Open Source

Ist das der Heilige Gral der grünen Energie?

Die derzeitige Euphorie um grünen Wasserstoff ähnelt der von vor 70 Jahren zur Atomenergie – heute wie damals mit großen blinden Flecken. Ein Gastbeitrag.

Ein sogenannter Hydrocracker auf dem Firmengelände der Raffinerie Heide in Schleswig-Holstein: Die deutsche Industrie benötigt bis 2050 432 Terrawattstunden an wasserstoffbasierter Energie, prognostiziert das Institut Agora Energiewende.
Ein sogenannter Hydrocracker auf dem Firmengelände der Raffinerie Heide in Schleswig-Holstein: Die deutsche Industrie benötigt bis 2050 432 Terrawattstunden an wasserstoffbasierter Energie, prognostiziert das Institut Agora Energiewende.Christian Charisius/dpa

Die Euphorie in den Fünfzigerjahren war riesig. Die neue Kernenergie sollte alles möglich machen: Autos, Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge antreiben, die Wüsten begrünen, die Pole sollten zu Urlaubsorten werden. Wirtschaftsminister Ludwig Erhard prophezeite: „Strom werde so billig werden, dass sich Stromzähler nicht mehr lohnten.“

Schnell wurde ein Atomministerium geschaffen und sein erster Minister, Franz Josef Strauß, gab das Ziel vor: 80 Prozent des Stroms wird aus Kernkraft stammen. Bekanntlich kam es anders. Selbst zu Glanzzeiten der zivilen Kernenergie lag hierzulande ihr Anteil am Strommarkt nie über einem Drittel. Jetzt ist er, nachdem die verbliebenen drei Atomkraftwerke abgeschaltet wurden, null. Selbst im Land mit den weltweit meisten Kernkraftwerken, den USA, deckt Atomstrom nur bescheidene 19 Prozent des Gesamtbedarfs ab. Das Märchen vom fast unendlich verfügbaren billigen Strom ist gescheitert an den physikalischen und wirtschaftlichen Realitäten und weil von Anfang an existierende Probleme, wie die Endlagerung, in der Euphorie der Anfangszeit konsequent ausgeblendet wurden.

Nach 70 Jahren aber ist die Euphorie zurück. Geändert hat sich nur das chemische Element: aus Uran wurde Wasserstoff. Genauer gesagt grüner Wasserstoff, der durch erneuerbare Energien hergestellt wird. Martin Daum, der Vorstandsvorsitzende von Daimler Truck, hat erst kürzlich ein eindeutiges Statement zu grünem Wasserstoff auf der firmeneigenen Homepage veröffentlicht. Dort schwärmt er von billigem solaren Wüstenstrom, der fast unendlich für die Produktion von Wasserstoff vorhanden sei. „Energieeffizienz ist kein entscheidendes Kriterium“, behauptet er markig. Das klingt kaum anders als zu Beginn der zivilen Nutzung der Kernkraft, als mithilfe des „kostenlosen Atomstroms“ Meerwasser entsalzt werden sollte, um damit Wüsten zu begrünen.

Eine Entsalzungsanlage für Meerwasser in Torrevieja, Spanien
Eine Entsalzungsanlage für Meerwasser in Torrevieja, SpanienEl Mundo/imago

Wasserstoff und das Problem mit dem Trinkwasser

Apropos Wasser. Leider ist in den Wüstenregionen Nordafrikas und dem Nahen Osten Süßwasser noch immer knapp. Doch wie der Name Wasserstoff vermuten lässt, wird für seine Herstellung vor allem eins benötigt: Wasser. Für ein Kilogramm Wasserstoff, mit dem ein Auto etwa 100 Kilometer weit fahren kann, sind es neun Liter entmineralisiertes Trinkwasser. Das ist jedoch nur die Menge an Wasser, die für den reinen chemischen Umwandlungsprozess vorhanden sein muss. Die ganze Produktionskette der Wasserelektrolyse, vor allem aufgrund der notwendigen Wasseraufbereitung, verbraucht mit 16 bis 20 Litern doppelt so viel Rohwasser – solange Süßwasser aus der Leitung sprudelt! In der Wüste gibt es zwar viel Sonne, die durch Photovoltaik oder Solarthermie (also Sonnenspiegel) Strom produzieren kann, aber kaum Trinkwasser.

