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Wer oder was war nun dieser Lukanfka, dessen große Jubiläen unser Jahr bestimmt haben? Nicht Lukanka, die bulgarische Salami, sondern Lukanfka. Zunächst besteht natürlich weitere Verwechslungsgefahr: War das nicht der böse Diktator von Weißrussland mit dem lustigen Schnurrbart? Nein! Dann doch der begnadet-bullige belgische Nationalspieler, der irgendwie immer unter seinen Möglichkeiten geblieben ist? Mitnichten! Jetzt hab ich’s: Das war doch der Kakao mit Schuss, womit du dich immer auf dem Weihnachtsmarkt volllaufen lässt.
Wieder falsch, denn das ist der Lumumba. Dieser weist allerdings, neben dem ähnlichen Namen, noch derart viele andere Parallelen zu Lukanfka auf, dass wir von ihm ausgehend das Rätsel werden auflösen können. Und aufgelöst wurde ja, so lautet zumindest das Gerücht (und Gerüchte stimmen doch auf irgendeine Weise eigentlich immer) auch der echte Lumumba – also der kongolesische Freiheitskämpfer –, nachdem man ihn gestürzt und gemordet hatte, nämlich in einem großen Topf voller Säure, wodurch er sich buchstäblich verflüssigt habe. Deswegen soll der Rumkakao überhaupt so heißen, wie er heißt.
Auch wenn manche Leserinnen nun aus verschiedenen Gründen direkt an Kannibalismus denken müssen, ändert das nichts an der Tatsache, dass die wirklichen und ursprünglichen Menschenfresser immer schon die Christen waren. Denn so wie Lumumba zum Märtyrer der Freiheit und gewissermaßen auch woke avant la lettre wurde, als man seinen festen in den flüssigen Aggregatzustand trans-substantiierte, so hatte sich doch vorher schon der Heiland selbst dem gleichen Knochenjob unterzogen, indem er sich zuerst in drei falten und dann auch noch mahlen und maischen ließ. Dass dessen friedvolle, uns die Wange hinwendende Lehre nun gerade bei denen, unter deren Verantwortung er dereinst hatte dahinscheiden müssen, es nicht nur zu Weltruhm brachte, sondern auch ziemlich kriegstümlerisch wurde, ist eine der großen Ironien an dieser an Ironien nicht armen Vorgeschichte des Lukanfka, der übrigens, und das hört man ja schon an seinem Namen, in allen seinen Formen immer Ossi – niemals Wessi – gewesen ist.
Vor 500 Jahren: Der frühe Lukanfka (oder: Lukanfka grand-père)
Lukanfkas erste große Tat bestand denn auch darin, sich explizit gegen jene Nachlassverwalter zu wenden, jedoch nicht so sehr gegen deren immer ausgedehnteres Wirken in allen Teilen des Erdreichs, sondern gegen ausgedehntes und wirkendes In-der-Welt-Sein an sich: Die irdische Freiheit des Körpers werde überschätzt, denn: „Was hilft es der Seele, dass der Leib ungefangen, frisch und gesund ist?“ Und die Einpferchung des irdisch Ausgedehnten sei auch nicht so schlimm, denn: „Was schadet es der Seele, dass der Leib gefangen, krank und matt ist?“ „Diese Dinge“, so schrieb der frühe Lukanfka aus seiner Merseburg, „reichen nicht bis an die Seele, um sie zu befreien oder gefangenzunehmen, gut oder böse zu machen“, und noch die freundlichsten sichtbaren Werke, die wir vollbrächten, änderten nichts daran.

