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„Lügenpresse“ wurde 2014 das Unwort des Jahres. Genau hundert Jahre zuvor war es in völkischen Kreisen kreiert worden. Joseph Goebbels verhalf ihm durch den häufigen Gebrauch zu einer Popularität, die bis in die heutige Zeit reicht. Die Phrase blieb im Wesentlichen in der braunen Blase, aus der sie kam, und wurde in Corona-Tagen zum Marschgesang. Vermutlich kannten die meisten, die das Wort benutzten, nicht einmal dessen Ursprung. Denn zur Freiheit, wie sie sie verstanden und verstehen, gehört auch die Abwesenheit von Geschichtskenntnissen.
Nun ist es allerdings ein offenes Geheimnis, dass die Glaubwürdigkeit der Medien arg gelitten hat, es gilt auch hier: kein Rauch ohne Feuer. Darüber regt sich seit Jahren Unmut bei Lesern, Hörern und Zuschauern, also bei uns Rezipienten. Die Unzufriedenheit erreicht auch die Redaktionen. Die Printmedien spüren sie an den stetig sinkenden Auflagen, die elektronischen an den Einschaltquoten. Verlage und Sender steuern dagegen – allerdings finden selten selbstkritische, also inhaltliche Überlegungen Eingang in die Abwehrstrategien.
Die Frage nach den Ursachen der Abkehr wird in der Regel mit Rahmenbedingungen, also den äußeren Umständen, beantwortet. Dass die Kundschaft von der Fahne geht, weil sie sich nicht ernst genommen fühlt, weil nicht von, sondern nur über sie berichtet wird, weil sie sich nicht informiert, sondern desinformiert wähnt und der Moralpredigten und Werteverordnungen leid sind – all diese Momente spielen in den internen Diskussionen offenbar keine Rolle.

Öffentlich hingegen wird das Problem gelegentlich durchaus erörtert. So lud beispielsweise Holger Friedrich, der Verleger dieser Zeitung, unlängst Dirk Kurbjuweit, den Chefredakteur des Magazins Spiegel, zu einem Disput über kritischen Journalismus und Glaubwürdigkeit. Allerdings war der Kopf des Nachrichtenmagazins der Einladung bekanntlich nicht nachgekommen, der Kommandeur des vermeintlichen Sturmgeschützes der Demokratie war in seinem Schützengraben geblieben.
Zugegeben, die Wahl des Schlachtfeldes war ein wenig „underhanded“, was auf altdeutsch hinterfotzig heißt: Die Wortgefechte sollten auf der Bühne des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Deutschlands östlichste Stadt erfolgen. Wer reist schon freiwillig so weit, der Hamburger Chefredakteur jedenfalls nicht. Andererseits: Die Wahl war auch weise. Görlitz liegt tief, tief im Osten. Und damit weit außerhalb des westdeutschen Horizontes, was also eine Bildungsreise hätte sein können. Das geistreiche Gespräch zwischen dem ostdeutschen Verleger und dem westdeutschen Intendanten muss ich hier nicht repetieren: Es stand in dieser Zeitung.
Die Diskussion zielte bald aufs Grundsätzliche
Einen Tag nach Görlitz, was gewiss Zufall war, beschäftigten sich mit dem gleichen Thema in Berlin vier einstmals sehr bekannte Fernsehjournalisten. Sie saßen auf dem Podium des Theaters Ost in Adlershof.
Das war mal das erste und einzige Fernsehtheater Deutschlands, 1952 wurde es im Bauhausstil errichtet. Später zog dort die „Aktuelle Kamera“ des DDR-Fernsehens ein, was keineswegs eine ironische Anspielung ist, sondern allenfalls als Erklärung dient, warum der Theatersaal nach Klaus Feldmann benannt ist, dem einstigen sehr populären, im Vorjahr verstorbenen Nachrichtensprecher.
