Open Source

Meine Freundschaft zu dem DDR-Autor Helmut H. Schulz: „Nichts ist wiederholbar“

Zufällig stößt unsere Autorin auf ein Buch des Autors Helmut H. Schulz. Sie schreibt ihm einen Brief – der Beginn einer unvergesslichen Freundschaft. Ein Nachruf.

Helmut H. Schulz
Helmut H. Schulztrafo

Der Brief, der mir heute aus dem Kasten schwer entgegenfällt, ist dicker als sonst. Die gleiche Marke klebt darauf, aber der Absender ist ein anderer. Ich ahne, was drinstehen wird. Wann öffnet man einen solchen Brief? Sofort? Ich habe die Begegnung, um die es hier geht, immer wieder neu versucht aufzuschreiben, jedes Mal ein bisschen anders. Sicher hätte der, über den ich erzähle, es noch besser gemacht. Es bleibt bei dem Versuch, das Erlebte in meine eigenen Worte zu packen. Ein Jahr lang durfte ich durch einen Zufall ein kleiner Teil des Lebens des Schriftstellers und Heinrich-Mann-Preisträgers Helmut H. Schulz sein.

Diese Geschichte beginnt an einem Sommertag im letzten Jahr in Lütten Klein, einem Ortsteil von Rostock. Ich hatte im Vorfeld des Urlaubs verpasst, mich rechtzeitig um ein Quartier zu kümmern, und so bleibt wieder nur das Gästehaus Lütten-Klein als einzige Möglichkeit einer bezahlbaren Unterkunft in Ostseenähe. In diesem Jahr bewohne ich mit meinem kleinen Jungen Zimmer 834 in dem ehemaligen Arbeiterwohnheim mit Blick auf Plattenbau.

Es ist ein heißer Tag, als ich mit meinem Kind den Entschluss fasse, nicht gleich an den Strand, sondern erst einmal durch die Passage von Lütten Klein zum Einkaufszentrum am Ende dieses Weges zu gehen. Mir gefällt es, ein bisschen so zu tun, als wenn ich eine Weile dort lebe, Teil dieser Szenerie bin. Ich schmuggle mich also in das Leben von Lütten Klein.

Im Einkaufscenter gibt es mehrere Attraktionen, was ich noch vom letzten Jahr weiß. Dazu zählen nicht nur die vielen Rüttelmaschinen, die für einen Euro den Kindern für eine sehr kurze Zeit einen winzigen Spaß bringen. Es gibt auch auf jeder Etage ein Regal, aus dem man sich Bücher mitnehmen kann. Viele davon sind aus dem Bestand der ehemaligen Gewerkschaftsbibliothek VEB Fischkombinat Rostock, wie man an den Stempeln erkennen kann. Da liegt es in einem der Bücherschränke – „Jahre mit Camilla“ von Helmut H. Schulz. Ich stecke es ein und ahne nicht, dass da in meiner Tasche nun etwas liegt, das in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird.

„Ich fasste den Entschluss, den Autor zu finden“

Noch am Abend nehme ich mir das Buch. Es schnappt mich sofort, es trifft einen Nerv. Die Sprache gefällt mir. Es ist die Liebesgeschichte zweier junger Menschen, die die Gefühle füreinander nicht über lange Zeit halten können. Das Leben bringt sie auseinander. Es beschäftigt sich mit den Fragen, die ich mir oft stelle. Was geschieht mit einer Beziehung, wenn sich die Beteiligten auseinanderentwickeln, was, wenn die Realität die ersten Vorstellungen vom Anderen überzeichnet? Und es erzählt mir etwas von der Generation meiner Eltern.

Noch in dieser Nacht fasse ich den Entschluss, den Autor des Buches zu finden, um ihm von meiner Begeisterung zu erzählen. Ich recherchiere: Helmut H. Schulz ist 90 Jahre alt, er lebt in Berlin. Geschrieben hat er viele weitere Romane, unter anderem das Buch „Der Sündenfall“, Vorlage des Defa-Films „Verbotene Liebe“, den ich als Jugendliche so liebte. Seine Bücher wurden, wie die der meisten DDR-Autoren, nicht mehr nachverlegt.

Ich denke an meine Großmutter. Als wir im Jahr zuvor in Lütten Klein waren, wurde in der „Tagesschau“ vom Tod der Autorin und Erfinderin der DDR-Kinderzeitschrift Bummi, Ursula Böhnke-Kuckhoff, berichtet. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, sie hätte diese Anerkennung schon vor ihrem Tod erhalten und die Gelegenheit bekommen, sich darüber zu freuen. Man darf mit solchen Dingen nicht warten.

Im Radio läuft Thomas Natschinskis „Lied von den Träumen“. Alles passt zusammen, das Buch, das Lied von den Träumen, Lütten Klein, der Sommer, mein Junge und ich, denke ich in dieser Nacht in der achten Etage des Gästehauses. Ich schreibe an Verlage, in denen Schulz veröffentlicht hat. „Jahre mit Camilla“ lese ich immer wieder, am Strand, im Auto, am See. Ich streiche die schönsten Stellen an und spreche sie auf das Aufnahmegerät. Dieser Text ist wie ein Lied, das weitersummt, wenn es nicht mehr spielt.

