Jan Faktor ist ein in Prag geborener Prenzlauer-Berg-Dichter aus jüdischer Familie. Seine schriftstellerische Karriere begann als experimenteller Poet in Ost-Berlin, wohin er in den 1970er-Jahren wegen der Liebe gezogen ist. Nach einigen Gedichtbänden und seinem etwas schmalen Prosa-Debüt „Schornstein“ erschien 2010 der furiose autofiktionale 640-Seiten-Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“. Außerdem arbeitet er als Nachdichter und Übersetzer. Nach langer Pause und einer tiefen Krise, die 2012 durch den Freitod seines 33-jährigen Sohnes ausgelöst wurde, erscheint nun sein neuer Roman „Trottel“, in dem der titelgebende Erzähler bestens gelaunt über und um sein Leben salbadert, pöbelt und witzelt – und trotz vieler Abschweifungen und Fußnoten-Arabesken immer wieder in den katastrophalen Glutkern abstürzt: zum Tod des Sohnes.
Herr Faktor, Sie haben einen autobiografisch inspirierten Roman geschrieben – mit dem Titel „Trottel“. Ist das eine Selbstbeschimpfung?
Nein. Für mich hat das Wort „Trottel“ nichts Böses. Im Hinterkopf habe ich im Moment nur das nebensächliche Problem, dass es im Tschechischen keine adäquate Entsprechung gibt. Wenn man „blb“ oder „pitomec“ nehmen würde, wäre das zu abwertend. Da fehlen die Nuancen ins Positive, da fehlt die Zuneigung, die ein Trottel verdient.
Etymologisch kommt Trottel von einer Gangart, von trotten, also trampeln, wobei ein Trampel ja wieder was anderes ist.
Mir ist nur wichtig, wie so ein Wort bei mir emotional ankommt. Der Trottel ist nicht ganz so helle, ist aber nett. Und nett zueinander zu sein, das ist doch das Allerwichtigste. Mein Trottel spricht das im Buch mehrmals an.
Würden Sie sich selbst auch als Trottel bezeichnen?
So weit geht das nicht. Ich habe mit der Trottelfigur jemanden gefunden, den ich auch wirres Zeug labern lassen kann, also alles Mögliche, das mir selbst durch den Kopf geht. Aber die Figur entspricht mir natürlich in Teilen. Ich neige dazu, mich bei Sportunfällen zu verunstalten, bin kein theoretisch denkender Mensch, mache keine großen Zukunftspläne und trottele so durchs Leben. Wenn man den Anspruch aufgibt, überall durchzusehen, fällt von einem auch viel Schwere ab.

Warum haben Sie keine autobiografische Heldengeschichte geschrieben, wenn man es sich schon aussuchen kann …
Das wäre doch peinlich. In meiner Familie nahm man sich vorsichtshalber auch nicht allzu ernst. Wenn man dauernd mit dem Anspruch herumlaufen würde, die anderen sollten einen unbedingt ernst nehmen und – bitte, bitte – mit möglichst viel Würde behandeln, würde man sich nur abhängig machen. Wer das trotzdem versucht, ist zu ewigen Qualen verurteilt. Auch eins der Themen meines Trottels – danke für die Frage.
Es ist nicht das erste Mal in Ihrem Werk, dass eine Art Trottel zu den Lesern spricht.
Mir liegt die Ich-Form aus vielen Gründen, und man bewegt sich mehr in der gesprochenen Sprache. Meine frühere Figur Georg war auch stark vertrottelt. Bei einigen späteren Anläufen, eine waschechte Trottelfigur zu schaffen, bin ich aber gescheitert. Dieser Mensch war leider leicht verbittert: Ich armes Würstchen. An der neuen positiven Haltung, also an meinem gut gelaunten Trottel, habe ich dann innerlich etwa zwei Jahre gearbeitet, bis ich losschreiben konnte.

Mit 17 Jahren, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, lebte er zwei Jahre in der Hohen Tatra, arbeitete seit 1973 als Informatiker in Prag und nach seiner Übersiedlung nach Ost-Berlin 1978 als Kindergärtner, Schlosser und bei einem Geräte-Reparaturservice.
Er gehörte zur Dichterszene in Prenzlauer Berg, schrieb mit an dem Aufruf des Neuen Forums und arbeitete für die Zeitung Die Andere.
Sein Prosadebüt „Schornstein“ erschien 2006, 2010 folgte „Georgs Sorgen um die Vergangenheit“, das für den Preis der Leipziger Buchmesse und den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Sein neuer Roman „Trottel“ erscheint am 8. September im Verlag Kiepenheuer und Witsch, 400 Seiten kosten 24 Euro. Buchpremiere ist am 28. September im Pfefferberg-Theater mit dem Autor und dem Schauspieler Boris Aljinovic, Karten und Informationen unter www.kiwi-verlag.de
Die gute Laune hält ihn aber nicht vom Meckern ab, zum Beispiel über die DDR.
