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Vom „Märchenprinzen zum Sozialrevolutionär“: Der Künstler Heinrich Vogeler

Vor genau 150 Jahren wurde der Künstler Heinrich Vogeler geboren. Sein Lebensweg führt auch nach Berlin, wo er einige rastlose Jahre verbrachte.

Der Maler, Grafiker und Innenarchitekt Heinrich Vogeler (1872–1942) in seinem Haus „Barkenhoff“ in Worpswede (Foto um 1900)
Der Maler, Grafiker und Innenarchitekt Heinrich Vogeler (1872–1942) in seinem Haus „Barkenhoff“ in Worpswede (Foto um 1900)epd

Das kunstinteressierte Berliner Publikum entdeckte den vielfach begabten Künstler Heinrich Vogeler bei der Wiedereröffnung der Neuen Nationalgalerie im vergangenen Jahr neu: Drei sogenannte Komplexbilder mit Vogelers Visionen einer klassenlosen Gesellschaft sind in der Sammlungspräsentation des Museums zu sehen. Ausdruck eines vermeintlich „neuen Vogelers“, der am 12. Dezember 1872 in Bremen in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie zur Welt gekommen und in jungen Jahren für seine Jugendstil-Werke bekannt geworden war.

Die Komplexbilder zeugen von Vogelers späterer Hinwendung zum Kommunismus und seiner Begeisterung für die damalige Sowjetunion. Dorthin wanderte der Maler, Architekt, Designer, Autor und politische Aktivist, Publizist und Pädagoge zu Beginn der 30er-Jahre aus. Und dort starb der Künstler auch ‒ vor 80 Jahren, im Jahr 1942. Auf dem Weg von seiner alten Heimat in der norddeutschen Künstlerkolonie Worpswede bis zum Neubeginn in der Sowjetunion legte er in Berlin einen Zwischenstopp ein.

Seit 1925 bot ihm eine kleine Atelierwohnung in Berlin-Lichterfelde eine erste vorübergehende Unterkunft zwischen ersten ausgedehnteren Reisen nach Moskau. Vogelers Berliner Jahre waren eine entscheidende Phase seines politischen Sinneswandels zum Marxismus, verbunden mit einem vielfältigen Engagement für die Arbeiterbewegung. Aber richtig Fuß fasste Vogeler in der Hauptstadt nicht.

Dabei fing alles hoffnungsvoll an. Auch Vogelers junge Familie war in Berlin an seiner Seite: seine zweite Ehefrau Zofia Marchlewska, genannt Sonja, kommunistische Aktivistin und Tochter von Julian Marchlewski, einem Vertrauten Lenins und Rosa Luxemburgs, und ihr gemeinsamer Sohn Jan. Die Familie konnte die „primitive Notwohnung“ in Lichterfelde, wie Vogeler in einem seiner Briefe schrieb, gegen ein „winziges Häuschen“ in der gerade erbauten Neuköllner Großsiedlung Britz des Architekten Bruno Taut tauschen.

Heute ist die als Hufeisensiedlung bekannte Anlage des sozialen Wohnungsbaus Unesco-Weltkulturerbe. Im Mai 1927 zog das frisch verheiratete Paar mit dem dreijährigen Jan in eines der Reihenhäuser in der Onkel-Bräsig-Straße ein. Eine silberfarbene Gedenktafel ziert heute das Haus. Fast täglich komme ich daran vorbei. Wie Vogeler gebürtig aus Bremen, hat es mich in die Hufeisensiedlung verschlagen. Der Künstler begleitet mich seit meiner Kindheit. Meine Patentante, die inzwischen verstorbene Kunsthistorikerin Rena Noltenius, hat über Vogeler promoviert.

