Ausstellung

„Leseland DDR“: Eine schmerzliche Liebesgeschichte

Die Leidenschaft der DDR-Bürger für Bücher ist belegt. Wie viel ihnen verwehrt blieb, auch. Eine Ausstellung versucht einen Rundblick über ein großes Thema.

Ein Bild aus der Ausstellung: In einer Kleingartenanlage in Pankow ist eine Rentnerin 1986 in die Lektüre des Buches „... stärke deine Brüder“ von Papst Johannes Paul II. vertieft, das 1982 im katholischen St. Benno Verlag in Leipzig erschienen war.
Ein Bild aus der Ausstellung: In einer Kleingartenanlage in Pankow ist eine Rentnerin 1986 in die Lektüre des Buches „... stärke deine Brüder“ von Papst Johannes Paul II. vertieft, das 1982 im katholischen St. Benno Verlag in Leipzig erschienen war.Günter Bersch/Bundesstiftung Aufarbeitung

Es war nicht alles schlecht. Wenn im Rückblick über angenehme Aspekte des Lebens in der DDR gesprochen wird, fällt den Rednern das Wort „Leseland“ sicher nicht zuerst ein. Doch irgendwo nach den Kindergartenplätzen oder Polikliniken mag auftauchen, dass man sich damals mehr für Literatur interessierte. Nur die langweiligen Zeitungen erschienen in ausreichender Auflage und das Internet gab es bekanntlich noch nicht. Es hat sich sogar noch in den ersten Jahren nach der deutschen Vereinigung in Umfragen gezeigt, dass mehr Leute im Osten als im Westen regelmäßig Bücher lasen. Inzwischen hat sich die Lesebegeisterung auf niedrigerem Niveau angeglichen. Eine Ausstellung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur widmet sich jetzt dem Mythos vom „Leseland DDR“.

Die erste Station ist die Mittelpunktbibliothek Alte Feuerwache Treptow gleich beim S-Bahnhof Schöneweide, ein viel besuchter Ort, wie die Leiterin des Fachbereichs Bibliotheken von Treptow-Köpenick Janin Präßler am Mittwochvormittag zur Ausstellungseröffnung sagte. Die Berliner Bibliotheken seien die meist nachgefragten Kultureinrichtungen in der Stadt: Im vergangenen Jahr gab es knapp vier Millionen Besucher und 19 Millionen Entleihungen – vor allem von Büchern aus Papier. Präßler hat sich für das Thema speziell erkundigt und bietet einen kleinen Ost-West-Vergleich: „,Der geteilte Himmel‘ von Christa Wolf wurde in den vergangenen Jahren mindestens genauso stark nachgefragt wie ,Die Blechtrommel‘ von Günter Grass.“

Das Fenster zur Welt

Auch der Historiker Stefan Wolle ist zu Gast, er hat die Schau konzipiert. Er wird nach seinem Lieblingsbuch gefragt, will aber gar nicht von sich sprechen. „Es gab in der DDR zwischen den Menschen und Büchern eine große und lange Liebesgeschichte“, sagt er. „Literatur war unser Fenster zur Welt, zu anderen Gedanken und Ideen, aber ...“ Er hat dann eine ganze Reihe von Abers zu setzen, und das versucht er mit der Ausstellung auch.

Sommer 1963. Irgendwo an der Ostsee. Eine Frau liest die 1962 in der DDR veröffentlichte Übersetzung des sowjetischen Romans „Schlacht unterwegs“ von Galina Nikolajewa. Ein Bild aus der Ausstellung „Leseland DDR“.
Sommer 1963. Irgendwo an der Ostsee. Eine Frau liest die 1962 in der DDR veröffentlichte Übersetzung des sowjetischen Romans „Schlacht unterwegs“ von Galina Nikolajewa. Ein Bild aus der Ausstellung „Leseland DDR“.Kurt Schwarz

Sie ist in knackig-kurze zwanzig Kapitel unterteilt, deren Titel wie „Der Schwur von Buchenwald“, „Märchenwelten“, „Wir kochen gut“ oder „Zwei deutsche Literaturen?“ schon die riesige Bandbreite des Themas und auch Probleme andeuten. Im Vielleserland gab es eine große Buchproduktion (6500 Titel pro Jahr mit einer Gesamtauflage von 150 Millionen Exemplaren in den 80er-Jahren), in der DDR wurde in den Verlagen äußerst sorgfältig am Lektorat und an Übersetzungen gearbeitet, entstanden buchkünstlerisch wertvolle Klassikereditionen, aber es herrschte zugleich Zensur. „Auch wenn die offiziell nicht so hieß“, wie Wolle auch in dem Gespräch zur Eröffnung anmerkte.