Ja, er meckert, aber er jammert nicht. Und er meckert mit so etwas wie Zuneigung, vielleicht sogar mit Liebe. Anders gesagt: Ich persönlich habe in der DDR Erfahrungen gemacht, die ich nicht missen möchte. Jedenfalls ist die Meckerei im Buch nicht nur böse. Wobei viele, die die DDR eher in leuchtender Erinnerung haben, beim Lesen wüten werden, fürchte ich.
Wenn sich der Autor hinter dem Trottel versteckt, zieht Ironie in den Text ein.
Ich brauche die Ironie, den Witz. Als ich noch experimentelle Poesie schrieb, war das nicht anders. Ich habe zu Ostzeiten kaum veröffentlicht, und so waren Wohnungslesungen die eigentliche Möglichkeit, mich und die Wirkung der Texte auszuprobieren. Für mich war es immer ein Zeichen, dass ein Text funktioniert, wenn die Leute gelacht haben. Und wenn man sich dabei auch selbst gut amüsiert, hat man einiges doch ganz gut verarbeitet, etwas überwunden. Der ganz ernste Kern darf aber auf keinen Fall fehlen. Dank der Ironie kann man außerdem wunderbar übertreiben, Dinge auch wieder zurücknehmen. Mit Vorsicht oder Feigheit hat das aber nichts zu tun, die Spielräume sind einfach größer.
Aber die Ironie hat Grenzen.
Ja, im „Trottel“ gibt es auch ganz ernste Kapitel. Wenn der Trottel über den Suizid seines Sohnes spricht, wird der Ton anders. Und ich betreibe dort zur Auflockerung auch keine Wortspiele.
Dieser Ernst schlägt beim Lesen umso heftiger ein. War dieser Kontrast literarische Absicht oder hat sich das einfach so ergeben?
Es hat sich intuitiv aus der Grundhaltung ergeben. Und diese steckt im Grunde zusammengefasst in den beiden Sätzen vom Titelblatt: „Was ist der Grund für meine gute Laune? Einfach alles.“ Diesen Spruch habe ich mindestens ein Jahr lang auf einem Zettel mit mir herumgetragen. Und ich wusste, dass daraus etwas werden könnte. Mit dem Schreiben anzufangen, war aber ein Problem. Wenn ich beim ersten Anlauf scheitern sollte, hätte mir auch eine egal wie schön formulierte Haltung nicht geholfen.
Irgendwann ging es dann aber doch.
Das war, als ich 2018 eine Stadtschreiberstelle in Rheinsberg bekommen habe. Da hatte ich keine Wahl und musste anfangen. Und es ging plötzlich ganz leicht. Aus dieser Zeit stammte auch mein großer Fundus an Notizen. Das meiste habe ich auf dem Rennrad auf mein Diktiergerät gesprochen, abends dann transkribiert. Und mir war von Anfang an klar, dass es bei der ganzen Trottelei unmöglich wäre, den Tod meines Sohnes auszusparen. Als ich in die Rheinsberger Wohnung am Schloss einzog, hatte ich keinen Plan, von einer Struktur und Ähnlichem gar nicht zu sprechen. Der Tod ist mir dann aber gleich auf der ersten handgeschriebenen Seite reingerutscht.
Es ist keine Biografie, aber der reale Schmerzpunkt dieses Buches ist der Freitod des Sohnes. Hat es geholfen, darüber zu schreiben?
Ich habe eine ganze Weile nach 2012, als ich dann wieder arbeiten konnte, erst mal meinen „Georg“-Roman ins Tschechische mitübersetzt, ein Drehbuch geschrieben – und später gemeinsam mit meiner Frau an einer wichtigen Nachdichtung aus dem Tschechischen gearbeitet. Wenn mir die Arbeit am „Trottel“ nur wehgetan hätte, wäre daraus wahrscheinlich nichts geworden. Meine Sorge war eher, dass ich nicht wusste, was ich würde überhaupt preisgeben wollen. Und gleichzeitig war mir nicht klar, ob das Material, also das bruchstückhaft Erinnerte, reichen würde. Alles kam dann ganz anders. Für lange Kapitel reichten oft nur einige Erinnerungssplitter, kleine Blitzaufnahmen von Szenen – der Text wuchs von Innen sowieso wie von selbst. Alles, was für die Geschichte wichtig war, ist jetzt im Grunde drin, geboren mehr oder weniger aus Splittern. Was der Trottel alles an Blödsinn nebenbei auch noch erzählt, verwässert einfach pfiffig alles, was nicht ganz so tragisch rüberkommen soll.
Hat es Ihnen geholfen, den Sohn auch als Trottel zu bezeichnen?
Das wollte ich auf gar keinen Fall, im Text ist es nur an einer einzigen Stelle passiert, gleich vorne eben. Aber in der Haltung steckt natürlich auch Wut … bringt sich einfach um, dieser Trottel. Auch wenn ich wusste, wie krank er war. Aber bei der Geschichte hatte ich sowieso keine große Wahl: Es gibt diesen Trottel, der Glück hat und es schafft zu leben, und dann kommt der zweite Trottel auf die Welt, der es nicht schafft. Aber dieser Tod ist im Buch die ganze Zeit präsent, egal, wie albern es dort zugeht.