Der Barkenhoff, heute das Heinrich-Vogeler-Museum in Worpswede
Der Barkenhoff, heute das Heinrich-Vogeler-Museum in Worpswedeimago/imagebroker

Neubeginn in Britz

„Kirgisische Steppe“ – so bezeichnete Sonja Marchlewska den Garten des Reihenhauses in ihren Lebenserinnerungen. Zur anfänglichen Freude über den Umzug nach Britz mischten sich bald erste Missstimmungen. Marchlewska berichtete von spießigen Nachbarn mit „blühenden Rabatten“. Einige von ihnen hätten feindlich auf die kommunistische Gesinnung des Paares reagiert und die Nase über deren sandiges, baumbewachsenes Grundstück gerümpft.

Dabei lebten in der Siedlung auch andere Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten oder Anarchisten wie der Dichter Erich Mühsam. Mit ihm und seiner Frau freundeten sich Vogeler, der bald den Spitznamen „Mining“ trug, und Marchlewska an. Aber nach Jahren in der Kommune Barkenhoff (1919–1923), in der Vogeler politisch Gleichgesinnte um sich geschart und eine landwirtschaftlich-handwerkliche Wirtschaftsgemeinschaft aufgebaut hatte, waren die Berliner Jahre von wirtschaftlichen Nöten, fluktuierenden sozialen Beziehungen, Rastlosigkeit und zeitweise Ratlosigkeit geprägt.

Ein roter Faden blieb in dieser unruhigen, wechselvollen Zeit vor allem seine politische Aktivität: Im Jahr 1924 begründete Vogeler gemeinsam mit Clara Zetkin und Wilhelm Pieck die Rote Hilfe Deutschlands (RHD), eine der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) nahestehende Hilfsorganisation. Im selben Jahr trat Vogeler auch der KPD bei.

Portrait des Malers Heinrich Vogeler, 1924
Portrait des Malers Heinrich Vogeler, 1924CC-BY-SA-4.0

Vogelers weltanschauliche und künstlerische Neuorientierung vom „Märchenprinzen zum Sozialrevolutionär“ hatte bereits viele Jahre zuvor eingesetzt. In seiner Jugendstilphase ab den 1890er-Jahren hatte der Künstler mit romantisch anmutenden Bildern von Elfen, Rittern und Prinzessinnen Bekanntheit erlangt, mit Blumenmotiven verzierte Möbel und Geschirr erschaffen und die Güldenkammer im Bremer Rathaus zu einem herausragenden Jugendstil-Ensemble gestaltet.

Aber auch der frühe Vogeler war nie nur Träumer gewesen, sondern immer auch Visionär: „Von Anbeginn verfolgt Vogeler seine ‚Lebensidee‘, um sich herum ein Stück guter und gerechter Wirklichkeit herzustellen und sich selbst zum Teil eines solchen wohlgefügten Kosmos zu machen“, so der Vogeler-Kenner Bernd Stenzig. Vogeler wollte die Gesellschaft mit seinen Künsten verändern.

Ab 1906 erlebte er auf Reisen die soziale Not vieler Arbeiter und entwarf in der Folge Arbeiterhäuser und sogar eine Gartenstadtsiedlung für Arbeiter – wenn auch kaum etwas davon umgesetzt wurde. Während des Ersten Weltkrieges machten ihn die erlebten Grausamkeiten an der Front zum glühenden Pazifisten und bewegten ihn 1918 zu seinem bekannten Friedensappell an den Kaiser. Er nahm 1918/19 an der Novemberrevolution teil und setzte sich fortan für eine sozialistische Volksrepublik, eine klassenlose Gesellschaft ohne kapitalistische Herrschaftsstrukturen ein.

Mit dem politischen Gesinnungswandel einher ging eine veränderte Kunstauffassung: Dazu gehörte die Zerschlagung der „bürgerlichen Kunst“, die Auflehnung gegen die alte wilhelminische Ordnung. Die Vision dieses „politischen Expressionismus“ war es, eine Weltgemeinschaft zu schaffen und einen veränderten Menschentypen, der „Neue Mensch“.