Etliche Bücher einheimischer Autoren wurden verhindert. Wer Glück hatte, konnte im Westen veröffentlichen, was oft mit Repressionen verbunden war. Manche der Bücher, harmlos in Packpapier eingeschlagen, fanden über Besucher ihren Weg zurück zum eigentlichen Publikum. Wer dazu mehr wissen will, muss nach den Stichworten weiterrecherchieren, die in der Ausstellung auftauchen. Warum wurde Erich Loests Roman „Der vierte Zensor“ im West-Rundfunk vorgelesen? Damit er seine Leser im Osten wenigstens akustisch erreichte. Exemplarisch geht es unter dem Stichwort „Realismus contra Realität“ um Werner Bräunig, der an der vernichtenden Kritik auf dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees 1965 zerbrach. Sein grandioser Roman „Rummelplatz“ konnte erst 2007 aus dem Nachlass erscheinen, unvollendet.

Die Wünsche wurden kaum erfüllt

Und auch von zahlreichen Titeln, deren Veröffentlichung möglich war, so von Volker Braun oder Christa Wolf, Günter de Bruyn oder Maxie Wander, gab es einfach zu wenige, während die Bücher manch linientreuer Autoren Ladenhüter blieben. Ein faksimiliertes Schreibmaschinenblatt in der Ausstellung gibt eine Besucherbefragung im Volksbuchhandel der DDR aus dem Jahr 1983 wieder – ein seltenes Dokument aus dem Staatsarchiv Leipzig. Die Zahl der Kunden in den Buchhandlungen wuchs beträchtlich: Waren es 1975 noch 18.036 Besucher in zwei Tagen, wurden 1983 bereits 15.900 Kunden in vier Stunden gezählt. Fast die Hälfte von ihnen kam mit einem bestimmten Kaufwunsch, doch nur 16 Prozent „bekamen ihren konkreten Kaufwunsch erfüllt“.

Lesesaal des Instituts für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin am 17. November 1989: Der Giftschrank existiert nicht mehr. Ein Bild aus der Ausstellung.
Lesesaal des Instituts für Marxismus-Leninismus in Ost-Berlin am 17. November 1989: Der Giftschrank existiert nicht mehr. Ein Bild aus der Ausstellung.epd

Heidrun Klinkmann, die eine katholische private Buchhandlung in der Oranienburger Straße in Berlin führte, erzählt in einem Filmschnipsel, wie schwer es war, an bestimmte Titel zu bekommen. Denn das gehört auch zur Ausstellung: eine Erweiterung in den digitalen Raum. In 21 Video-Interviews, abrufbar via QR-Code, erzählen Zeitzeugen aus den verschiedenen Bereichen, passend zu den Etappen. Für die Anfangsjahre spricht zum Beispiel die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ines Geipel, die zusammen mit dem 2020 verstorbenen Joachim Walther das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR aufgebaut hat. Sie sagt: „Das Widerständige war sehr viel stärker, als wir heute wissen.“

Die Ausstellung bietet einen knappen Rundumblick. Pro Plakat hatte Stefan Wolle nur 1000 Zeichen zur Verfügung – in die Verhältnisse der Berliner Zeitung übersetzt, ist das ein Drittel einer Textspalte. Hinzu kommen sechs bis acht Fotos pro Blatt, nicht nur die üblichen Schriftstellerköpfe, sondern ungewöhnliche Ansichten von Bibliotheken, Buchläden, von der Leipziger Messe und auch ein Tisch mit von der Staatssicherheit gesammelter unerwünschter Literatur. „Leseland DDR“ ist keine Ausstellung, wie sie üblicherweise in Museen oder Galerien hängt. Sie lässt sich, dem Prinzip der Stiftung Aufarbeitung folgend, ohne viel Aufwand in jedem Schulflur, jeder Hochschulmensa oder jedem Bibliotheksvorraum unterbringen. Die zwanzig Poster im Format DIN A1 kann man für 30 Euro bestellen, Begleitmaterial für Schulen gibt es auch. Die ersten 500 Plakatsätze sind schon verschickt, quer durch Deutschland.

Bücher aus DDR-Verlagen, ausgewählt von der früheren Ministerpräsidentin Thüringens Christine Lieberknecht.
Bücher aus DDR-Verlagen, ausgewählt von der früheren Ministerpräsidentin Thüringens Christine Lieberknecht.Ausstellung Leseland DDR: Bundesstiftung Aufarbeitung

In der Bibliothek in Schöneweide ist derzeit noch parallel eine zweite Schau zu sehen, die eine spezielle Leserleidenschaft herausgreift: „Science Fiction in der DDR“. Sie ist von ostdeutschen Fanclubs des Genres erarbeitet worden und zeigt eine spezielle Form der Flucht aus den Verhältnissen mit Publikationsgeschichten und Fan-Magazinen.

Leseland DDR, bis 4.10., Mittelpunktbibliothek Alte Feuerwache Treptow, Michael-Brückner-Straße 9, Infos zur Bestellung der Poster: www.leseland-ddr.de