Kommentar

Pflegereform: Wann kommt der Lohnersatz für pflegende Angehörige?

Die Reform der Pflegeversicherung hilft vor allem der Pflegeversicherung selbst. Eine Klage ist schon angekündigt. Warum versagen wir bei diesem Zukunftsthema? Ein Kommentar.

An die Pflege wird immer zuletzt gedacht, auch beim Einsatz von Steuermitteln – warum? 
An die Pflege wird immer zuletzt gedacht, auch beim Einsatz von Steuermitteln – warum? dpa-Zentralbild

Man muss es sagen, wie es ist: Die beschlossene Reform der Pflegeversicherung dient nicht den Betroffenen. Nämlich den Pflegebedürftigen oder gar ihren pflegenden Angehörigen. Sie dient stattdessen dazu, der Pflegeversicherung selbst wieder auf die Beine zu helfen, indem die Beiträge erhöht werden. Und auch das ist nur eine kurzfristige, schnelle Lösung. In Ermangelung des großen Wurfes, einer Umstrukturierung des Gesundheits- und Pflegesystems, wie es Fachleute schon seit so vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten fordern.

Es ist geradezu peinlich, wie trotzdem so getan wird, als solle diese Pflegereform den Armen, Kranken und Schwachen helfen, wenn sie doch nur dazu nützlich ist, die Bürokratie weiter zu finanzieren. Das Aufrechterhalten eines Systems, das schon lange nicht mehr richtig funktioniert.

Inzwischen ist man wenigstens davon abgekommen, diesen Umstand gänzlich zu verschleiern. Zu offensichtlich wurde an zu vielen Stellen, dass Deutschland eben doch nicht (mehr) das Land mit dem „besten“ Gesundheits- oder Pflegesystem ist, auf das man stolz sein könne, sondern eines mit einem besonders ineffizienten.

Hunderte Milliarden Euro werden jährlich in beide Systeme eingespeist, und immer wieder fragen sich auch die Akteure innerhalb dieses Systems, wo das ganze Geld denn eigentlich hinfließt, wenn es schon nicht bei denjenigen landet, die eigentlich davon profitieren sollten: bei den Patienten, den pflegenden Angehörigen, den Pflegekräften. Auch immer mehr Heime gehen aktuell pleite oder stehen kurz davor, die scheiden inzwischen ebenfalls als Profiteure aus.

Ist es Absicht, dass das System so kompliziert geworden ist, dass kaum einer es wirklich durchschaut, oder ist es Unvermögen? Wie auch immer die Antwort lautet: Es ist Aufgabe der Politik, dieses kaputte System zu reparieren, die Geldflüsse zu entwirren, den Zugang Betroffener zu pflegerischen Angeboten zu vereinfachen sowie verbindliche Informationen in einfacher Sprache für Hilfsangebote bereitzustellen, pflegende Angehörige zu unterstützen, anstatt zu behindern und den das System untergrabenden Fachkräftemangel zu beseitigen. All das geschieht nicht. Warum?

Eine beliebte Begründung dafür lautet: Die Pflege habe keine Lobby. Pflegende Angehörige seien halt zu erschöpft, nach der Pflege noch auf die Straße zu gehen, Patienten und Alte und Kranke eh nicht mehr dazu in der Lage, für ihre Rechte zu kämpfen – und die professionelle Pflege sei untereinander so zerstritten, mit der wolle sich die Politik gar nicht erst anlegen, da würden wichtige Reformen lieber immer weiter verschoben. Deshalb müsse der Bereich der Pflege stets hinter anderen Gruppen anstehen, deren Interessen viel besser und zielgerichteter durch Lobbyisten vertreten würden.

Da fragt man sich: Haben die Leute den Verstand verloren? Seit wann ist es Konsens, dass Politik durch Lobbyismus gesteuert werden sollte? Es ist doch gerade die ureigenste Aufgabe der Politik, einen möglichst gerechten Interessenausgleich zu organisieren, damit eben nicht immer wieder diejenigen verlieren, die sich eh am wenigsten selbst helfen können. Zumindest in einem Sozialstaat ist das so, aber sind wir das noch? Oder wird nur noch denen geholfen, die am lautesten schreien oder die die meisten lauten Unterstützer haben? Und wenn ja, wie versucht die Politik das zu ändern, oder ist sie Teil genau dieses Problems?

Um es konkret zu machen: Eine Erhöhung des Pflegegeldes um fünf Prozent ist keine „Erleichterung“, wenn vorher sechs Jahre lang das Pflegegeld nicht erhöht wurde und es weder einen Ausgleich für Inflation, gestiegene Energiepreise noch einen Ausgleich für die rasant gestiegenen Preise bei Eigenanteilen für Heime und Pflegedienste gibt. Nach Berechnungen von Sozialverbänden hätte es einer Erhöhung von 16 Prozent bedurft, um allein nur die Inflation auszugleichen. Nun zahlen Patienten und pflegende Angehörige – wie alle anderen – erhöhte Beiträge zur Pflegeversicherung noch oben drauf, können aber erst im nächsten Jahr eine geringe Pflegegelderhöhung bekommen und bleiben auf den monatlich um mehrere Hundert Euro erhöhten Pflegekosten immer noch sitzen. Was für eine Erleichterung soll das sein?

