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Wie westliche Sanktionen zur Verarmung der syrischen Bevölkerung beitragen

Regelmäßig besucht unser Autor seine Mutter in Syrien. Er kritisiert: Die westlichen Sanktionen gegen das Land treffen vor allem die Zivilbevölkerung.

Mitglieder des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds mit Menschen, die bei dem verheerenden Erdbeben ihre Häuser verloren haben.
Mitglieder des Syrisch-Arabischen Roten Halbmonds mit Menschen, die bei dem verheerenden Erdbeben ihre Häuser verloren haben.Louai Beshara/AFP

Trotz der Kriegsumstände besuche ich meine Mutter in einem kleinen Dorf bei Latakia in Syrien zwei- bis dreimal im Jahr. Aufgrund der EU- und US-Sanktionen sind keine Flüge von Berlin zu den syrischen Flughäfen erlaubt. Deshalb fliege ich zunächst nach Beirut und nehme von dort jedes Mal die Autofahrt bis Latakia in Kauf. Der Weg war in den letzten drei Jahren nicht ungefährlich. Proteste sowie schwere wirtschaftliche und politische Krisen halten den Libanon auf Trab.

Im letzten April des vorigen Jahres bin ich mit meinem Taxifahrer zwischen Beirut und Tripoli unerwartet in einen gewaltsamen Protest junger Libanesen geraten. Wir waren mit anderen Autos über eine Stunde von Reifenfeuern umzingelt. Wir hatten Angst und konnten uns nicht retten, bis eine Einheit der libanesischen Armee eintraf. Wenn ich Syrien besuche, verbringe ich die meiste Zeit mit meiner 86-jährigen Mutter und mit der Organisation ihrer Versorgung.

Ich besuche auch meine Geschwister, die bis auf einen Bruder in Latakia und Umgebung leben. Der zweitälteste Bruder lebt in der Hauptstadt Damaskus und ich verbringe bei ihm in der Regel zwei Tage vor der Rückreise nach Berlin über Beirut. Durch meine wiederholten Reisen nach Latakia und Damaskus erlebe ich, wie sich die Lebensbedingungen meiner Familie in Syrien mit atemberaubendem Tempo verschlechtern.

Ohne die Unterstützung durch meine Berliner Familie, Freunde und mich wären sie an der Grenze des Verhungerns. Letzteres betrifft die meisten der 18 Millionen Menschen in Syrien. Laut mehreren Quellen haben 85 Prozent von ihnen ihre Ernährungssicherheit verloren. Ein US-Dollar war 2019 für unter 500 Syrische Lira zu bekommen. Heute bekommt man dafür über 7300 Lira. Ein durchschnittlicher Angestellter in Syrien verdient heute monatlich umgerechnet nur noch 20 gegenüber 200 US-Dollar im Jahre 2019.

Bei einer jährlichen Preissteigerung für Lebensmittel, Medikamente und Brennstoffe zwischen 130 und 170 Prozent in den letzten drei Jahren sind die meisten Syrer also unvorstellbar verarmt. In einem Bericht des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen heißt es, dass circa 55 Prozent schon unter Hunger und Unterernährung leiden. Weitere 25 Prozent sind gefährdet davon betroffen zu sein.

Freiwillige organisieren ein Massen-Iftar in einem der durch das Erdbeben beschädigten Viertel in der syrischen Stadt Atarib.
Freiwillige organisieren ein Massen-Iftar in einem der durch das Erdbeben beschädigten Viertel in der syrischen Stadt Atarib.Anas Alkharboutli/dpa

Selbstversorgung: Syrien war ein Musterbeispiel

Dies geschieht wohlgemerkt in einem Land, das sich vor dem Ausbruch des Krieges im Jahre 2011 zu 75 Prozent selbst ernährt hat. Unter den Entwicklungsländern war Syrien ein Musterbeispiel für Selbstversorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Bekleidung. Es versteht sich von selbst, dass nach den fürchterlichen Erdbeben im Februar eine massive weitere Verschlechterung der Lebenslage der gesamten Bevölkerung zu erwarten ist.

Das Erdbeben zerstörte weite Teile von drei dicht besiedelten Bezirken, Aleppo, Idlib und Latakia. Es forderte über 10.000 Opfer und trug neben dem Krieg zur weiteren Zerstörung der Infrastruktur sowie dazu bei, dass Hunderttausende Syrer nun obdachlos sind. Der Syrienkrieg begann 2011 und ist noch nicht vollständig beendet, auch wenn seit 2018 keine großen Militäroperationen mehr stattgefunden haben. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der syrischen Bevölkerung ist hauptsächlich auf diese Kriegsumstände zurückzuführen.

Die zunehmende Korruption, die unprofessionelle Wirtschaftspolitik und das schlechte Management von Regierungskreisen in Damaskus haben die Lage zusätzlich verschlimmert. Dennoch ist ein derart massiver Rückgang des Lebensstandards erst nach der Verschärfung der US-Sanktionen gegen die syrische Regierung durch den sogenannten Caesar Act von 2019 zu beobachten. Dieses Gesetz bestraft weltweit Firmen und Geschäftsleute, die mit Syrien Geschäfte machen. Diesem Gesetz unterliegen alle Unternehmen und Geschäftsleute, unabhängig von ihrer Nationalität, den US-Sanktionen, soweit sie mit der syrischen Regierung und deren Institutionen Geschäfte machen.

