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„Kiefern Sand Karnickel Pleite“ – mit diesem Slogan bezeichneten auch die Einheimischen die feldgraue Ödnis zwischen Pasewalk und Ueckermünde. Außer Armee nichts von Belang. In Drögeheide (Trockenen Heide) verbrachte ich 1,5 Jahre als Bausoldat der Nationalen Volksarmee (NVA).
Die Baueinheiten in der NVA gab es in der DDR auf Druck der Kirchen seit 1964. Die einzige Möglichkeit im gesamten Ostblock, den Dienst mit der Waffe legal zu verweigern. Diejenigen, die auch diesen Kompromiss ablehnten, die Totalverweigerer, mussten mit mindestens 3 Jahren NVA-Gefängnis in Schwedt rechnen.
Für meine Entscheidung als Christ waren zwei Gründe maßgebend. Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Zu dieser grundstürzenden Erkenntnis hatte die Christenheit 2000 Jahre gebraucht. Und das auch erst nach zwei der furchtbarsten Kriege der Menschheit, die dann noch von deutschem Boden ausgingen. Die evangelische Kirche hatte eine Friedensethik formuliert. Und ich hatte einen Bruder im Westen, auf den ich notfalls hätte schießen müssen. Das ging gar nicht.
Den Dienst in den Baueinheiten wählte ich, jung verheiratet und schon Familienvater, wohlwissend, dass mir dann eine „Karriere“ in der DDR verwehrt bliebe. Wir, knapp 60 Bausoldaten, waren als Kompanie einem Baupionier-Bataillon zugeordnet.
Die vierwöchige Grundausbildung war im Unterschied zu jener der „normalen“ Soldaten eher eine sportliche Veranstaltung. Keine Sturmbahn, keine Eskaladierwand. Aber natürlich marschieren, exerzieren, und wieder marschieren.
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Nach der Grundausbildung wurde gebaut und gebaut. Unser Durchgang war noch eine Baueinheit im Sinne der Anordnung von 1964. Wir gossen Betonstraßen, errichteten Lagerhallen, isolierten Dächer mit Kamelit-Dämmwolle (Sauarbeit) und huben Gräben für Abwasserleitungen aus. Nicht nur in Drögeheide, auch in Schwerin, Oranienburg, Brück, Neubrandenburg und Prenzlau.
Und wir errichteten „Donnerbalken“ für Offiziers-Campingplätze in Prora. Das waren improvisierte Sanitäranlagen, wenn auch von der robusteren Art.

In den 80er-Jahren wurden Bausoldaten zunehmend in der Industrie eingesetzt, in giftigen Chemiebuden und vor allem auch beim Bau des Fährhafens Mukran. Hier waren sie billige Arbeitskräfte im 12-Stunden-Schichtbetrieb. Mein Durchgang fiel in eine eher ruhigere Periode. Honecker stürzte Ulbricht und gierte nach weltweiter Anerkennung. Der Entspannungsprozess in Helsinki warf seine Schatten voraus. Das heißt nicht, dass Drögeheide ein Sanatorium war.
„Leiser“ und „lauter“ Widerstand beim Fahneneid
Wir trugen selbstverständlich auch Uniform. Auf den Schulterstücken prangte ein silberner eingestickter Spaten bei der Arbeitsuniform, ein goldener metallener Spaten auf der Ausgehuniform. Das hatte den Erfolg, dass wir bei Heimfahrten immer angesprochen wurden in den Zügen. Was seid Ihr denn für eine Truppe? Wir hatten ausreichend Gelegenheit, für die ansonsten weitgehend unbekannten Bausoldaten Reklame zu machen. Das missfiel den Oberen. Bei späteren Durchgängen wurden die goldenen Spaten feldgrau übertüncht.
Den Bausoldaten wurde kein Eid abverlangt, aber ohne Gelöbnis (der DDR allzeit treu zu dienen ...) ging es dann doch nicht. Das war ein Knackpunkt bei allen Durchgängen. Der leise Widerstand war, das Gelöbnis einfach nicht mitzusprechen, der „laute“ Widerstand, die Verweigerung deutlich zu markieren. In unserem Falle traten fünf Bausoldaten während des Gelöbnisses aus der Formation aus. Sie wurden zu drei Monaten Schwedt verurteilt. Diese drei Monate Gefängnis mussten sie nach den regulären 18 Monaten Armeezeit Gefängnis „nachdienen“.
Der Bausoldatendienst war kein Zivildienst im westlichen Sinne. Wir bauten schließlich an militärischen Anlagen. In unserer Einheit war dieses Thema ständig präsent: Ist das hier ein fauler oder ein gangbarer Kompromiss? Aber waren wir nicht schon widerständig? Waren wir nicht auch schon „Staatsfeinde“? Nun, zumindest setzten wir Zeichen. Mehr war bei Androhung von Strafe nicht drin. Ich persönlich gehörte eher zu der Fraktion „Das weiche Wasser bricht den Stein“. Den Song gab es zwar damals noch nicht, hätte aber den Nerv der „Peaceniks“ in unserer Gruppe getroffen.
Ich erinnere mich an eine Episode in Prora. Der einstige kilometerlange Kraft-durch-Freude-Standort war militärisches Sperrgebiet. Hier waren auch die Elitetruppen der NVA, die rotbemützten Fallschirmspringer, stationiert. Eines Abends spazierten wir nach getaner Arbeit am Strand entlang, passierten viele löchrige Zäune und waren bester Dinge. „Halt“ donnerte uns da ein Rotbemützter entgegen. Die MP in seinem Arm war eindeutig. Bausoldaten? Davon hatte der Elitesoldat noch nie etwas gehört. Wie auch? Ab in den Knast. Richtig Knast, sogar der Toilettengang nur mit Begleitung. Am nächsten Morgen holte uns unser Kompaniechef ab. Sehr wortkarg. Mindestens eine Ausgangs–und Urlaubssperre fürchteten wir. Nichts dergleichen geschah. Die Sache wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Die Fallschirmspringer mussten sich harsche Kritik anhören, ob ihrer löchrigen Zäune und die Kompanieleitung der Bausoldaten ob ihrer mangelhaften Aufsichtspflicht. Eine Nacht im Knast! Was ist das schon gegenüber Jahren im Schwedter Gefängnis?
