Zur Machtpolitik gehört die Beherrschung der Klaviatur des Zynismus. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Wahlnacht in Ankara auf den Balkon trat, schwärmte er siegesbewusst von der absoluten Mehrheit. Und falls er sich doch einer Stichwahl zu stellen habe, so rief er generös, feiere er dies als „Festival der Demokratie“.
Schon vor Jahren hat der greise Despot die parlamentarische Demokratie zu einem auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystem umgebaut; er wacht über einen engmaschigen Propagandaapparat und lässt Kritiker und Journalisten durch eine minutiös kontrollierte Justiz ins Gefängnis werfen. Trotz dieses unbedingten Willens zum Machterhalt, der auf der Zerstörung demokratischer Prinzipien fußt, schauten auch hiesige Medien gebannt auf den Wahlausgang des Landes am Bosporus, zu dem auch zahlreiche Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft ihre Stimme beigesteuert hatten.
Angesichts der hohen Wahlbeteiligung war sogar der Kommentator der Süddeutschen Zeitung angetan. Die Türkei sei trotz aller Eigenheiten eine erstaunlich gut funktionierende Demokratie, jedenfalls was die Wähler betreffe. „Sie – ganz sicher nicht der Staat oder der Apparat des Präsidenten – haben ihre Reifeprüfung bestanden. Sie haben mit der sensationellen Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent überzeugt, es gab keine Gewalt, es gab keine größeren Zwischenfälle.“
Das Menetekel demokratischer Staatsformen
Zu solch einer Einschätzung kann man allerdings erst kommen, wenn man anlässlich bevorstehender Wahlentscheidungen mit dem Schlimmsten zu rechnen bereit ist. Fälschungsmanöver, gewaltsame Eingriffe und beharrliche Verweigerung der Anerkennung von Ergebnissen gehörten zuletzt zum politischen Alltag von Staaten, denen man noch vor nicht allzu langer Zeit einen Vorbildcharakter in Bezug auf Meinungsfindung, Gewaltenteilung und das gelingende Zusammenspiel von „checks and balances“ zugebilligt hatte.
Donald Trumps erfolgreich auf den Weg gebrachtes Narrativ von der „gestohlenen Wahl“ ist das Menetekel demokratischer Staatsformen, die dabei sind, die Voraussetzungen ihrer Existenz zu verlieren: die Bestätigung (oder Modifizierung) einer politischen Konstellation oder den reibungslos gelingenden Austausch von Regierung und Opposition. Nach der Wahl ist vor der Wahl. Um nichts anderes geht es in der Demokratie.
Wenn die Wahlbeteiligung ein Indiz für gelingenden Austausch ist – der Ideen, aber auch der Machtpositionen –, dann steht es schlecht um das hiesige Gemeinwohl. Bei der unlängst zur Richtungswahl hochstilisierten Entscheidung über einen Landratsposten im brandenburgischen Kreis Oder-Spree erreichte der SPD-Kandidat zwar knapp die absolute Mehrheit gegen die drohende Amtsübernahme eines AfD-Mannes. Tatsächlich aber hatte er von gerade einmal 15 Prozent aller Wahlberichtigten die Stimme erhalten. Der tüchtige Bürgermeister von Beeskow hat das Mandat erhalten, die allgemeine Zustimmung allerdings nicht. Kaum anders sah es unlängst in der stolzen Patrizierstadt Frankfurt am Main aus, wo ein neuer Oberbürgermeister das unwürdige Gebaren seines Vorgängers beendete. An der Stichwahl dieser weit über Hessen hinaus mit Spannung verfolgten Entscheidung beteiligten sich wenig mehr als 30 Prozent aller Wahlberechtigten.
Politik hat keine Korrekturtaste
Die Abkehr insbesondere von der lokalen Politik hat viel mit der ernüchternden Einschätzung zu tun, von tatsächlichen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Strukturentscheidungen im Bereich des Verkehrs und der Stadtplanung beispielsweise haben einen sich oft über Jahre hinziehenden Vorlauf, sodass die Bürger sich oft hilflos einem monströsen Vollzugsapparat gegenübersehen. Der Tatsache, dass zumindest in den Ballungsräumen preiswerter Wohnraum fehlt, ist mit raschen und geeigneten Interventionen kaum zeitnah zu begegnen. Politik hat keine Korrekturtaste, und die Versäumnisse, oder besser: das Fehlen einer vorausschauenden Infrastrukturpolitik, etwa für den Erhalt von Brücken, wird als Jahrzehnte währende Beeinträchtigung erlebt.