Ohnehin: Anstatt sich überhaupt im anstrengenden und unbezahlten Pflegealltag auch noch mit der Finanzierung und Überbrückung von Almosen herumschlagen zu müssen, bräuchten pflegende Angehörige, um nicht vor die Hunde zu gehen, stattdessen eine Entlohnung für ihre auch gesellschaftlich so wichtige Arbeit. Denn gäbe es die pflegenden Angehörigen nicht, müsste es viele Millionen weitere Pflegekräfte geben, die es nicht gibt. Legten alle pflegenden Angehörigen von heute auf morgen ihre Arbeit nieder, bräche das Gesundheitssystem zusammen. Wann also kommt die Lohnersatzleistung für pflegende Angehörige?

Denn das Pflegegeld ist ja nicht für die pflegenden Angehörigen gedacht, sondern zur Aufrechterhaltung der Pflege – und auch dafür reicht es meist vorne und hinten nicht. Viele Betroffene verarmen dadurch, werden selbst hilfsbedürftig, fallen dadurch auch wieder den Sozialkassen zur Last. Ein Teufelskreis. 

Das einzig Gute an diesem Gesetz: Von 2025 bis 2028 sollen die Geld- und Sachleistungen in Anlehnung an die Preisentwicklung regelhaft und automatisch „dynamisiert“ werden. Sodass eine Bruchlandung wie jetzt, die zudem auch noch als „Hilfe für die Familien“ deklariert wird, nicht mehr möglich sein sollte. Wenn bis dahin alles gut geht. Doch auch an diesem Punkt gibt es Kritik, unter anderem vom Sozialverband VdK, dessen Vorsitzende Verena Bentele bereits eine Klage gegen die Reform angekündigt hat, wenn nicht nachgebessert werde – zugunsten der Betroffenen. 

Denn ob alle weiteren Vorhaben wirklich im Sinne der „Familien“ umgesetzt werden oder am Ende doch wieder so verkompliziert werden, dass die Hilfsangebote nicht abgerufen werden können, weil sie mit der Pflegerealität nichts zu tun haben, bleibt noch abzuwarten. So auch die eigentlich begrüßenswerte Idee, das intransparent gewordene Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit neu zu entwickeln. Wird es besser oder schlechter? Da sollte man sich nach den Erfahrungen der vergangenen Pflegereformen wohl lieber nicht zu früh freuen. Gespannt sein darf man auch auf die Wirksamkeit des „Kompetenzzentrums Digitalisierung und Pflege“.

Von wegen Kompetenz: Bei wem wird die Regierung eigentlich in diesen Fragen beraten – auch von Schwägern oder Trauzeugen mit gefälschtem Lebenslauf? Und wenn wir schon beim Klima sind: Wann werden das Pflege- und das Gesundheitssystem endlich mit der Verve angegangen, die sie mit Blick auf die Demografie in Deutschland schon seit Jahrzehnten verdienen? Wann kleben sich junge Leute, die im Krankenhaus nicht an Keimen sterben und im Alter nicht in ihren vollgemachten Windeln liegen gelassen werden wollen, als Mahnung an Politik und Bevölkerung auf die Straße?

Und wieso verschwenden Menschen ihre wertvolle Lebensenergie lieber darauf, einem Berliner Bürgermeister die Pfingstgrüße bei Twitter zu verübeln, als sich dafür einzusetzen, dass es ihren eigenen Eltern, Großeltern oder möglicherweise noch ungeborenen beeinträchtigten Kindern einmal besser geht als den fünf Millionen Pflegebedürftigen und ihren etwa acht Millionen pflegenden Angehörigen, die sich heute mit einem derart verbockten Regelwerk herumschlagen müssen, dass viele von ihnen krank darüber werden – wenn sie es nicht schon sind?

Die Anlässe werden immer blöder, die Gründe immer irrelevanter, mit denen sich eine ganze Gesellschaft in Kleinkriegen davon ablenkt, dass es grundsätzliche Themen zu beackern gibt, denen wir nicht ausweichen können, wenn wir eine Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen. Wollen wir gar nicht? Dann aber bitte auch nicht bei anderen Themen so tun, als ginge es uns um die Zukunft. Wer das Thema Pflege in einem Land wie Deutschland mit einer derartigen Alterspyramide so stark vernachlässigt, dem kann man nicht glauben, dass er auch nur fünf Minuten weit in die Zukunft denkt.