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Jazzmusiker Johannes Barthelmes: „Ich versuche, das Leben zu verstehen“

In den 90er-Jahren war Barthelmes einer der erfolgreichsten Saxofonisten Europas. Im Interview erklärt er, warum er nun nach langer Pause zurückkehrt.

Johannes Barthelmes
Johannes BarthelmesPeter Udo Maurer

Ende der 1990er-Jahre gehörte Johannes Barthelmes zu den großen Tenorsaxofonisten Europas. Doch dann hat man plötzlich nichts mehr von ihm gehört, so blieb es 20 Jahre lang. Nun ist er zurück und präsentiert mit dem neuen Album „pasiòn o muerte“ seine ganze spielerische Bandbreite in der kongenialen Zusammensetzung seiner neuen Band.

Der Jazzkritiker Volker Kriegel schrieb 1997 in der FAZ über Sie, Ihr Tenorsaxofon sei „geil“. Passt dieser Ausdruck?

Das war in einem Artikel zum 28. Deutschen Jazzfestival in Frankfurt. In dem Moment hatte ich damit kein Problem. Vielleicht, weil ich Volker Kriegel wirklich sehr geschätzt habe. Ich selbst benutze das Wort nicht oder nur versehentlich.

Könnten wir vielleicht auch „sexy“ sagen?

Ja. Im Grunde machen wir ja während des Konzertes Liebe auf der Bühne.

Liebe mit anderen Stilmitteln?

Ich propagiere diesen Gedanken sehr. Ich will, dass wir alles rausholen, was es gibt, die größte Liebe, Trauer, Wut, alle denkbaren Gefühle, die möglich sind. Das funktioniert nur auf Augenhöhe aller Beteiligten und mit maximalem Respekt füreinander.

Kommt deswegen für viele Profimusiker die Musik vor der Liebesbeziehung?

Das kommt vor, ja. Viele Musiker fühlen sich schlecht, wenn sie ihr Instrument einen Tag lang nicht angefasst haben. Auf mich trifft das aber nicht zu. Ich habe Zeiten, in denen ich nicht spiele, Liebe und Freundschaft sind mir das Wichtigste überhaupt. Und es gibt ja auch Liebesbeziehungen, in denen die Partner gerade den Anteil Musiker mitlieben und viel Verständnis dafür zeigen.

Wie würden Sie selbst Ihren musikalischen Stil beschreiben?

Ich habe einen großen Anspruch daran, meine Auffassung vom Improvisieren zu verwirklichen. Das geht nicht ohne ein hohes Maß an Risikobereitschaft, ohne Scheu, auch in die Tiefe zu hören und zu gehen. Mal ekstatisch, mal leise. Es ist ein geradezu seelischer Exhibitionismus.

Welche Gefühle haben Sie, während Sie spielen?

Gefühle von Freiheit, Liebe, Spiritualität. Ich spüre eine Geschwindigkeit, die schneller ist, als wenn ich in einer Rakete sitze, und eine intensive seelische und körperliche Verausgabung. Im Idealfall ein Wegschweben. Ich brauche diese totale Energie. Nach meinem Verständnis von Kunst müssen Künstler Poeten sein, die etwas Besonderes zu erzählen haben, das ist für mich sozusagen der „Auftrag“ unseres irdischen Seins.

Fotos von Johannes Barthelmes
Fotos von Johannes BarthelmesJohannes Barthelmes

Wie gehen Sie dabei rein technisch vor?

Das Technische und Intellektuelle muss man zu Hause erledigen. Auf der Bühne aber dann wieder vergessen, um so frei sein zu können, dass man sich zutiefst die Seele aufreißen, alles geben kann. Ich würde mich als Musiker mit dem Handwerk eines Jazzmusikers und dem Herzen eines Rockers bezeichnen.

Zur Person
Johannes „Jo“ Barthelmes wurde 1953 in Speyer (Rheinland Pfalz) geboren und lebt seit vielen Jahren in Berlin-Kreuzberg. Barthelmes studierte an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Graz (Österreich) im Hauptfach Saxofon für Klassik und Jazz. Seit Anfang der 1990er-Jahre leitete er eigene Bands und konzertierte weltweit.

In vielen Jazzstilen ist der Anteil harmonisch-romantischer Melodien ja eher selten. Freie Wildbahn, Austoben ohne Grenzen, eine Grundstruktur, aber wenig Regeln.

Es gibt sehr viele Regeln, zum Beispiel Harmonielehre, Rhythmus, und viel Technik in der Jazzmusik, die man beherrschen muss, um während des Konzerts frei darüberstehen zu können.

