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Als Spionagethriller verklärt: Was am 11. Juni 1985 tatsächlich auf der Glienicker Brücke passierte

Vor 40 Jahren fand auf der Glienicker Brücke der größte Agentenaustausch des Kalten Krieges statt. Doch auf der Liste der Freigelassenen fehlte ein wichtiger Name.

Filmdreh für Spielbergs „Bridge of Spies “am Originalschauplatz der Glienicker Brücke
Filmdreh für Spielbergs „Bridge of Spies “am Originalschauplatz der Glienicker BrückeCamera4/imago

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Ein frostiger Wintertag im Jahr 1983, das Wetter ist so eisig wie der Kalte Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Auf der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam soll eine spektakuläre Aktion stattfinden, ganz im Geheimen: ein Austausch von Spionen zwischen dem KGB und der CIA. Doch plötzlich zerreißt ein ohrenbetäubender Lärm die angespannte Stille, als die Brücke durch eine Explosion in die Luft fliegt. Chaos überall, Tote, Verletzte.

So wie der Berliner Autor Andreas Pflüger diesen spektakulär gescheiterten Agentenaustausch am Beginn seines Spionagethrillers „Wie sterben geht“ schildert, hat er niemals stattgefunden – die Realität war viel banaler. Und dennoch bildete die Glienicker Brücke die Kulisse für den größten Agentenaustausch in der Geschichte des Kalten Krieges, und zwar vor genau 40 Jahren, am 11. Juni 1985.

Der Austausch, zu dem es an diesem Tag kam, war bereits der zweite an diesem Ort. Schon 1962 hatten Washington und Moskau hier jeweils einen ihrer Leute übergeben: den sowjetischen KGB-Spion Rudolf Iwanowitsch Abel, der auf Atomspionage spezialisiert und nach seiner Festnahme 1957 zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt worden war, auf der einen Seite – und den CIA-Piloten Francis Gary Powers, der 1960 über sowjetischem Gebiet mit seiner Lockheed U-2 abgeschossen und verhaftet worden war, auf der anderen Seite. Die Szene, als Powers und Abel am Morgen des 10. Februar 1962 grußlos in der Mitte der Brücke aneinander vorbeigehen, ist der Höhepunkt des Films „Bridge of Spies“ von Erfolgsregisseur Steven Spielberg aus dem Jahr 2015, der zum Teil am Originalschauplatz gedreht wurde.

Francis Gary Powers vor dem Committee on Armed Services nach seiner Freilassung
Francis Gary Powers vor dem Committee on Armed Services nach seiner FreilassungGRANGER Historical Picture Archive/imago

Ikonischer Ort

Weil US-Präsident John F. Kennedy darauf pochte, dass Abel viel „wertvoller“ sei als Powers, ließen die Sowjets schließlich am selben Tag unmittelbar vor den beiden Spionen auch noch einen weiteren Häftling, den angeblichen Fluchthelfer Frederic Pryor frei. Allerdings musste er die Grenze am Checkpoint Charlie passieren.

Später wurden eine Reihe weiterer Spione freigelassen, zum Beispiel der Stasi-Spitzel Günther Guillaume, der jahrelang Bundeskanzler Willy Brandt ausspioniert hatte, oder Heinz Felfe, ein Maulwurf des KGB im Bundesnachrichtendienst (BND). Doch das geschah meistens am innerdeutschen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Aber die 148 Meter lange Brücke über der Havel zwischen Berlin und Potsdam, die direkt nach dem Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 geschlossen worden war, spielte dennoch eine wichtige Rolle beim Austausch von Agenten zwischen Ost und West. Sie gehört damit neben der Mauer und dem Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße in Berlin-Mitte zu den geradezu ikonischen Orten des Kalten Krieges in der geteilten Stadt.

Größter Agentenaustausch des Kalten Krieges

Es sollte nach 1962 allerdings 23 Jahre dauern, bis auch die Glienicker Brücke wieder zum Schauplatz eines Agentenaustausches wurde. Bei dieser Aktion handelte es sich dann aber um den größten Agentenaustausch des gesamten Kalten Krieges. An jenem historischen 11. Juni 1985 gelangten 25 als Spione und Agenten verurteilte Menschen aus DDR-Gefängnissen in die Freiheit sowie vier, die im Westen in Haft gesessen hatten.