Für mich entsteht dank der Schilderungen der Beziehung eine große Nähe. Die seelische Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ist alles andere als selbstverständlich. Wie haben Sie das beim Schreiben erlebt, als Sie sich zum Beispiel in die lange zurückliegenden Streitigkeiten mit Ihrem Sohn hineinversetzt haben? Es liest sich, als wäre die Wut noch lebendig – und darin steckt ja ein Trost, weil damit auch der Sohn lebendig wird.
Das war harte Feinarbeit. Ich habe es irgendwann aber aufgegeben, die Konflikte in Dialogform wiederzugeben. An einer Stelle zerpflücke ich dafür, um die Streitlogik exemplarisch vorzuführen, einen Absatz aus Adornos „Ästhetischer Theorie“. So konnte ich ein bisschen wegkommen von irgendwelchem zu realen Kleinkram. Aber eigentlich bedeutete jedes Kapitel viel Arbeit. Erst lief es immer ganz leicht, bis dann das fummelige zweite, dritte, vierte, fünfte Lesen und Korrigieren dran war. Und beim nächsten Durchgang längerer Blöcke oder des ganzen Manuskripts wieder das gleiche Spiel. Der liebe Trottel behauptet allerdings, alles gleich in die Schreibmaschine getippt zu haben.
Wie kommt das Buch in der Familie an?
Nicht ganz ohne eine gewisse Eintrübung, vorsichtig formuliert. Einigen passt einfach der alberne Ton nicht, außerdem die etwas zwanghaften Neologismen, die „unnötigen“ Fußnoten; und auch die Abschweifungen, die oft gar nichts damit zu tun haben, worum es eigentlich geht.
Sie widmen den Roman Ihrer Frau und raten ihr in der Danksagung gleichzeitig davon ab, das Buch zu lesen. Hat sie es doch gelesen?
Ja, aber erst, als es gedruckt war. Und das Buch ist ihr nach wie vor unheimlich. Sie ist aber sehr tapfer. Und nimmt vieles, was ihr wehtut, klugerweise als Literatur.
Nehmen Sie Rücksicht darauf, dass Ihre Literatur im privaten Gebrauch, was ja im Prinzip Zweckentfremdung ist, Kränkungen und Verletzungen verursachen kann?
Ja und nein. Ich muss mich beim Schreiben frei fühlen. Dabei habe ich den kleinen Vorteil, dass meine Frau aus einer Schriftstellerfamilie kommt und diese Art von Kränkungen kennt. Dummerweise helfen einem hier keine egal wie geschickt gestrickten Verfremdungen. Die nahen Menschen kennen alles natürlich auch aus erster Hand und möglicherweise besser. Zum Glück ist das Buch keine Abrechnung, ich greife dort niemanden an, jedenfalls niemanden aus der Familie.
„Trottel“ praktiziert eher das Gegenteil. Die Liebe zu den nahen Figuren ist jeden Augenblick greifbar, auch wenn sie vielleicht verspottet werden. Der größte Spott – aber auch der ist mit Liebe unterlegt – trifft ja den Erzähler selbst. Es gibt eine Szene, bei der die Mutter den psychotischen Sohn sucht, der irgendwo in einem verwinkelten Treppenhaus vor Angst schreit. Sie hört ihn, aber findet den Weg nicht. Sie schildern das wie einen Slapstick und schweifen dann ab zu architektonischen Themen …
Ich habe mich ausführlich mit dem Innenleben der Häuser in der Karl-Marx-Allee beschäftigt, mir sogar Baupläne besorgt. Im Buch habe ich dann die Aufgänge und Gänge aber bewusst etwas anders geschildert, als es real der Fall ist. Es ging mir vor allem darum, die Dramatik auf Umwegen zu beschreiben. Derjenige, der da die ganze Zeit schreit, wird aus der Textmasse herausgehalten. Und der Trottel verzettelt sich dabei in bautechnischen Details. Sonst habe ich den Text aber immer wieder auch rigoros gekürzt, Beschreibungen so knapp wie möglich gehalten.
Was machen Sie mit der familiären Kritik?
Ich war beim Schreiben so streng mit mir, wie ich nur konnte. Irgendwelche falschen Töne wirft mir auch niemand vor.
Es gibt Grenzen der Ironie, gibt es auch Grenzen des Sagbaren? Ihre Mutter war in Auschwitz, hat sie Ihnen davon erzählt?
Aus dem KZ hat sie mir am liebsten nur Anekdoten erzählt – oder eben geschwiegen. Und es gab tatsächlich auch dort Situationen, bei denen sie, ihre Schwester und Mutter lachen konnten. Über einiges hat man natürlich erst nachträglich gelacht, wie beim Erzählen absurder Alltagserlebnisse jeder gerne lacht. Meine Mutter hat es trotz ihrer wiederholten Depressionen geschafft, ein lebendiges, gutes Leben zu führen. Das Erzählen war also auch ein Drüberlachen.
Das tragen Sie weiter?
Vielleicht.
Gute Laune in einer schlechten Welt?