Die umtriebige Theaterchefin Kathrin Schülein hatte Luc Jochimsen (einst ARD-Korrespondentin in London und Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks), Wolfgang Herles (langjähriger Chef der ZDF-Kultursendung „aspekte“), Lutz Herden (in Adlershof zuletzt Leiter der Hauptabteilung Nachrichten und Journale) sowie Michael Schmidt (einst DFF und danach NDR Mecklenburg-Vorpommern, zuletzt in Schwerin Chef vom Dienst Fernsehen aktuell) eingeladen. Die Diskutanten waren also weit gereist (Jochimsen lebt in Hamburg, Herles in Bayern, Schmidt in Rostock), weil ihnen der Niedergang des journalistischen Gewerbes nahegeht.
Sie hatten dazu gemeinsam auch ein Buch verfasst, zu dem Daniela Dahn ein Vorwort beisteuerte. Darin versuchten sie, als Beteiligte die Frage zu beantworten, ob der Abstieg des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufzuhalten sei, wobei die Diskussion zwangsläufig nicht zuletzt wegen der Fragen aus dem Publikum schon bald aufs Grundsätzliche zielte.

Das Gespräch war zunächst um den Verlust von Glaubwürdigkeit der Öffentlich-Rechtlichen gekreist, um den Vorwurf der Gleichschaltung und Uniformität, der Verflachung des Angebots, die ungenügende Qualifikation des Personals. Auch von Abhängigkeit, Korruption und Propaganda ging die mitunter zornige Rede. Die vier Journalisten berichteten über ihre Erfahrungen mit Zensur und Bevormundung. Luc Jochimsen zum Beispiel hatte Ostern 1999 einen Kommentar in den „Tagesthemen“ zum Krieg der Nato gegen Jugoslawien gesprochen – es war ihr letzter.
Ihre Meinung zu Krieg und Frieden war nicht mehr gewünscht, weil diese von der vorgegebenen, vorherrschenden, gewünschten Auffassung abwich. „Ich bekam keine Chance mehr, in der ARD den Krieg zu kommentieren.“ Nun, andere Korrespondenten und Kommentatoren machten später bei anderen Kriegen ähnliche Erfahrungen.
Oder Wolfgang Herles: Er war als Leiter des Bonner ZDF-Studios abgelöst worden, weil er Kohls Vereinigungspolitik kritisiert hatte. So gesehen ist „Pressefreiheit“ auch in Demokratien mitunter nur eine Phrase. „Nicht nur undemokratische Regime verfolgen Andersdenkende als Abweichler“, so Herles. „Mundtot gemacht werden kann man auch in der Demokratie, nur die Methoden sind andere.“ Und weiter zum Selbstverständnis seiner Zunft: Journalisten, die nicht kritisch sein wollen oder können, „sind keine Journalisten, sondern Lautsprecher“. Es genüge nicht zu behaupten, man stehe auf der Seite der Mehrheit oder der Geschichte oder „meinetwegen der Moral“.

Hanebüchene Geschichte aus dem Osten
Und dann war da noch der Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Michael Schmidt kam darauf zu sprechen, weil aktuell die ARD wieder für ihren 2021 produzierten Mehrteiler „Die Toten von Marnow“ in der Mediathek wirbt, um die zweite Staffel anzukündigen. Über fünf Millionen Zuschauer damals im Fernsehen und mehr als vierzehn Millionen Zugriffe in der Mediathek, so Schmidt. Das schrie nach Fortsetzung.
In der konstruierten Geschichte geht es um Tests westdeutscher Medikamente an ostdeutschen Probanden, also um Menschenversuche, die von der Stasi gedeckt und verschleiert wurden. Die Vertuschung reicht bis in die Gegenwart und sorgt für die titelgebenden Toten. Kein noch so abstruses Klischee ließ die hanebüchene Geschichte aus dem Osten aus, was selbst die Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Mecklenburg-Vorpommern empörte und zu einer Richtigstellung veranlasste.
