bedrohung beschützen muss. Vielleicht ist das der Grund für ihre Abwehr und Unfreundlichkeit.

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Heute hat mich mein Mann gefragt, ob die Norddeutschen oder die Süddeutschen rassistischer sind. Ich habe ihm erklärt, dass das nicht die Frage sei und dass die öffentliche Diskussionslinie eher zwischen West- und Ostdeutschen verläuft. Aber vielleicht ist die Frage gar nicht so abwegig, wie man auf den ersten Blick glaubt. Wenn ich darüber nachdenke, haben ausländische Freunde unangenehme Erlebnisse sowohl in Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg und Brandenburg gehabt. Man könnte auch fragen, ob der Rassismus größer in den Städten oder in den Dörfern ist. Oder in ärmeren oder reicheren Regionen. Oder in gebildeten oder bildungsfernen Familien.

Je länger ich es zu erklären versuche, desto mehr gerate ich in Erklärungsnot. Ich glaube, dass man es nicht auf einen einzigen Punkt bringen kann. Fakt ist doch, dass das zentrale Merkmal aller Fremdenfeindlichkeit die Abneigung gegen alles Fremde ist. Man versucht, die kleine Welt, die man kennt, zu schützen und zu konservieren. Das Absurde dabei ist, dass man jenen Fremden gegenüber am feindlichsten eingestellt ist, die man gar nicht kennt. Niemand hat meinen Mann in unserem Urlaub irgendetwas gefragt. Niemand hat ihn angesprochen und wissen wollen, woher er kommt, was er macht, wie er sich fühlt und welche Pläne er hat.

An unserem Abreisetag hat mich unsere Vermieterin ein letztes Mal ermahnt. „Wenn Sie noch einmal eine Ferienwohnung benutzen sollten“, hat sie mir erklärt, „müssen Sie das Badezimmer aber richtig lüften, das geht ja gar nicht, das Wasser lief ja an den Wänden hinab!“ Ich habe sie nicht aufgeklärt, dass wir schon öfter in Ferienwohnungen übernachtet haben, sogar in komfortableren als der ihrigen, ich habe auch nicht widersprochen, dass das Fenster im Bad die ganze Zeit offenstand, ich hatte keine Lust, darüber zu streiten, das war mir einfach zu dumm. Ich habe nur erwidert, dass wir eigentlich ‚Auf Wiedersehen‘ hatten sagen wollen, woraufhin sie erwiderte: „Hm, na ja!“

Was auch immer das heißen mag.

Rahel von Wroblewsky, geboren 1964, ist Schriftstellerin und Lektorin. Sie lebt in Berlin.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit
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