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Verfassungsschutz auf totalitären Abwegen?

Der Verfassungsschutz bekämpft inzwischen auch die „Delegitimierung des Staates“. Geraten Regierungskritik und Meinungsfreiheit dadurch unter Generalverdacht?

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, und Innenministerin Nancy Faeser vor einer Bundespressekonferenz in Berlin.
Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, und Innenministerin Nancy Faeser vor einer Bundespressekonferenz in Berlin.photothek/imago

Das Bundesamt für Verfassungsschutz versteht sich selbst als Bollwerk zum Schutze der Demokratie. Gesetzlicher Auftrag dieses Inlandsgeheimdienstes ist es nicht etwa, sich um gewaltvolle und rechtswidrige Bestrebungen zur Abschaffung von Staat, Demokratie und Verfassungsordnung zu kümmern. Vielmehr liegt seine ausdrückliche Hauptaufgabe darin, die politischen Auffassungen von Bürgern zu ermitteln, diese auch schon unterhalb der Strafbarkeitsschwelle als verfassungsfeindlich zu brandmarken und öffentlich anzuprangern.

Allerdings läuft der Verfassungsschutz dabei Gefahr, selbst auf verfassungsfeindliche Abwege zu geraten. So sieht es zumindest Mathias Brodkorb, früherer SPD-Landesminister für Kultur, später für Finanzen in Mecklenburg-Vorpommern, Mitgründer des Portals „Endstation Rechts“ und Kolumnist beim Cicero. In seinem aktuellen Buch wirft er dem Verfassungsschutz nichts weniger vor, als sich als „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat“ zu gerieren und als „Erfüllungsgehilfe der Politik“ zu wirken.

Nach der Lektüre von Brodkorbs Streitschrift weiß man, warum er zu seinem harten Urteil hat kommen müssen. Denn in der Tat: Der Verfassungsschutz hat auf seinem Irrweg bereits äußerst abwegige Pfade eingeschlagen. Die strukturellen Defizite muten gravierend an.

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In seinen luziden Analysen des verfügbaren Fallmaterials (Urteile, Schriftsätze aus Verfahren, Dokumente der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder, Interviews) deckt Brodkorb unbarmherzig Fehler und – bisweilen bizarr anmutende – Widersprüche bei der Tätigkeit des Verfassungsschutzes auf. Diese lassen sich dabei immer wieder überzeugend auf eine strukturelle Ungenauigkeit bei der Begriffsbildung, mangelnde verfassungs(schutz)rechtliche Kompetenz und ein falsches, weil (politisch) zielorientiertes Amtsverständnis zurückführen.

Verfolgt man die von ihm beschriebenen Fälle chronologisch, lässt sich eine in der Behördenkonzeption wurzelnde Fehlentwicklung in der Verfassungsschutzpraxis aufzeigen. Früher galt das mehr im Bereich des linken Spektrums, neuerdings im „Kampf gegen rechts“.

3000 vom Radikalenerlass Betroffene demonstrieren 1978 in Hannover.
3000 vom Radikalenerlass Betroffene demonstrieren 1978 in Hannover.Klaus Rose/imago

Vom Kampf gegen links zum Kampf gegen rechts

Frappierend daran ist, dass vieles von dem, was Staat und Verfassungsschutz zur tatsächlichen oder vermeintlichen Verteidigung der Verfassungsordnung heute vornehmen, also schon längst bekannt ist. Bereits im „Kampf gegen links“, wie er sich vor einem halben Jahrhundert in der alten Bundesrepublik abspielte, wurden staatliche Schutzmaßnahmen wie der sogenannte Radikalenerlass, aber auch das Vorgehen der Verfassungsschutzämter von den Betroffenen moniert.

Der Staatsrechtslehrer und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde schrieb vor dem Hintergrund damaliger gesellschaftlicher Verwerfungen 1978 in seiner Schrift „Der Staat als sittlicher Staat“: Ein „unbezweifelter politischer Glaube als Fundament des Staates bedeutet (…) nichts anderes als die staatlich verwaltete und gepflegte politische Ideologie (…), durch die die Politik auf die Gesinnung der Einzelnen zugreift“.

Mit Brodkorb kann man genau diesen Zugriff auf die Gesinnung des Einzelnen nun im Vorgehen des Verfassungsschutzes heute erkennen. Man könnte auch sagen, dass der damalige „Kampf gegen links“ sich heute zu einem „Kampf gegen rechts“ verkehrt hat, ohne dass sich dabei an den Methoden grundsätzlich etwas geändert hätte. Die Fehlentwicklung kulminiert gewissermaßen im neuen Phänomenbereich der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“, den Brodkorb schlicht als „eine rechtsstaatliche Sauerei“ bezeichnet.

Das rechtsstaatliche Problem am neuen Themenfeld der Delegitimierung, das der Verfassungsschutz im April 2022 etablierte, liegt in seiner diffusen Beschreibung und inhaltlichen Nichtgreifbarkeit.