Also müsste für die Wasserstoffproduktion Meerwasser entsalzt werden. Denn aufgrund der hohen Stromverluste bei einer Überlandleitung von Nordafrika oder vom Nahen Osten nach Mitteleuropa, muss grüner Wasserstoff dort hergestellt werden, wo der Wüstenstrom produziert wurde. Der Wasser- wie Energieverbrauch einer Meerwasserentsalzungsanlage, die nach dem gängigen Verdampfungsprinzip arbeitet, ist nicht gering. Für 1000 Liter entsalztes Meerwasser werden bis zu 85 Kilowattstunden Energie benötigt. Damit würde ein Elektroauto rund 400 Kilometer weit fahren können. Jedoch liegt die Achillesferse bei der Entsalzung ganz woanders.

Nach der Gewinnung von Süßwasser aus Salzwasser bleibt eine extrem salzhaltige Lauge zurück, die auch noch betriebsbedingt Chemikalien und Schwermetalle enthält. Weltweit sind es heute bereits jährlich mehr als 50 Milliarden Kubikmeter dieser Lauge. Für einen Liter entsalztes Trinkwasser entstehen anderthalb Liter Salzlauge, wie eine Studie der Vereinten Nationen aus 2019 aufgezeigt hat. Innerhalb der EU müsste die hochkonzentrierte Salzlauge aufwendig entsorgt oder in speziellen Anlagen verbrannt werden.

In Kalifornien wurde aufgrund der Laugenproblematik gerade eine geplante Entsalzungsanlage vor Los Angeles und trotz des akuten Wassermangels abgelehnt. In den vier Ländern, die heute mehr als die Hälfte dieser Salzlaugen produzieren – Katar, Kuwait, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – werden die giftigen Schlämme einfach ins Meer gepumpt und dadurch das Ökosystem geschädigt. Im Persischen Golf hat sich seit 1996 der Salzgehalt verdoppelt, wie eine Untersuchung der schwedischen Universität Lund zeigte.

Prognostiziert wird bis 2050 ein Salzgehalt von mehr als dem Vierfachen vom ursprünglichen Wert – und das nur für die Produktion von Trinkwasser für Menschen und Tiere! Genau aber dort, im Nahen Osten, sehen Daimler und andere Unternehmen die fast unendliche Skalierbarkeit von Wasserstoff. Wie empfindlich die Abfalllauge ansteigen wird, wenn nicht nur Trinkwasser für die Wüstenstaaten produziert wird, sondern auch gigantische Mengen an Wasserstoff, sprengt leicht die Vorstellungskraft.

Für Photovoltaikanlagen werden Dörfer abgerissen und Menschen umgesiedelt

Aus wirtschaftlicher Sicht lohnen sich die Entsalzungsanlagen für die Golfstaaten nur deshalb, weil die zwangsläufig entstehende Abwärme bei der Stromgewinnung aus fossilen Brennstoffen genutzt werden kann, um die bis zu 120 Grad, die ein Entsalzer bei der Verdampfungsmethode benötigt, bereitzustellen. Bei einer klimaneutralen Stromproduktion durch Photovoltaik aber fällt dieser Kostenvorteil weg. Und zwar nicht nur für den Export von Wasserstoff, sondern auch für die Produktion des extrem hohen Strombedarfs der Golfstaaten im Inland selber. Denn es wäre nichts gewonnen, wenn Europa grünen Wasserstoff aus den Wüstenstaaten erhält, dort aber nach wie vor fossile Brennstoffe für den Energieeigenbedarf verheizt werden. In Tunesien beispielsweise, das in zwei Jahren mit einem Unterseestromkabel mit Sizilien verbunden werden soll, liegt der Anteil an grünem Strom bei bescheidenen drei Prozent.

Das am 17. März 2013 aufgenommene Foto zeigt die neu in Betrieb genommene Solaranlage Shams 1 in der Wüste von Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate.
Das am 17. März 2013 aufgenommene Foto zeigt die neu in Betrieb genommene Solaranlage Shams 1 in der Wüste von Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate.imago

Und es gibt noch ein weiteres Problem. Befürworter sprechen gerne von einem menschenleeren Wüstengebiet, in dem fast grenzenlos riesige Photovoltaik oder Solarthermieanlagen für Europa gebaut werden könnten – nur befindet sich dort kein Meerwasser für die Wasserstoffgewinnung. Die dafür besser geeigneten Küstengebiete sind aber besiedelt. Der MDR hat recherchiert, dass in den letzten Jahren für Photovoltaikanlagen die ersten Dörfer abgerissen und Menschen umgesiedelt werden mussten.