Da sich Unternehmen kaum trauen, sich mit den US-Finanzbehörden anzulegen, wurden damit praktisch alle legalen Handels- und Investitionswege nach Syrien weitgehend ausgeschlossen. Da der syrische Staat zahlreiche Unternehmen in allen Bereichen besitzt und die syrische Wirtschaft historisch auf die Beziehungen mit dem Westen angewiesen ist, trafen die Sanktionen die syrischen Unternehmen härter als jemals zuvor in der Geschichte des Landes seit seiner Unabhängigkeit 1947. Die Folgen dieser beispiellosen Sanktionen sind gravierend.

Es herrscht in Syrien eine unvorstellbare Verknappung und Verteuerung der Grundnahrungsmittel, der Medikamente und der Brennstoffe, wie Benzin und Diesel. Strom gibt es alle fünf Stunden nur für eine knappe halbe bis eine Stunde. Bis 2020 gab es dreistündige Unterbrechungen, im Wechsel mit drei Stunden Strom. Der Schwarzmarkt floriert, aber auch dort sind die Preise für die meisten nicht bezahlbar. Bei meiner vorletzten Reise im Januar habe ich für einen Liter Benzin zwei Euro bezahlt. Damit reicht das durchschnittliche, monatliche Gehalt kaum für 10 Liter Benzin. Bei meiner letzten Reise Anfang April 2023 haben sich die Preise für Brennstoffe, Kaffee, Tee, zahlreiche Lebensmittel und Hygieneprodukte weiter erhöht.

Baghdad, Irak – Humanitäre Hilfsgüter des Roten Halbmonds auf einem Militärflughafen vor dem Transport nach Syrien.
Baghdad, Irak – Humanitäre Hilfsgüter des Roten Halbmonds auf einem Militärflughafen vor dem Transport nach Syrien.Hadi Mizban/AP

Auch Lebensmittel und Medikamente betroffen

Ironischerweise geschieht das in einer Zeit, in der US-Truppen beschuldigt werden, das syrische Öl im Osten Syriens nach wie vor auszubeuten und illegal über den Nordirak zu verkaufen. Damit verwehren sie der syrischen Bevölkerung ihre Rechte an diesem nationalen Reichtum. Die US-Regierung und die EU-Behörden meinen, die Sanktionen seien lediglich gegen die syrische Regierung unter Präsident Bashar al Assad gerichtet und betreffen außerdem keine Lebensmittel und keine Medikamente.

Die Frage, die sich hier aber stellt, ist: Wie sollen Lebensmittel und Medikamente nach Syrien kommen, wenn alle syrischen Banken vom internationalen Zahlungssystem (SWIFT) ausgeschlossen sind? Die Sanktionsliste umfasst auch alle syrischen Institutionen und Firmen des öffentlichen Dienstes und der Versorgung, darunter die Häfen, die Flughäfen, die Fluggesellschaft, die Post, die Telekommunikation, der Gassektor, Erdölunternehmen etc.

Ein befreundeter Mitinhaber eines kleinen privaten Unternehmens mit etwa 25 Mitarbeitern zur Herstellung von Sanitärprodukten erzählte mir, dass er seit Jahren keine Vorprodukte mehr aus Deutschland importieren kann, da er die Kosten nicht überweisen kann. Die Sanktionen betreffen damit nicht nur fast alle syrischen Unternehmen, sondern insbesondere die Bevölkerung.

Vor einiger Zeit wollte ich meiner Mutter und meinen Geschwistern ein Paket mit Bekleidung und Medikamenten aus Berlin schicken. Da die syrische Post sanktioniert ist, sollte das Paket über ein Drittland verschickt werden, bis es dann doch wieder zurückkam. Nach dreimonatiger Weltreise landete das Paket wieder bei mir in Berlin mit der Begründung, dass das Paket aufgrund „der Umstände in Syrien“ nicht lieferbar sei.

Nach dem Erdbeben sollten die Sanktionen laut US- und EU-Kreisen für 180 Tage gelockert werden. Trotz dieser Lockerung hat sich bei der Deutschen Post jedoch nichts geändert. Das Gleiche gilt für den Geldtransfer und die Telekommunikation. Die internationale Bank Western Union meint, man könne nach Syrien nun kostenfrei Geld überweise, nimmt Syrien gleichzeitig jedoch nicht wieder in seine Länderliste für Online-Überweisungen auf.

Die Sanktionen unter dem „Caesar Act“ in ihrer jetzigen Form und Wirkung schaden der syrischen Bevölkerung und vor allem den einfachen Leuten, wie meiner Mutter, am meisten. Sie unterbinden diesen Menschen den Zugang zu bezahlbaren Lebensmitteln, Medikamenten und Brennstoffen. Daher müssen sie schnell aufgehoben werden. Wenn dies nicht geschieht und das Land gleichzeitig nur sehr begrenzte internationale Hilfe erhält, drohen Hungersnot und Unterernährung außer Kontrolle zu geraten.

Zum Autor
Dr. Ibrahim Mohamad ist Wirtschaftsexperte, Journalist und Kolumnist.

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