Denn anders als bei klassischen Phänomenbereichen wie dem Islamismus oder dem Rechts- und Linksextremismus, bleibt hier weitestgehend nebulös, welches die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdende Verhalten überhaupt erfasst werden soll. So werden im Sinne einer „Reste-Kategorie“ (Brodkorb) Phänomene der klassischen Themenfelder durcheinandergeworfen, mit einzelnen Gruppen wie Reichsbürgern und Coronaleugnern vermengt und in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Verschwörungstheorie gestellt.

Welche Auffassungen am Ende genau eine Delegitimierung oder Verächtlichmachung des Staates sein sollen, bleibt im Ungewissen. Es entstehen „Gummibegriffe“, „elastisch belassen wie Kautschuk“ (Brodkorb), an die sich aber erhebliche Eingriffswirkungen knüpfen können.

Ehrenamtliche Helferinnen packen Hilfspakete nach der Flutkatastrophe im Ahrtal.
Ehrenamtliche Helferinnen packen Hilfspakete nach der Flutkatastrophe im Ahrtal.Funke Foto Services/imago

Der Bürger schuldet keinen Gesinnungsgehorsam

Wer sich etwa bei der Flutkatastrophe im Ahrtal durch das Beibringen von Sach- und Geldspenden als „Kümmerer“ inszeniere, erwecke „aktiv den Eindruck“, wie der Verfassungsschutz es in einem Bericht unironisch nennt, dass der Staat und seine Repräsentanten von der Krisensituation überfordert seien. Dass dies offenkundig der Fall gewesen ist und durch den Rücktritt gleich mehrerer Minister auch eingestanden wurde, spielt für den Verfassungsschutz dann keine Rolle mehr.

Bordkorb, der hier zur Untermalung gleich mehrmals auf George Orwells „1984“ zurückgreift, meint, dass also selbst offensichtliche Tatsachen nicht mehr als solche benannt werden dürften, ohne ein „Gedankenverbrechen“ zu begehen und mithin als Verfassungsfeind markiert zu werden.

Richtigerweise konstatiert er dagegen, dass der Staatsbürger im freiheitlichen Rechtsstaat der Regierung aber gerade keinen Gesinnungsgehorsam schuldet, sondern seine eigene Willensbildung auf Basis von Persönlichkeitsrechten und Meinungsfreiheit vornimmt.

Der Verfassungsschutz mutiere nach Brodkorb so zum Erfüllungsgehilfen der Politik. Zwar wird dieser wohl nicht im Wortsinne von der Regierung instrumentalisiert und zielgerichtet gegen die Opposition eingesetzt. Aber doch mögen gewisse Erwartungshaltungen und die rechtliche Unterordnung unter das Bundesinnenministerium seine Aktivitäten in eine gewisse Richtung lenken. Das geheimdienstliche Vorgehen verselbstständigt sich dann. Und dies mit Wissen und Wollen der jeweiligen Regierung. Warum, nämlich, sollte man verhindern, was einem nützt? – zumindest bis man selbst wieder in Opposition gerät.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Chorweiler.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Chorweiler.Panama Pictures/imago

Wesenskern totalitärer Regime

Hier vollzieht sich also jener Zugriff auf die Gesinnung der Bürger, der dem freiheitlichen Verfassungsstaat zuwiderläuft. Denn dieser ist gerade keine Gesinnungseinheit, sondern hat das „Moment der Äußerlichkeit“ (Böckenförde) an sich: Die Bürger schulden dem Staat bloß nach außen hin Rechtsgehorsam, nicht aber Gesinnungstreue bis in die eigenen Gedanken hinein. Sie sind vielmehr selbstbestimmt und frei, was nach geltender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes fundamental durch die Meinungsfreiheit des Artikels 5 Absatz 1 des Grundgesetzes sichergestellt wird. Diese wird hierzulande deshalb traditionell äußerst weit verstanden.

Die politische Gesinnungseinheit als eigentliches Fundament des Staates zu propagieren und zur Rechtspflicht und Bedingung des politischen Bürgerstatus zu erheben, ist dagegen intrinsischer Wesenskern totalitärer Regime, so Böckenförde. Wer also den politischen Extremismus und Totalitarismus bekämpfen, die Freiheit und Demokratie schützen will, sollte nicht den Versuch unternehmen, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.

Vielmehr muss die „Ordnung der Freiheit (…) sich auch und gerade durch die Methoden ihrer Verteidigung von der der Unfreiheit unterscheiden“, wie Böckenförde es sagt und wie auch die Quintessenz der Ausführung Brodkorbs lauten könnte.

Nach alledem fragt man sich, warum es bislang nie unternommen wurde, die Befugnisse des Verfassungsschutzes und seine Amtspraxis auf ein rechtsstaatlich verträgliches Niveau zurückzustutzen. Oder wie Brodkorb sehr weitreichend fordert: ihn ganz aufzulösen.

Emiel Kowol examiniert dieses Jahr in Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und gehört zum Doktorandenkreis des Politikwissenschaftlers, Demokratie- und Extremismusforschers Prof. Dr. Eckhard Jesse von der Technischen Universität Chemnitz.

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