Gesundheit

Fatigue, die verkannte Corona-Krankheit: Höchste Zeit, dass die Politik endlich aufwacht

Deutsche Gesundheitspolitik arbeitet sich an Symptomen ab. Je sichtbarer, desto höher die Dosis. Für Patienten mit ME/CFS, landläufig Fatigue, ist das ein Problem. Ein Kommentar.

Arbeitsunfähig: ein Mann erschöpft vor einem Computer.
Arbeitsunfähig: ein Mann erschöpft vor einem Computer.imago

Es wird eine beeindruckende Szenerie sein an diesem Donnerstag: 500 Feldbetten mit 500 Porträts von Patienten, die mitten aus ihrem alltäglichen Leben gerissen worden sind. Die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Es ist ein Armutszeugnis für die Abgeordneten des Bundestags, die sich an diesem Tag hinter den Mauern des Reichstagsgebäudes versammeln. Selbst für jene der CDU/CSU-Fraktion, die einen Antrag eingebracht haben zum Thema: „Hilfe für Betroffene des chronischen Erschöpfungssyndroms“. Denn ebenjene Parteien waren 16 Jahre lang an der Regierung, hätten längst die nun eingeforderte Hilfe auf den Weg bringen können. Die Diagnose ME/CFS, landläufig als Fatigue bezeichnet, existiert nicht erst seit Corona als Folge der Pandemie, sondern ist seit mehr als einem halben Jahrhundert offiziell anerkannt.

Es ist ein Dilemma der deutschen Gesundheitspolitik. Medizinisch gesprochen, arbeiteten sich die Verantwortlichen an Symptomen ab. Je sichtbarer, desto größer die Dosis, die erwartet werden darf. Bei einem Syndrom, einer Reihe von Krankheitsbildern also, die Betroffene in die häusliche Isolation zwingen, in die häusliche Pflege teilweise über zehn, zwanzig Jahre, ist das ein gewaltiges Problem. Zumal andere Machtverhältnisse an diesem Muster nichts zu ändern scheinen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) präsentierte zum Beispiel im Herbst vergangenen Jahres medienwirksam die Autorin Margarethe Stokowski als Betroffene von Long Covid, den Spätfolgen einer Infektion mit Sars-CoV-2. Sie legte Zeugnis ab über Beschwerden, die auf ME/CFS schließen ließen. Der Auftritt flankierte den Start einer Impfkampagne; für derartige Öffentlichkeitsarbeit stehen dem Minister rund 60 Millionen Euro zur Verfügung. Die Werbung verfängt bisher offenbar nicht allzu sehr. Fast 80 Millionen Dosen blieben bis Ende 2022 übrig.

Gegenüber solchen Summen machen sich die zehn Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium für Therapiestudien zu Fatigue geradezu lächerlich aus. Solche Studien werden dringend gebraucht, um Millionen Menschen wieder die Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Am Arbeitsleben etwa. Sollte ein Minister zuerst in ökonomischen Kategorien denken, mag dieser Hinweis motivierend wirken. Der Verweis auf einen geschätzten volkswirtschaftlichen Schaden von 7,4 Milliarden Euro durch ME/CFS allein in Deutschland.

ME/CFS: Aufklärung ist dringend geboten

Von einem Gesundheitsminister sind natürlich andere Prioritäten zu erwarten. Zumal von einem wie Karl Lauterbach, der bei der jüngsten Corona-Impfkampagne einen ausgeprägten Sinn für Aufklärung erkennen ließ. Bei ME/CFS findet er nun ein weites Betätigungsfeld vor, auch nach Jahrzehnten ist noch sehr viel Aufklärung zu leisten. Nach wie vor zum Beispiel müssen Patienten in der Reha eine sogenannte gesteigerte Aktivierungstherapie über sich ergehen lassen, obwohl diese gerade bei einer Belastungsintoleranz als schädlich gilt.

Chronisches Fatigue-Syndrom – die Bezeichnung täuscht über die Gefahr hinweg, die von dieser multisystemischen Erkrankung ausgeht. Der Begriff passt allerdings gut zur hiesigen Gesundheitspolitik: Sie hat bei ME/CFS Jahre verschlafen. Höchste Zeit, dass es nicht mehr nur bei zu später Uhrzeit diskutierten Anträgen im Bundestag bleibt. Dass die politisch Handelnden wach werden.