Wo sie konnten, nahmen sich Bausoldaten Freiheiten, um der militärischen Enge zu entfliehen. Im Freibad Ueckermünde tummelten sich eines Sommerabends fünf Bausoldaten splitternackt und freuten sich lauthals ihres Lebens. Das missfiel der Badeleitung und sie rief den gefürchteten Kommandantendienst (KD) der NVA. Der KD hatte offenbar an diesem Sommerabend auch keine sonderliche Lust und ließ sich Zeit. Als wir ordnungsgemäß gekleidet die Badeanstalt verließen, kam just der KD. Vielleicht hatte die Badeleitung auch nicht genau gewusst, welcher Einheit wir zuzuordnen waren. Jedenfalls traute der KD solche Unbotmäßigkeit den christlichen Bausoldaten nicht zu und ließ uns gehen. Wir verschwanden schleunigst.

Strafexerzieren wegen „Oh du fröhliche“
Gottesdienste und Andachten in der Kaserne waren uns Bausoldaten verboten. Aber natürlich fanden sie heimlich statt. Der größte Teil unseres Jahrganges war religiös gebunden. Von Protestanten, Katholiken, Baptisten, Adventisten. Johannische Kirche, Neuapostolische Kirche bis zu den Zeugen Jehovas – das volle Programm. Das Bedürfnis nach Gebetsgemeinschaften und geistlichem Austausch war groß. Wurden wir bei solchen Zusammenkünften erwischt, gab es ernste Verwarnungen; drakonische Strafen erinnere ich nicht. Am Heiligabend beim Mannschaftsduschen „Oh du fröhliche“ zu schmettern, wurde geahndet mit Strafexerzieren auf dem Kasernenhof – mal ein Christgeburtsfest der anderen Art. Militärseelsorge gab es nicht in der DDR, aber die standortnahen Ortspfarrer, hier in Torgelow, leisteten oftmals hervorragenden Beistand.
Und natürlich wurde auch gelacht, viel gelacht in der Kompanie. Anders waren die anderthalb uniformierten Jahre auch nicht zu ertragen. Alle Bausoldaten fühlten sich den Offizieren gegenüber intellektuell überlegen. Den Unteroffizieren gegenüber sowieso. Und das ließen sie sie auch oft genug spüren. Nicht nur in den Politschulungen, auch im täglichen Kleinkram des Kasernenlebens. Wir äfften sie nach, wir verbesserten ihr Deutsch, wir „halfen“ ihnen in Wissenslücken. Heute sehen wir es als eine übertriebene Arroganz, damals war es ein Ventil, den Zwängen etwas entgegenzusetzen.
Bei aller Heiterkeit, die anderthalb Jahre waren kein Kuraufenthalt. Es gab Schikanen, es gab Drill, Strafarbeiten, Ausgehsperre und Urlaubsverbot. Es gab politische Auseinandersetzungen, es gab Eingaben mit mehr oder weniger Erfolg, zumeist mit weniger Erfolg. Aber dieses prallvolle Programm erlitten alle Armeeangehörige, ob mit oder ohne Waffe. Die NVA war nicht nur Militär, sondern wie jede andere Armee auf der Welt auch Erziehungsanstalt. Jedem widerborstigen Lehrling wurde schon beigebracht, komm du erst einmal zur Fahne, dann werden dir deine Flausen schon ausgetrieben.
Zu meiner Zeit wurden Bausoldaten jahrgangsweise eingezogen, wir blieben eineinhalb Jahre unter uns. Später als es immer mehr Verweigerer gab und vor allem Arbeitskräfte gebraucht wurden, zog man auch Bausoldaten halbjährig ein.
Bausoldaten setzten Zeichen für eine Welt ohne Waffen
Für waffentragende Einheiten konnte der Dienst tödlicher Ernst werden, wie folgende Begebenheit verdeutlichen soll. Ich hatte eine Konsultation im Armeelazarett Ueckermünde und wollte mich gerade zum Bus aufmachen, als ein Sankra, ein Sanitätskraftwagen vorfuhr. Auf einer Trage zogen die Sanitäter einen unförmigen Körper heraus, auf den ersten Blick nicht als Mensch identifizierbar. Ein blutiger, in Decken gewickelter Klumpen Fleisch. Der Doktor wurde gerufen, er hob die Decke, versuchte mit dem Daumen die Augen zu öffnen und rief mehrmals laut, Genosse, können Sie mich hören? Der Klumpen blieb reglos. Mit einer Handbewegung bedeutete der Doktor den Sanitätern, dass sie den Toten wegbringen können. Sein Gesicht blieb eisern verschlossen. „Panzerunfall“, erklärten die Sanitäter den Umstehenden.
Bausoldaten haben keinen Krieg verhindert, ebenso wenig wie Zivildienstleistenden (ab 1990 wurden die damaligen Bausoldaten in karitativen Einrichtungen eingesetzt), aber sie setzten und setzen Zeichen für eine Welt ohne Waffen. Natürlich war uns Bausoldaten auch die Haltung Bonhoeffers zum „Tyrannenmord“ (das letzte Mittel) bewusst. Aber wer entscheidet über die ultima ratio?





