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Spätestens seit „Wild“ von Nicolette Krebitz aus dem Jahr 2016 hatte man das Gefühl, am hiesigen Schauspielhimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. Lilith Stangenberg spielte damals die Rolle einer IT-Spezialistin, die eine Beziehung mit einem Wolf eingeht und wirkte dabei so zerreißend authentisch, wie man es lange nicht mehr im deutschen Film gesehen hat. Und das tut sie nun auch in ihrem neuen Film „Haltlos“ von Kida Khodr Ramadan, der am 24. Oktober ins Kino kam. In diesem Film spielt sie eine Frau, die schwanger wird und ihr Kind zur Adoption freigibt – und es dann zurückhaben will. Ein Interview mit der Berlinerin über Gefühle, den Sog der Düsternis und grundlegende Probleme des deutschen Kinos.
Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie das Drehbuch von „Haltlos“ zum ersten Mal gelesen haben?
Das war sehr speziell. Ich war gerade mit einem albanischen Film in Sarajevo beim Filmfestival, das wegen eines Mordfalls einen Tag lang unterbrochen werden musste. Nur deshalb hatte ich überhaupt Zeit, das Drehbuch so schnell zu lesen. Ich hatte aber nach dreißig Seiten schon eine sehr bewusste Fantasie davon, wie ich diese Rolle spielen würde; und das, obwohl mir das Drehbuch gar nicht in Gänze gefallen hat. Aber ich habe darin etwas gefunden, das mich total angezogen hat: Dieses bedingungslose Interesse des Drehbuchs an dieser Frau und ihren Konflikt – das hat mich extrem interessiert. Das gibt es ja nicht so oft, dass man so eine bestimmte Energie einen ganzen Film lang verteidigen darf.

Welches sind denn für Sie generell die ausschlaggebenden Kriterien, um sich für oder gegen ein Filmprojekt zu entscheiden?
Zum einen gucke ich, ob ich mich handwerklich dazu in der Lage sehe, eine Rolle zu spielen. Zum anderen geht es darum, ob ich die Rolle spielen will – das ist meist eine sehr instinktive Angelegenheit. Gerade übe ich aber, eine bestimmte Form von Hygiene in meiner Rollenauswahl zu etablieren.

Wie meinen Sie das?
In den letzten Jahren habe ich mich oft mit sehr düsteren Themen beschäftigt. Das kann man natürlich alles in sich reinlassen, aber es muss eben auch wieder raus. Das gelingt einem aber nicht immer, und das tut einem auf Dauer nicht gut. Ich glaube durchaus an Katharsis; an eine Art Reinigung, die wir als Schauspieler stellvertretend für andere übernehmen. Deshalb empfinde ich diesen Beruf auch als so wertvoll, weil wir dadurch die Köpfe und Herzen der Zuschauer öffnen.
Aber gibt es denn wirklich Rollen, die Sie nicht spielen könnten?
Eine Rolle in „Fack ju Göhte“ könnte ich mir gerade nicht vorstellen zu spielen, glaube ich.
Das klingt aber eher so, als ob das mehr mit einer inneren Abneigung und weniger mit dem fehlenden handwerklichen Können zu tun hat, meinen Sie nicht?
Ja, mag sein. Oft ist das ja auch an ein Bauchgefühl gekoppelt, an eine Lust. Und daran, ob ich mich schnell langweilen oder dafür schämen würde. Ich mag ja das Geschmacklose, das Abwegige sehr. Ist mir näher als der gute wohldosierte Geschmack.
Sie haben eben erwähnt, dass Sie zuletzt eher düstere Projekte umgesetzt haben. Woher kam das Bedürfnis dazu?
Ich weiß gar nicht, wann das angefangen hat. Aber irgendwann war das wie ein Sog, der mich immer tiefer mitgerissen hat. Mich hat es immer mehr zu abseitigen Stoffen und Autoren hingezogen; ich habe auch viele Filme geguckt, die eine Reise in die Düsternis skizzieren – viel koreanisches und japanisches Kino, wo man sich ganz anders an Abgründe und Exzesse rantraut als wir das in Europa kennen. Ich habe das regelrecht studiert. Weiß auch nicht, wo das herkam.
Hat Sie dieses Dunkle denn immer schon interessiert?
Zumindest die Dinge, die man nicht immer gleich in Worte packen und rational-mathematisch erklären kann; die man nicht auf Anhieb versteht. Für die Lücken. Auch als junges Mädchen mochte ich immer schon Filme, die mir Freiräume lassen, weil da meine Fantasie und meine Gefühle sprudeln. Ich mag es nicht, wenn alles komplett ausformuliert und einem mundgerecht serviert wird – daran krankt ja auch der deutsche Film. Da wird immer alles komplett ausgeleuchtet, da gibt es keine Schatten, nichts Enigmatisches, wenig Geheimnisse. Den Zuschauern wird sogar eingetrichtert, was sie über den Film zu denken haben. Ich bezweifle aber, dass die Leute das wollen. Deswegen mag ja kaum einer die deutschen Filme.