Zwei Journalisten des NDR gingen der Sache auf den Grund, erzählte Schmidt, sie wollten wissen, wie es sich mit ungeklärten Todesfällen verhielt, die es im Kontext klinischer Studien angeblich gegeben hatte. Was fanden sie heraus? Seit 2013 hatten unabhängige Wissenschaftler in einem Forschungsprojekt akribisch alles untersucht, was es in dieser Sache zu untersuchen gab. Sie befanden, dass „alle Pharmafirmen“ der Bundesrepublik zwischen 1961 und 1989 „klinische Studien in der DDR durchgeführt“ hatten. „Das war zentral geregelt und wurde dann auch zentral organisiert“, bestätigte Volker Hess, Leiter des Forschungsprojektes der Berliner Charité, bei dessen Vorstellung 2016. Die Medizinstudien seien in der DDR nach damals international geltenden Standards durchgeführt worden. „Detaillierte Prüfpläne mussten eingereicht werden, für jede Testreihe war auch das Einverständnis der Probanden zwingend vorgeschrieben“, hieß es im Bericht des NDR. „Unregelmäßigkeiten oder grobe Verstöße sind nicht zu belegen.“
Einer der wesentlichen Gründe, warum die Pharmakonzerne in die DDR gingen: Nach der Contergan-Katastrophe war die Bereitschaft von Bundesbürgern, an medizinischen Tests teilzunehmen, verständlicherweise sehr gesunken. Fazit des Forschungsprojektes: Es hatte keine rechtsstaatswidrigen Menschenversuche in der DDR gegeben, die hätten vertuscht werden müssen.
Der Recherche-Beitrag des NDR lief im Radio und ist online zu lesen – wenn er überhaupt dort gefunden wird. Der Vierteiler mit seinen schockierenden Bildern und Dialogen jedoch läuft noch immer und findet nunmehr also auch seine Fortsetzung.

Zweimal ist einmal zu viel
Nun handelt es sich dabei nicht um einen Dokumentarfilm, der der Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet ist, sondern um ein künstlerisches Produkt. Und Kunst darf alles. Wenn sie denn originell ist und sich an der Wirklichkeit reibt. In diesem Fall – und dieser steht pars pro toto – wird ein politisches Narrativ bedient, das nach 1990 gesetzt wurde. Und warum das alles?
Im Vorwort des erwähnten Buches der vier Autoren spricht Daniela Dahn von „Machterhalt“. Diesem Bestreben diene „die Deutungshoheit über die Meinung von Mehrheiten“. Und weiter: „Offenbar hat die politische Klasse kein Interesse an wissenden, selbstbestimmten Bürgern.“ Daher deren zunehmende Bevormundung, die einer Entmündigung gleichkomme.
Die Ostdeutschen – zumindest jene, die die DDR bewusst erlebten – kennen die Wirkung überzogener Propaganda, die Uniformität von Meinung und Gleichschaltung. Sie haben täglich ihr Déjà-vu, sie wissen: Die Herrschenden brauchen einen Popanz, mit dem man von der eigenen Unzulänglichkeit ablenken kann.
Das Volk, der große Lümmel, verweigert heute aber zunehmend die Gefolgschaft, bestellt die Zeitung ab, verweigert die Nachrichtenaufnahme und gibt jenen die Stimme, die „Lügenpresse“ tröten. Nicht, weil diese Leute eine bessere Politik machen würden, wenn sie an den Fleischtöpfen der Macht säßen, wohin sie wie alle anderen Parteien drängen. Sondern weil das mündige Wahlvolk den Regierenden und ihren amtierenden Lautsprechern in den Redaktionen zeigen will, dass es die offenkundige Massenverdummung nicht mehr hinzunehmen bereit ist. Zweimal ist einmal zu viel, sagen die Ostdeutschen. Und die Westdeutschen: Hä?