Der Mann, um den es eigentlich ging, war allerdings gar nicht darunter: Anatoli Schtscharanski, ein russisch-jüdischer Menschenrechtsaktivist. Schon bald nach der Verhaftung des damals 29-Jährigen im März 1977 in Moskau hatte die Regierung von US-Präsident Carter mit ihren Bemühungen, Schtscharanski freizubekommen, begonnen. Moskaus Führung war das Thema ziemlich lästig.

DDR-Anwalt Wolfgang Vogel, 1986
DDR-Anwalt Wolfgang Vogel, 1986Heinrich Sanden/dpa

DDR-Anwalt mit besten Drähten

Die diplomatischen Geheimgespräche hatten acht Jahre zuvor begonnen und auf Ost-Seite wurden sie vornehmlich von einem Mann geprägt: Wolfgang Vogel. Der DDR-Anwalt mit besten Drähten zum Ministerium für Staatssicherheit hatte sich den Einsatz für in der DDR inhaftierte Spione und Menschenrechtsaktivisten auf die Fahne geschrieben und war bereits beim Austausch von 1962 dabei gewesen. Seitdem hatte er sich einen guten Ruf als fähiger und vertrauensvoller Unterhändler erworben – nicht nur bei den eigenen Leuten bis hin zu Erich Honecker, sondern auch auf der anderen Seite, also in Bonn und Washington. Dass er von dem modernen Menschenhandel selbst natürlich auch profitierte, nahm er gerne in Kauf.

Am Fall Schtscharanski aber biss sich Vogel mehrere Jahre lang trotz einiger Reisen in die USA die Zähne aus. Zu schlecht war Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre die Stimmung zwischen Ost und West – zumal in Washington mit Ronald Reagan ein neuer Präsident an die Macht gekommen war, für den die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ war. Das kam bei den starken Männern in Moskau nicht gut an.

Erschwerend hinzu kamen die dortigen ungesicherten Machtverhältnisse nach dem Tod des greisen KPDSU-Generalsekretärs Leonid Iljitsch Breschnew. Seine zwei nicht minder greisen Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenko starben jeweils schon kurz nach ihrer Amtsübernahme. Ein Richtungswechsel kündigte sich erst an, als am 11. März 1985 mit Michail Gorbatschow ein deutlich Jüngerer die Führung übernahm, der bald einen Reformkurs einschlug.

Ronald Reagan im Oval Office
Ronald Reagan im Oval OfficeUIG/imago

Geheime Unterlagen der US-Marine nach Ost-Berlin geschmuggelt

Ein Streitpunkt war die Einschätzung Moskaus, bei Schtscharanski handele es sich um einen Agenten – während Washington darauf beharrte, er sei ein politischer Gefangener. Außerdem verfügten die Amerikaner in den Augen der Sowjets lange über keine adäquate menschliche Verhandlungsmasse. Das änderte sich vor allem mit der Verhaftung des DDR-Physikers Alfred Zehe 1983. Er hatte während einer Gastprofessur in Mexiko geheime Unterlagen der US-Marine nach Ost-Berlin geschmuggelt und war verhaftet worden, als er an einer Tagung in Boston teilnahm. Das war ein schwerer Schlag für die DDR-Führung.

Aber es gab noch weitere Hochkaräter, die Anfang der Achtzigerjahre verhaftet und verurteilt wurden: der polnische Geheimdienstoffizier Marian Zacharski, der aufgeflogen war, als er geheime Rüstungspläne der USA ausspionierte und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war; der bulgarische Handelsattaché Penju Kostadinov und die DDR-Bürgerin Alice Michelson, die als KGB-Kurierin in den USA enttarnt und verhaftet worden war.

Vier Ost-Spione im Austausch gegen 25 West-Agenten

Auf der Liste der Amerikaner standen 25 Namen von Spionen oder Männern und Frauen, die als solche zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, obwohl es sich in Wahrheit um Menschenrechtsaktivisten handelte. Es waren im Vergleich zu den Ost-Spionen minder schwere Fälle, aber Vogel hatte dennoch zunächst Mühe, den in Ost-Berlin federführenden Minister für Staatssicherheit Erich Mielke von dem Deal zu überzeugen. 25 im Austausch gegen vier, das sei doch kein gutes Geschäft, meinte Mielke, ließ sich dann aber umstimmen.