Der Heras-Verlag antwortet. Rainer Schulz, der Sohn von Helmut H. Schulz, leitet ihn. Er schreibt: Da haben Sie sich einen der ersten Romane meines Vaters besorgt, der in den 60er-Jahren für viel Furore in der DDR gesorgt hat, wie mir mein Vater sagte. Hier ist also seine Anschrift. Ich schreibe an Helmut H. Schulz und stecke den Brief in den gelben Kasten. „Wenn er nicht antwortet, wäre es enttäuschend. Wenn er mir nur einen Satz schreibt, wäre es noch enttäuschender“, schreibe ich in mein Tagebuch.

Nur ein paar Tage später ist die Antwort da. „Liebe Frau Katja, ich habe Ihren Brief vor mir, der viele Erinnerungen weckt. Das Buch Camilla wurde vor beinahe fünfzig Jahren geschrieben und ich war offenbar in einer gehobenen Stimmung, als ich es schrieb. Es wurde nachverlegt, kam in Taschenbuchform heraus. Ich erinnere mich an die Debatte unter Fachleuten über meinen Stil, das direkte Einsetzen klarer Rede. Der Verlag wünschte sich einen Epilog von mir auf mein Buch, ich schrieb ihm auch etwas dazu; sie wollten es anders, da zog ich meine Fassung zurück. Ich habe nie etwas geändert oder auf Weisung umgeschrieben, und so lange blieb die Schrift in meinem Schreibtisch. Ihr Brief war der Anlass, alles wieder hervorzuholen, ich denke, dass Sie es verstehen, mit Camilla in ihrer Nähe. ... Dank für Ihren einfühlsamen Brief. Wollen wir darüber sprechen? Schreiben Sie mir, wenn Sie wollen oder rufen Sie mich an. Ich bin Ihr Helmut H. Schulz.“

Eine klassische Brieffreundschaft

Aus dem zweiten Brief ziehe ich den Epilog, der sich aus der Schublade von Helmut H. Schulz auf den Weg zu mir gemacht hatte. Es ist nicht nur ein Epilog auf das Buch „Jahre mit Camilla“ geworden, es ist ein Epilog auf das verlorene Land, die verlorene Zeit, das verlorene Leben. An diesem Tag beginnt eine Brieffreundschaft, die fast auf den Tag ein Jahr anhält, klassisch per Post, mit Marke drauf. Schulz wird mein heimlicher literarischer Begleiter. Ein Jahr lang schreiben wir im etwa 14-tägigen Wechselrhythmus, oft sogar jede Woche.

Unser Briefwechsel ist nicht immer ganz einfach. Hin und wieder provoziert er mich, ich schreibe ihm meinen Ärger, woraufhin er antwortet, dass er mit einem Rüffel rechnen musste. Wir schicken uns gegenseitig unsere Texte und schonen den anderen nicht mit Kritik. Mit meinen Texten kann er erst wenig anfangen, später schon mehr. Am Ende nennt er mich immerhin Kollegin.

Ich lese all seine Romane und Erzählungen, „Stunde nach Zwölf“, „Abschied vom Kiez“, „Spätsommer“, „Alltag im Paradies“. Ein paar schickt er mir, die andere besorge ich mir auf antiquarischem Weg. Er erzählt mir, dass er am Wochenende auf Flohmärkten unterwegs ist, um seine eigenen Bücher zu kaufen. Ich ermutige ihn, sein großes autobiografisches Werk, das er bereits 1970 begonnen hat, zu Ende zu bringen. Es ist sein Wunsch, dies noch zu schaffen. Ich besorge mir seine Filmempfehlungen und versuche sie mit seinen, mir unbekannten Augen zu sehen.

Er wird schreiben, dass ich ihn gerne anrufen kann. Den Mut habe ich nur an seinem Geburtstag. Er geht nicht ans Telefon, worüber ich offen gestanden froh bin, weil ich die schöne schriftliche Geschichte nicht zerstören will. „Sie können mich auch jederzeit anrufen“, antworte ich. Er tut es auch nicht. „Wenn es Sie mal in die Nähe ziehen sollte, dann drücken Sie meinen Klingelknopf, anstatt sich zu drücken“, fordert er mich auf und ich mache es tatsächlich. Ich stehe an einem heißen Nachmittag in diesem Sommer vor seiner Tür. Er öffnet nicht. Als jemand aus dem Haus kommt, schiebe ich mich durch die sich langsam schließende Tür und begegne einem Nachbarn.