Für den frühen Lukanfka, Lukanfka grand-père sozusagen, kamen die wirkliche Freiheit und Weisheit also von innen, was den Unterdrückten zum einen Mut spendete – waren sie doch nun über die Gesetze, Strafen und Auslegungen ihrer weltlichen Herren und Heiligen erhaben, weil sie zum ersten Mal selber denken und lesen durften –, zum anderen aber auch dazu führen konnte, dass man nun dem Sklaven oder Leibeigenen sagte, er solle sich nicht über sein schweres Joch entrüsten, da dieses ja nicht bis an die wahre Freiheit, die seiner Seele, reiche. Das mag dann auch der Grund gewesen sein, warum Lukanfka so trotzig reagierte, als vor genau 500 Jahren – hier sind wir beim ersten Jubiläum – die Bauern sich seine Worte zu Herzen nahmen, um für Zustände zu sorgen, in denen sie zuallererst die Zeit und Fertigkeiten für jenes Selberlesen würden haben können. So sehr Lukanfka grand-père, wie einst sein Heiland, das harte Wort der Priesterkaste verflüssigt und auch an die Schwächsten ausgeschüttet hatte, so sehr war nun auch der Körper seiner eigenen Lehre, in dem er sich nicht mehr völlig wohl zu fühlen schien, nicht bloß geschmeidig und flüssig, sondern schon derart geistförmig und fromm, und damit auf andere Weise wieder hart geworden, dass sogar die Verzweiflung der Ärmsten ihm noch als allzu irdische Räuberei einer Rotte erschien.
Vor 300 Jahren: Der mittlere Lukanfka (oder: Lukanfka père)
200 Jahre nach Beginn dieses Aufstandes, der letztlich fruchtlos geblieben war, wurde dann der Mittlere, Lukanfka père, ins Hier und Jetzt eines Ostseestädtchens geworfen und überbot den grand-père am Ende fast noch an Unwohlsein am Leib. Denn selbst der frühe Lukanfka hatte ja, obwohl er sonst alles vergeistigte, noch darauf bestanden, am allzu stofflichen Buche, oder zumindest dessen Buchstaben, festzuhalten, wenn auch vielleicht nicht – wie böse Zungen es ihm unterstellen –, weil ihm als angeblichem „Wegbereiter“ das doppelte „S“ so gut gefiel. Obwohl Lukanfka père, also der Mittlere, auf das dicke Buch verzichtete und an dessen Stelle den reinen Geist setzte, wird nun zuweilen auch er dieser Wegbereiterei bezichtigt, da er ja immer vom „Gehorsam“ sprach, der auch noch „unbedingt“ sein sollte.

Doch vergessen die Mahner dabei zuweilen geflissentlich, dass dieser Gehorsam nicht gegenüber den Gesetzen einer fränkischen Stadt, sondern denen eben jenes reinen und nur sich selbst setzenden Geistes erfolgen sollte – und wer zu wissen das nicht wagte, der gewann, zudem aus eigener Schuld, auch nicht. Wiederum andere Mahner behaupten dagegen, dem Mittleren sei es, weil er das Buch des Frühen zwar durch den reinen Geist ersetzt, sonst aber alles beim Alten gelassen habe, nun genauso wenig gelungen, die missionierend sich ausdehnende Kriegstreiberei der italischen Heilandstöter zu überwinden. Stattdessen habe er – genau wie zuvor der Großpapa – jener bloß ein neues Gewand übergestreift und sie dadurch nur noch strenger, böser und nicht zuletzt täuschender gemacht. Man mag es so sehen, aber darüber lässt sich trefflich streiten, weil doch Lukanfka père, von Nietzsche einst zum „großen Chinesen“ ernannt, seiner vermeintlichen Geistesmauern wohl auch selbst eingedenk gewesen sein könnte und so die Priesterkaste, deren Lehren er sich anverwandelte, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachte – denn war der freie Mensch dem Frühen stets noch Mittel für den Zweck des frommen Geistes, war er dem Mittleren kein Mittel mehr, viel mehr als freier, reiner Geist sein eigener Zweck.