Funktioniert dieses „Spiel“ besser mit Männern?

Keinesfalls, zu meinen wichtigsten musikalischen Erfahrungen gehört die Zusammenarbeit zum Beispiel mit der fantastischen Ausnahmeschlagzeugerin Cindy Blackman-Santana oder auch mit der unglaublichen Pianistin und Komponistin Joanne Brackeen!

Warum gibt es international so wenig weibliche Jazzmusikerinnen?

Das ist sicherlich nach wie vor das gesellschaftliche Problem eines noch nicht abgeschlossenen Emanzipationsprozesses.

Wann hört Jazz auf Jazz zu sein?

Wenn es in Technikgeplänkel und Eitelkeiten ausartet.

Wie steht es um das Verhältnis von Leistungsdruck versus Existenzdruck?

Leistungsdruck spüre ich gar nicht, der Existenzdruck hingegen ist immens und zu oft erdrückend.

Foto von Johannes Barthelmes
Foto von Johannes BarthelmesJohannes Barthelmes

Die Kritiker haben Sie in den 90er-Jahren mit den besten Rezensionen überschüttet. Trotzdem haben Sie 20 Jahre nicht gespielt. Warum?

Ich hatte einige Probleme. Es war auch eine wiederkehrende Verzweiflung im Spiel, weil ich nicht bereit war, künstlerische Kompromisse zu machen, nur um vernünftig überleben zu können.

Die Musikgeschichte ist auch eine Geschichte harten Drogenkonsums. David Bowie hatte Angst, dass ihm ohne Drogen Kreativität und Ideen ausgehen würden. Gibt es ohne Drogen keine neuartige Musik?

Nein, das kann man so nicht sagen.

Was hat Sie gerettet?

Ich hatte ja tatsächlich über 20 Jahre exzessiv Alkohol konsumiert, 1990 war damit Schluss. 1999 kam ein großer Bruch in meinem Leben und ich begann zu fotografieren. Die Fotografie hat mich also gerettet. Meine Fotoreisen führten mich u.a. nach Kuba und Indien, auf Kuba habe ich auch länger gelebt. Doch immer, wenn ich mit Musik in Berührung kam, hat es geschmerzt. Ich besaß ja nicht einmal mehr ein Instrument.

Gibt es eine künstlerische Parallele zwischen Ihrer Art, Saxofon zu spielen und zu fotografieren?

Bei meiner Street-Fotografie steht der Mensch im Mittelpunkt. Sie ist in bestimmter Hinsicht meinen Improvisationen im Jazz sehr ähnlich. Bei beiden Künsten, dem Jazz und meiner Fotografie, geht es um das Antizipieren eines Augenblicks und eine extrem schnelle Reaktion. Man muss sich auf sein Gegenüber einlassen können. Beide Richtungen zelebrieren die Unwiederbringlichkeit einzigartiger Augenblicke. Nur, dass die Fotografie die Augenblicke festhalten kann.

In einem Jazzkonzert ist jede Sekunde auch schon wieder Vergangenheit, die nie wiederkommt.

Ja, das ist so toll! Ich werde ja im Herbst 70. Vielleicht deswegen versuche ich, mit meinen Mitteln das Leben zu verstehen. Irgendwie geht es schon um die großen Fragen von Leben und Tod. Warum sind wir hier? Ich spüre das Göttliche, ohne dass ich damit auch nur im Geringsten die Kirche meine.

Das geht nicht, ohne nicht auch den Faktor Vergänglichkeit anzuerkennen. Sie ist das Schöne und das Schmerzhafte gleichzeitig.

Foto vonJohannes Barthelmes
Foto vonJohannes BarthelmesJohannes Barthelmes

Das wäre sie aber auch, wenn wir 200 Jahre leben würden.

Jazz-Improvisationen machen diesen Moment so besonders deutlich.

Für viele Kunstarten gehört die Flüchtigkeit des Moments zum spezifischen Wesen ihrer Kunst. Doch Geschriebenes kannst Du immer wieder hervorholen und nachlesen, Filme und Fotos kannst Du noch mal anschauen. Deine spontanen Improvisationen während eines Livekonzerts aber nicht. Miles Davis hat ja den berühmten Satz gesagt, „Jazzmelodien sind nicht die Melodien, mit denen Du ein Mädchen zum ersten Kuss verführst. Man kann sich ja an die Melodien nicht einmal erinnern!“

Die nächsten Konzerte in Berlin:

4.5.23 um 21.00 Uhr: Johannes Barthelmes Quartett, Jazzclub Schlot

5.5.23 um 20.00 Uhr: Johannes Barthelmes Quartett, Watt in Prenzlauer Berg

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