Verschärfte Debatte

Meinungsfreiheit braucht auch Respekt: Wir müssen Zuhören lernen

Die Öffentlichkeit zersplittert in Positionen zu Corona-Maßnahmen, Cancel Culture oder zum Krieg gegen die Ukraine. Abwehr ist die häufigste Antwort.

Nicht immer reicht es, ein Schild zu zeigen, wie bei dieser Demonstration zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im November in Berlin. Meinungen brauchen Fakten und Zuhörer.
Nicht immer reicht es, ein Schild zu zeigen, wie bei dieser Demonstration zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im November in Berlin. Meinungen brauchen Fakten und Zuhörer.AFP

Als Ayad Akhtar, Dramatiker und Romancier, Präsident des PEN America, jetzt in Berlin zu Gast war, sagte er: „Die Ausübung der Redefreiheit ist das Fundament der Demokratie. Sie ist buchstäblich das, was Demokratie bedeutet.“ Eigentlich ist es überflüssig, in Deutschland so etwas zu sagen, wir haben ja das Grundgesetz. Es sollte erst recht nicht nötig sein, dies auf einer Veranstaltung des PEN Berlin zu sagen. Denn die Mitglieder der internationalen Organisation der „poets, essayists, novelists“ verpflichten sich gemäß ihrer Charta, „jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in ihrem Lande, in der Gemeinschaft, in der sie leben, und wo immer möglich auch weltweit entgegenzutreten“.

Aber warum äußern so viele Leute das Gefühl, es sei nicht mehr möglich, seine Meinung kundzutun? Zumal sie diese dann im selben Atemzug mitteilen. Warum werden neuerdings so gern Formulierungen witzelnd von der Frage begleitet, ob man das überhaupt noch sagen könne? Zumal sie ja ausgesprochen werden. Identitätspolitik und Herkunft, Genderfragen, kulturelle Aneignung und Kulturerbe, die Haltung zu Israels Umgang mit Palästina, Corona, Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine, die fossilen Brennstoffe und ihre Quellen, die globale Erwärmung – die Themenfelder, über denen angeblich Sprechverbote liegen, sind weit und vielgestaltig.

Die schnelle Meinung hat Vorrang vor der Analyse

Aus den Medien ohnehin schon bekannte Personen nutzen ihre Prominenz, um ihre Ansichten zu positionieren. Sie schreiben Artikel oder offene Briefe oder nehmen Videos auf. Die alten Medien holen diese Leute in Talkshows, lassen diese Meinungen durch Nachfragen zu kurzen Statements werden, die sich klein geschnitten in den neuen Medien weiterverbreiten. Wer sich in die Kommentarspalten darunter oder in die fadenmäßig aneinandergereihten Antworten (Threads) begibt, kann viel über Hass, Missgunst und Missverständnisse lernen.

Bei Akteuren wie Harald Welzer, Richard David Precht, Alice Schwarzer oder Sahra Wagenknecht ist in den vergangenen zwei, drei Jahren in Vergessenheit geraten, dass die noch einen anderen Beruf haben, als Meinungsträger zu sein. Und auch manche Journalisten gehen dazu über, in den sogenannten sozialen Medien wie Twitter, Facebook oder Instagram ein Vielfaches an Kommentaren abzulassen im Vergleich zu ihrem eigentlichen Tagwerk: Die schnelle Meinung, die knappe Entrüstung hat Vorrang vor dem Berichten, Recherchieren und Einordnen.

Die Akademie der Künste hatte am Sonnabend versucht, aus dem Kleinkrieg des Unverständnisses herauszukommen, und mit der „3. Berliner Begegnung“ vielen Positionen Raum zu geben. Doch wenn alle einzeln drei Minuten lang sagen, was ihnen wichtig ist – ob über den Kapitalismus als solchen oder die öffentlich-rechtlichen Medien, über die Schuld des Westens am Krieg gegen die Ukraine oder die Hybris deutscher Intellektueller gegenüber dem ukrainischen Volk, über das Sterben der Erde oder das Veröden der Innenstädte –, ist das noch kein Gespräch. Es zeigt nur, wie lange nicht ausführlich und abwägend gesprochen wurde. Ein ganzer Katalog zu bearbeitender Felder liegt nun für später vor. Doch geredet werden müsste jetzt.

Für die Weihnachtszeit in der Familie nützlich

Die Schriftstellerin Jagoda Marinic behandelt seit anderthalb Jahren in ihrem Podcast „Freiheit de luxe“ aktuelle und dauerhafte Aspekte der Meinungs- und Redefreiheit. Sie lädt Leute ein, die anderswo längst ihr Etikett weg haben, und lässt sie aussprechen. Das macht deutlich, wie brüchig manche Argumentation ist, wie viel Gefühl in manchen als Fakten vorgetragenen Äußerungen steckt. Auf die Gesellschaft übertragen, ist diese Gesprächsform von rund anderthalb Stunden schwierig, aber wenigstens den familiären Konflikten, die in der Weihnachtszeit wieder drohen, kann man die Schärfe nehmen, indem man sich ausreden lässt. Die Intellektuellen im PEN-Zentrum Deutschland, im neuen PEN Berlin wie in der Akademie der Künste sollten vielleicht Foren des Austauschs einrichten, lieber schreiben statt offene Briefe zu unterschrieben, lieber auf Positionen antworten, als sich mit Meinungen anzubellen.

Ayad Akhtar sagte am Ende seines Vortrags in Berlin, dass die Verteidigung der Redefreiheit nicht ausreiche: „Wir müssen uns mindestens so sehr für die Anerkennung und Ermutigung des Hörens und Zuhörens einsetzen. Denn ohne Zuhören hat Reden keine Wirkung und besitzt kaum eine Bedeutung, die von Dauer sein kann.“ Es sind eher die klassischen Medien als die neuen, die den Stoff dafür liefern, in der Geduld steckt also auch eine Chance.