Vor 100 Jahren: Der späte Lukanfka (oder: Lukanfka fils)
Als sogar „noch strenger“ und „noch böser“ als alles, was vor ihm geschehen war, erschien aber zuletzt dem späten Lukanfka der „große Organismus“, der ihn umgab. Denn „alles steht“ darin „doch in Verbindung“, alles mit allem im Zusammenhang, so wie es auch zwischen unseren drei Lukanfkas der Fall ist. Als dieser letzte Lukanfkianer nun vor 100 Jahren, gezwungenermaßen als ewiger Sohn, auch in die ewigen Jagdgründe einging – wir hoffen nicht in jene des Naturtheaters –, bestand er wohl tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen, doch dies war ohnehin zeit seines Lebens der Fall gewesen. Ja, dem Großpapa und dem Vater ähnlich und sie darin noch übertreffend, tat sich auch Lukanfka fils als Kostverächter hervor, dem jede Leiblichkeit ein Gräuel war. „Mager“, „schwach“ und „schmal“, schlicht „rätselhaft“ war diesem Hungerkünstler aus der Nähe von Dresden das seinen Geist umrahmende Gehäuse, weshalb dem einen oder anderen Exegeten es schien, als habe sich der fils gar mehr als fille gefühlt. Womöglich aber weder noch, denn wiederum den Ahnen gleich glaubte auch der Späte sich der Leiblichkeit als solcher überhoben: nicht bloß „Interesse“ am Geiste habe er, nein, er „bestehe aus“ Geist, und zwar dem schönen, doch dafür nicht aus Fleisch und Blut.
Lukanfka fils – und darin dem Frühen und Mittleren gänzlich ungleich – wird nun (noch) nicht als Wegbereiter angesehen, seine Schöpfungen jedoch sehr wohl als düster warnend, als kündend von der dunklen Zeit. Zurecht, gemahnt doch der buchstäblich sein Selbst zerfleischende Gehorsam des berühmten Offiziers auf der exotischen Insel an jene späteren Initialen-Offiziere, die sich, wenn sie erfuhren, dass ihr Blut nicht ganz so rein war, wie sie geglaubt hatten, aus Selbsthass in den Tod stürzten. Die Gefahr für Lukanfka fils, in diesem Land dann dennoch irgendwann selbst als Wegbereiter derjenigen, die ihn vernichtet hätten, zu gelten, ergibt sich nun daraus, dass sogar die, die noch lesen, mehr und mehr die Fähigkeit zu verlieren scheinen, zwischen dem Schöpfer und der von ihm nicht der Anbeterei, sondern der Warnung halber geschöpften Götzen zu unterscheiden, und durch diesen metonymischen Fehlschluss genau demjenigen Denken anheimzufallen drohen, dessen sie der Schöpfer allererst zu entreißen beabsichtigte.
Lukanfka vereint die Widersprüche unserer Zeit in sich
So sind wir schließlich wieder beim Schöpfer angelangt, also nicht bloß jenem, der uns den Lumumba auf dem Weihnachtsmarkt in die Tasse löffelt; vielmehr beim Allmächtigen, aus dessen Hand immer schon „der Tropfen am Eimer“ des großen Weltmeers wie auch der kleinen Weihnachtsmarkttasse rann und dessen eigener Tropfen augenscheinlich von einer Besenkammer-Maria geraubt worden war, um uns das holde Kind zu gebären, ohne das es überhaupt kein Weihnachten, also auch keinen Weihnachtsmarkt, und womöglich – was am schlimmsten wäre – auch keinen Lukanfka geben würde. Und gerade Letzterer, der so oft der Wegbereiterei geziehen wurde, ist und bleibt – ob wir nun wollen oder nicht – so etwas wie der deutsche Schicksalsmensch, eine Art verschroben-possierlicher Gehilfe des Nikolaus, ein Knecht Ruprecht oder Krampus, der Altes und Neues, Böses und Gutes, Konservatives und Fortschrittliches, Belohnendes und Strafendes sowie Körperliches und Geistiges auf herrlich widerstrebende Art verbindet. In der Tat vereint er in sich die beiden großen Antipoden unserer Zeit: auf der einen Seite ein alter, weißer, mansplainender, missionierender und die Tradition verkörpernder Heteroklotz – und noch dazu Ossi; auf der anderen ein im Innern zerrissenes, im eigenen Körper und Geschlecht sich nicht zu Hause fühlendes, von allen sich verkannt glaubendes, in spätpubertär-idealistischer Weltflucht sich im Geist verhaftendes und allgemein post-kategoriales Sensibelchen – und noch dazu Ossi.