Limousinen des amerikanischen Außenministeriums auf dem Weg zum Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke
Limousinen des amerikanischen Außenministeriums auf dem Weg zum Agentenaustausch auf der Glienicker BrückeValdmanis/imago

Nach zähen und langwierigen Verhandlungen sollte es endlich zum Agentenaustausch kommen. Als Tag wurde der 11. Juni festgelegt, als Ort die Glienicker Brücke. Sie hatte den Vorteil, dass sie von beiden Seiten gut einsehbar und erreichbar war.

Der 11. Juni war ein herrlicher Sommertag mit strahlend blauem Himmel. Das Wasser der Havel glitzerte, in der Ferne waren kleine Segelboote zu sehen. Aber statt der beschaulichen Atmosphäre, die sonst an dieser abgelegenen Stelle herrschte, lag Anspannung in der Luft. Der Termin war für zwölf Uhr angesetzt. Auf der westlichen Seite liefen schon Stunden zuvor amerikanische Sicherheitsleute in Anzügen und mit Knöpfen im Ohr, über die sie Funkkontakt halten konnten, geschäftig hin und her; auf der anderen Seite konnte man Stasi-Leute beobachten. Vor Ort war auch der US-Diplomat Richard Burt, der noch im selben Jahr Botschafter seines Landes in der Bundesrepublik werden sollte.

Deutlich nach Burt traf Vogel ein, chauffiert von seiner Frau Helga in seinem goldfarbenen Mercedes mit dem DDR-Kennzeichen IS-92-67. Die Häftlinge der Ost-Seite waren mit einem Bus zum Ort des Geschehens gefahren worden, nichtsahnend, was bevorstand. Noch während einer Pause vor dem Erreichen der Glienicker Brücke war ihnen gesagt worden, dass jeder Fluchtversuch mit einem tödlichen Schuss der Bewacher enden würde.

Kurz vor dem Austausch bestieg Vogel den Bus und teilte ihnen mit, warum sie hergefahren worden waren. Bei fast allen war ungläubige Freude die Reaktion, zwei aber nahmen das Angebot an, aus familiären Gründen in der DDR zu bleiben. Die vier Häftlinge der Westseite wurden in einem Chevrolet-Kastenwagen herangefahren – und dann fand der Austausch in der Mitte der Brücke statt.

Manche der Ost-Häftlinge brachen in Tränen aus, als sie im Westen waren. Wolfgang Vogel umarmte Zehe, Alice Michelson den Anwalt. Und dann war die kurze Zeremonie auch schon wieder vorbei. Vogel und Burt verabschiedeten sich voneinander, die Autos entfernten sich und um 13 Uhr lag die Glienicker Brücke wieder so still wie sonst auch in diesen Jahren der Teilung, in der sie ihren Sinn, zwei Ufer zu verbinden, verloren hatte.

Nach dem Agentenaustausch werden die ausgetauschten Gefangenen zur amerikanischen Botschaft gefahren.
Nach dem Agentenaustausch werden die ausgetauschten Gefangenen zur amerikanischen Botschaft gefahren.Valdmanis/imago

Der Austausch bleibt nicht lange geheim

Ein Ziel hatten die Ost-Seite nicht erreicht – die Geheimhaltung der ganzen Aktion. Eine Journalistin der ARD-„Tagesschau“ war die Sache, vermutlich von den Amerikanern, gesteckt worden, sodass der ebenso undramatische wie spektakuläre Agentenaustausch weltweit über die Fernsehgeräte gezeigt wurde. Vogel hatte bereits wenige Tage vorher befürchtet, dass so etwas passieren würde. Die Amerikaner wollten „offenkundig eine ziemliche Show mit viel Personen und Autos inszenieren“, schrieb er in einem internen Bericht.

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Es war der zweite und vorletzte Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke. Acht Monate später, am 11. Februar 1986, konnte schließlich auch Anatoli Schtscharanski, um den es ja ursprünglich eigentlich gegangen war, die Brücke in die Freiheit überqueren. Denn nach dem Amtsantritt Gorbatschows in Moskau entspannte sich das Verhältnis zwischen Ost und West allmählich.

Rechtsanwalt und Menschenhändler Vogel, der insgesamt am Austausch von rund 150 Agenten sowie am Freikauf von rund 33.000 politischen Häftlingen der DDR beteiligt gewesen sein soll, erwarb sich endgültig einen geradezu legendären Ruf. Heute ist der größte Agentenaustausch des Kalten Krieges nur noch eine Erinnerung, der unter anderem Inspiration für spannende Agententhriller bietet.

Armin Fuhrer ist Journalist, Historiker und Autor mehrerer Bücher.

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