Auch der Wasserstofftransport nach Deutschland ist nicht ohne Tücke. Eine 5000 Kilometer lange Pipeline von den Golfstaaten bis nach Deutschland wäre teuer und ein großes unternehmerisches Risiko, führe sie doch durch mehrere Krisengebiete. Ein Umstand, den sich kaum ein Industrieland antun wird, solange es eine Alternative gibt: das Schiff. Der Transport von Wasserstoff durch Schiffe besitzt jedoch einen großen Haken: Er benötigt bei gleicher Energiedichte viermal so viel Platz wie Erdöl. Wasserstoff kann allerdings in Ammoniak umgewandelt werden, was abgesehen von zusätzlich notwendiger Energie den Platzbedarf auf „nur“ das Doppelte von Erdöl verringert. Ein Nachteil von hochgiftigem Ammoniak ist, dass er bei einer Schiffshavarie für das marine Ökosystem ähnlich schädlich ist wie das bisher transportierte Erdöl.

Vor- und Nachteile grüner Wasserstoff-Produktion in Deutschland

Würde es sich bei all diesen Nachteilen und dem großen Aufwand nicht lohnen, grünen Wasserstoff in Deutschland herzustellen – dort, wo er benötigt wird? Die Bundesregierung plant maximal 20 Prozent des Bedarfs im Inland zu produzieren. Erneuerbare Energie ist aufgrund der geringen Sonnenintensität und der nur begrenzt verfügbaren Flächen bei uns deutlich teurer. Aber auch der Wasserbedarf wäre groß. Gab es schon Bedenken beim Wasserverbrauch von Teslas Gigafactory bei Berlin, die 1,4 Millionen Kubikmeter im Jahr benötigt, so wäre für die 432 Terrawattstunden (TWh) an wasserstoffbasierter Energie, die das Agora Energiewende Institut als nationalen Bedarf in 2050 prognostiziert, in etwa so viel Wasser notwendig wie 4,7 Millionen Menschen (der ganze Ballungsraum Berlin) verbrauchen: 215 Millionen Kubikmeter.

Windräder eines Windparks bei Wörrstadt in Rheinland Pfalz
Windräder eines Windparks bei Wörrstadt in Rheinland PfalzDaniel Kubirski/imago

Trotzdem wäre die nationale Produktion eines großen Anteils des kompletten deutschen Wasserstoffbedarfs keine Unmöglichkeit. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat Studien zusammengetragen, bei denen bis zu 200 Terawattstunde, also in etwa die Hälfte des wasserstoffbasierten Energiebedarfs in 2050, in Deutschland produziert werden könnten. Allein ein Viertel davon würde Überschussstrom sein, der bei den volatilen erneuerbaren Energien sowieso anfällt. Aufgrund des hohen Wasserbedarfs müsste die Produktion dezentral sein und sich dort befinden, wo keine Wasserknappheit herrscht, aber auch Wasserstoff von der Industrie benötigt würde.

Wasserstoff im eigenen Land herzustellen, wird nicht allen gefallen. Noch mehr Windräder und Photovoltaikanlagen in Deutschland könnten das Wahlvolk verprellen. Auch deshalb setzt die Politik auf den Import von grünem Wasserstoff. Ein wichtiger wirtschaftlicher Aspekt aber bleibt dabei unbeachtet. Wer Wasserstoff in Zukunft herstellen kann, den Champagner der Energiewende, der verdient gutes Geld. Die Wertschöpfung im eigenen Land zu lassen, Risiken durch Energieimporte zu reduzieren, würde dem Technologiestandort Deutschland Wettbewerbsvorteile bringen.

Eines ist jedoch gewiss. Wasserstoff, ob hergestellt in der Wüste oder in Nordrhein-Westfalen, wird ein limitiertes Gut bleiben, mit dem sparsam umgegangen werden muss. Die Energieeffizienz ist dabei der entscheidende Faktor. Auch wenn manche Vorstandsvorsitzenden gerade wieder eine ähnliche Euphorie wie in den 1950er-Jahren verspüren mögen und von grenzenlos verfügbarer billiger Energie träumen, bleibt es eben genau das: ein Traum oder, prosaischer ausgedrückt, eine PR-Aktion, damit vielleicht von eigenen Versäumnissen wie der Effizienzsteigerung abgelenkt werden kann.

Achim Michael Hasenberg ist geboren in Hamburg. Der diplomierte Filmregisseur lebt und arbeitet als freier Dozent in Berlin und gründete 2002 die Filmproduktion Filmband. Mit „I Want To Run“ produzierte er 2011 einen der ersten klimaneutralen Kinofilme.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.