Ab 1918 tauchte erstmals das kristalline Element in Vogelers Bildern auf. Das Kristall sollte die Grundstruktur seiner Komplexbilder werden, auf denen er unterschiedliche Szenen, häufig aus dem sozialistischen Alltag, prismaartig vereinte. Dabei verfolgte der Künstler, wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb, eine „agitatorisch-propagandistische Form zu finden, die unserer Arbeiterschaft einen möglichst umfassenden Einblick in das Werden der sozialistischen Gesellschaft nach der großen Oktoberrevolution geben sollte.“ Seine Motive fand der Maler auf ausgedehnten Reisen nach Moskau und in andere Sowjetrepubliken, zum Teil im Auftrag der Roten Hilfe.

Heinrich Vogeler: Baku (Komplexbild), 1927, Öl auf Leinwand, Neue Nationalgalerie
Heinrich Vogeler: Baku (Komplexbild), 1927, Öl auf Leinwand, Neue NationalgalerieCC-BY-SA-4.0

Außenseiter in der Berliner Kunstszene

Mit seiner politischen Kunst konnte der Maler aber nicht an die früheren Erfolge anknüpfen. Vogeler nahm in Berlin lediglich an einer Handvoll Ausstellungen teil: darunter 1925 im Karl-Liebknecht-Haus, 1927 im Landesausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof sowie im Gartensaal der Kindl-Brauerei.

Auf Empfängen trafen Vogeler und Marchlewska auf Persönlichkeiten wie Käthe Kollwitz, Erwin Piscator, George Grosz, Otto Dix, Heinrich Zille. Intensivere Kontakte zu anderen Künstlerinnen und Künstlern kamen aber nicht zustande. „Letztendlich war Vogeler in Berlin wohl doch ein Außenseiter, der wenig mit der aktuellen Kunstszene zusammentraf“, so die Einschätzung von Rena Noltenius.

Kontakte ergaben sich eher auf politischer Ebene: So engagierte sich Vogeler im Reichsverband Bildender Künstler Deutschlands (RBKD), der unter anderem Künstler in wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten unterstützte. Auch Max Pechstein oder Bruno Taut waren hier Mitglieder. Innerhalb des Verbandes schuf Vogeler gemeinsam mit dem Maler Franz Edwin Gehrig-Targis eine kommunistische Fraktion, aus der schließlich 1928 die Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands, abgekürzt ARBKD oder ASSO, die bedeutendste Organisation kommunistischer Künstler in der Weimarer Republik, hervorging.

Republikweit Aufsehen erregte Vogeler in künstlerischen und intellektuellen Kreisen 1927 mit seinem „Aufruf an die deutschen Künstler“ zur Verteidigung seiner Wandmalereien im Worpsweder Barkenhoff. Das ehemalige Bauernhaus, von Vogeler zu einem Jugendstil-Gebäude umgestaltet, hatte der Künstler Jahre zuvor als Stiftung an die Rote Hilfe verschenkt, damit daraus ein Kinderheim entstehen konnte.

Vogeler sendete den Hilfsappell, nachdem lokale Behörden gegen die Ölmalereien in der Diele des Barkenhoffs vorgehen wollten. Das RHD-Kinderheim war ihnen ein Dorn im Auge, es galt als Hort staatsfeindlicher Gesinnung. Bekannte Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille, Thomas Mann oder Herrmann Hesse solidarisierten sich mit Vogeler und konnten zumindest einen Kompromiss erringen: Teile der Malerei wurden mit einem Vorhang verdeckt. Unwiederbringlich zerstört wurden die Fresken dann allerdings im Nationalsozialismus.