„Kennen Sie Helmut H. Schulz?“, frage ich ihn. „Schulz? Ach, Sie meinen den Autor. Ja, der wohnt hier.“ Er zeigt mir seinen Hauseingang und verspricht, einen Gruß von der Brieffreundin aus Pankow auszurichten. „Haben Sie Ihn denn noch nie gesehen“, fragt er mich. „Nein, noch nie.“ „Laufen Sie doch noch ein bisschen durch die Straße. Er ist hier oft unterwegs – kleinere Statur, schwarzer Mantel, Schiebermütze.“ „Mantel und Schiebermütze – bei dieser Hitze?“ „Na, vielleicht nicht heute. Er sieht aus wie einer von der See.“ Ich bleibe noch eine Stunde in der Straße vor seinem Haus und suche ihn, aber ich kann ihn nicht finden, denn er ist ins Krankenhaus gekommen, wie ich später erfahre.

Wir haben uns nie getroffen und nicht miteinander gesprochen, aber eine Kiste voller Briefe steht auf meinem Schreibtisch. Er hat es geschafft, sein Lebenswerk zu veröffentlichen. Im November ist „Stadelhoffs Erben“ im trafo-Literaturverlag erschienen. „Ein Jahrhundertwerk, das mich krank und wehrlos zurücklässt“, schreibt er.

„Danke für diese unvergessliche Freundschaft“

Ich hatte mich immer vor dem Moment gefürchtet. Jetzt ist er da. Der etwas dickere Brief im braunen Kasten ist nicht von Helmut H. Schulz. Er ist von Rainer Schulz, seinem Sohn. Aus dem Umschlag hole ich ein Buch über den Heras-Verlag, den Verlag, den Rainer Schulz mit seinem Vater zu einer Zeit gründete, als es dem Autor nicht gut ging. Es hatte ihm damals neuen Schwung gegeben, schreibt Rainer Schulz in dem Buch „Wer schreibt der bleibt?“. Sie haben Schulz’ Bücher und die einiger Kollegen mit ähnlicher DDR-Geschichte im gemeinsamen Verlag noch einmal veröffentlicht.

Auf dem Buch zum zehnjährigen Jubiläum liegt eine Karte. Helmut H. Schulz ist am 11. Dezember im Alter von 91 Jahren gestorben. Rainer Schulz war es, der unsere Geschichte mit der Weitergabe der Adresse seines Vaters ermöglichte, und er ist es, der sie mit diesem Brief beendet.

Helmut H. Schulz war mein Brieffreund, fast auf den Tag ein Jahr lang. Er wollte, dass ich in naher Zukunft einige frühe unveröffentlichte Werke einlese. Das haben wir nicht mehr geschafft und ich war auch nicht, wie versprochen, im „Zerbrochenen Krug“ im Deutschen Theater, um ihm davon zu erzählen. Ich bin heute den Weg in Gedanken noch einmal gegangen, vom Gästehaus Lütten Klein zum Einkaufszentrum und habe das Buch aus dem Schrank genommen. Ich habe alle Briefe noch einmal gelesen, dabei die 3. Symphonie von Johannes Brahms gehört, den langsamen Satz, den dritten, den er besonders mochte.

Ich ziehe den Epilog von Camilla aus dem Umschlag. Passenderweise trägt er den Titel: „Über die Unsterblichkeit“. Darin heißt es: „Ihnen fällt jene Neujahrsnacht ein, die eiskalt war, aber arm an Schnee, der Kältedunst stand achtern über der See und voraus über dem Bodden, als sie oben allein auf der Wustrower Kirche standen. Es war ein Gefühl der Erwartung wie vor einem Urknall der Welt, und als Schlag Mitternacht von allen Fischlandkirchen die Glocken einfielen, da meinten sie unsterblich zu sein …“ Im nächsten Sommer werde ich mit meinem Jungen auf den Wurstrower Kirchturm steigen. Ich habe es gegoogelt. Das ist möglich.

Es gibt viele wichtigere und nähere Wegbegleiter, die über Helmut H. Schulz erzählen könnten – das ist mir klar. Und obwohl mir die Geschichte so kostbar ist, dass ich sie am liebsten für mich behalten würde, schreibe ich sie trotzdem, weil ich es muss, weil ich diesem großen Erzähler nachrufen will, danke für Literatur, die weiterlebt, weiterleben muss, danke für diese unvergessliche Freundschaft und danke für Camilla.

Es war ein großes Geschenk, das ich da im Sommer letzten Jahres im Einkaufszentrum von Lütten Klein aus dem Schrank gezogen habe. Wer hätte gedacht, wie groß es war.

„Oben in unserem Zimmer schob sich Camilla ihre Kissen zurecht. Ich setzte mich ihr gegenüber und stopfte die Pfeife frisch. Wir warteten auf irgendetwas, vielleicht auf die Stimmung des Sommers. Sie kam nicht. Nichts ist wiederholbar.“ („Jahre mit Camilla“)

Viele Bücher von Helmut H. Schulz sind beim Heras-Verlag erhältlich. „Stadelhoffs Erben“ ist im trafo-Literaturverlag erschienen.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.