Kida hatte, nachdem er das Drehbuch gelesen hat, Zweifel, ob er als Mann diese Geschichte einer Frau erzählen kann, in der es eben auch viel um das Verständnis von Weiblichkeit und Mutterschaft geht. Hatte der Umstand, dass er als Mann diesen Film inszeniert hat, einen Einfluss auf Sie?
Bei unserem ersten Treffen hat er mir gesagt, dass er fünf Töchter habe und ihn dieses Drehbuch deshalb so berührt. Für mich war das ebenfalls ein Thema. Ich bin zwar selbst noch keine Mutter, habe aber sehr viele Schwestern, und da gab es immer irgendeine, die gerade schwanger war oder ein Baby dabeihatte. Naturgemäß hat Kida schon einen sehr männlichen Blick auf meine Figur, stellt sie auf eine Art Sockel. Aber er hat mich wahnsinnig ernst genommen beim Drehen und komplett auf Augenhöhe mit mir gearbeitet, sodass wir zu einer großen Direktheit gelangt sind. Wir kommen beide aus Kreuzberg und ich mag, wie wir dieses komplexe Thema mit dieser Energie der Straße erzählt haben. Mir gefällt dieses Raue daran.
Der Film ist zwar sehr rau, gleichzeitig aber auch aufgeladen mit ganz vielen Gefühlen.
Kida ist Libanese und durch diesen orientalischen Einfluss wahrscheinlich viel weniger verkopft als die meisten Europäer. Der denkt mehr aus dem Bauch heraus, aus dem Herzen. Kida hat keine Angst vor Gefühlen. Durch diese Leidenschaft, die er mitbringt, habe ich mich getraut, sehr weit einzutauchen und aufzumachen und habe zum Teil Zustände gespielt, wie ich es mich noch nie vorher vor einer Kamera getraut habe.
Verändern Sie manche Rollen auch menschlich?
Zumindest insofern, als dass man sich im Schauspiel manchmal Dinge erarbeitet, die man dann auch als Privatperson behält; vielleicht ein Temperament oder eine Dynamik oder eine Haltung, eine Stimmlage, eine Art und Weise zu lachen oder so, die du auf einmal in deinem Vokabular als Mensch übernimmst. Wenn bestimmte innere Türen oder Fenster erst mal geöffnet sind, sind die da, und können schnell wieder aufgestoßen werden.
Inwiefern hat Sie denn die Rolle in „Haltlos“ verändert? Gab es bestimmte Türen, die Sie dadurch aufgestoßen haben?
Spannend war auf jeden Fall, dass sich beim Dreh manchmal die Ebenen vermischt haben. Es gibt eine Szene, in der Martha im Krankenhaus liegt und weint. Ich habe das ganz gut gespielt, dann war Cut und Umbaupause. Plötzlich musste ich aber wieder ganz doll anfangen zu weinen, es ging einfach weiter, aber noch realer. Kida hatte dann den Mut, die Kamera zurückzuholen – und dadurch eine fast unspielbare Not einzufangen. So als hätten sich da die Ebenen verschoben. Deshalb empfinde ich diesen Film als Seelenstriptease.
Gab es mal ein Projekt, aus dem Sie als anderer Mensch rausgegangen sind – oder dass Sie zumindest stark verändert hat?
„Wild“ zu drehen, hat mich fundamental geprägt. Ich wäre heute nicht derselbe Mensch, wenn ich den Film damals nicht gemacht hätte. Das hat mit einer bestimmten Weiblichkeit zu tun, mit einer Purheit, mit einer Nacktheit im emotionalen Sinne, die ich da zum ersten Mal erlebt habe – zumindest in beruflicher Hinsicht. Vorher habe ich ja vor allem Theater gespielt, das ist in der Wirkung ein viel glamouröserer Ort, da wird immer viel maskiert. Bei „Wild“ musste ich aber sämtliche Masken ablegen.
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Als Publikum muss man in „Haltlos“ sehr viel aushalten. Man wird vom Schnitt oft ewig nicht erlöst, die Kamera sieht immer hin, gönnt einem keine Ruhe. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Für mich ist das generell immer eine Art Golgathaweg, mir einen Film von mir anzusehen. Ich war aber ergriffen von diesem Mut; von dem, was da passiert. Martha befindet sich ja in so einem seelischen Reizzustand, in so einer schizophrenen Emotionalität – und sich in so ein großes Gefühl vorzuwagen, das trauen sich halt wenige Filme hier in Deutschland. Ich habe großen Respekt dafür, wenn das Gefühl wichtiger wird als der Verstand.
Daniel Schieferdecker arbeitet seit 15 Jahren als freier Autor für verschiedene Medien wie Zeit Online, Esquire und den Rolling Stone. Er war außerdem drei Jahre lang Chefredakteur von Europas größtem HipHop-Magazin Juice und hat zwei Bücher geschrieben: das chinesische Reisekochbuch „Forever Yang“ und die autorisierte Biografie des Rappers RAF Camora.