Heinrich Vogeler: Hamburger Werftarbeiter, 1928
Heinrich Vogeler: Hamburger Werftarbeiter, 1928CC-BY-SA-4.0

Lebenskrise braut sich zusammen

Existenzängste quälten Vogeler in Berlin immer wieder. Um die Familie über Wasser zu halten, trat er im Sommer 1927 eine Stelle im Büro für Ausstellungsarchitektur und Reklamezeichnungen, „Die Kugel“, an. „Morgens 8 Uhr aus dem Haus. 10–12 Uhr abends zurück“, so erinnerte sich Vogeler. Er entwarf Plakate sowie Ausstellungsstücke für Industrieunternehmen und fertigte sie auch an.

Dazu zählte die Herstellung von aufwändigen Dioramen, Schaukästen mit Modellfiguren und -landschaften – etwa eines für „Kaisers-Kaffee-Geschäft“, das den gesamten Produktionsprozess des Kaffees illustrierte. Aber der Verdienst in dem Büro war eher gering. Auch die wenigen Bilder ohne politische Botschaft, die in dieser Zeit entstanden, ließen sich nicht verkaufen. Werbe- und Grafikaufträge der Roten Hilfe waren nicht besonders einträglich.

Sie brachen ganz ein, als Vogeler mit der KPD aneckte. Vogeler orientierte sich mittlerweile am rechten Flügel der Partei, der angesichts der faschistischen Gefahr für eine Einheitsfront aller linken Kräfte eintrat. Dieser Konflikt führte auf dem Reichskongress der RHD im Oktober 1928 zu Vogelers Ausschluss aus der Partei und ebenfalls aus dem Zentralvorstand der RHD. Eine Reihe von Freunden und Kollegen wandten sich von ihm ab. Er werde mit „Dreckkübeln“ beworfen, schrieb Vogeler.

Derweil wuchsen im Britzer Reihenhäuschen die Schwierigkeiten in der Ehe mit Marchlewska, die zudem eine Liebesbeziehung zu einem gemeinsamen Freund des Paares begonnen hatte. „Alles in mir sträubt sich, in das Haus zurückzukehren“, schrieb er. Zur Ablenkung stürzte er sich in seine Arbeit im Architekturbüro. Hier kam er bald seiner Kollegin Ursula Dehmel näher. Es entwickelte sich eine Beziehung. 1929 lebte Vogeler einige Monate bei ihr im Grunewald.

Zugleich reifte in ihm weiter die Idee, für immer in die Sowjetunion zu gehen. Die Gelegenheit dazu erhielt er im Jahr 1931 bei der Ausstellung seiner Bilder in Berlin in der sowjetischen Handelsvertretung: Ein Mitstreiter Lenins bot ihm eine Stelle als Architekt für landwirtschaftliche Gebäude und Anlagen an. Vogeler nahm an: für ihn auch eine Möglichkeit, sich aus der Lebenskrise zu flüchten oder ‒ dies ist eine andere Sicht ‒ entschieden seinen Weg zu gehen.

Gemälde links: „Die Geburt des neuen Menschen“ von Heinrich Vogeler
Gemälde links: „Die Geburt des neuen Menschen“ von Heinrich Vogelerepd/Kay Michalak

In Moskau begann eine neue intensive Schaffensphase des inzwischen 59-jährigen Künstlers. Aber seine Hoffnung, in der neuen Heimat die von ihm ersehnte bessere Welt zu finden, erfüllte sich nicht. Zehn Jahre später, mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Jahr 1941, wurde Vogeler wie viele andere deutsche Künstler und Intellektuelle nach Kasachstan deportiert. Im Jahr darauf starb er nach entbehrungsreichen Monaten schwer krank im Hospital eines Arbeitslagers im Norden des Landes.

Anja Viohl ist vor einigen Jahren mit ihrer Familie aus dem hippen Nord-Neukölln in die Britzer Hufeisensiedlung gezogen und hat hier, anders als Heinrich Vogeler, Wurzeln geschlagen. Die Historikerin und ausgebildete Journalistin arbeitet heute als Referentin bei einem Verband.

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