Krieg und Philosophie

Jürgen Habermas: Keine Beteiligung Deutschlands am Krieg!

Der 92-jährige Philosoph Jürgen Habermas warnt vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine. Der Philosoph zeigt Verständnis für Olaf Scholz.

Jürgen Habermas im Jahre 2013.
Jürgen Habermas im Jahre 2013.www.imago-images.de

Es verschafft nur ein geringes Maß an Genugtuung, dem großen deutschen Sozialphilosophen Jürgen Habermas gleich nach dem ersten Satz seiner Einlassungen zum Krieg in der Ukraine widersprechen zu können. „Nach 77 Jahren ohne Krieg“, schreibt er in einem bemerkenswerten Essay in der Süddeutschen Zeitung, „und 33 Jahre nach Beendigung eines nur im Gleichgewicht des Schreckens bewahrten, wenn auch bedrohten Friedens sind die aufwühlenden Bilder eines Krieges zurückgekehrt – vor unserer Tür und von Russland willkürlich entfesselt.“

Hier irrt der große Denker oder vernachlässigt zumindest den Krieg in Bosnien, der vor genau 30 Jahren begann und in den darauffolgenden dreieinhalb Jahren über 100.000 Tote forderte. Viele andere bewaffnete Konflikte, die oft mit verheerenden Folgen für die jeweiligen Zivilgesellschaften ausgetragen wurden, haben dem Eindruck, unterm Schutzschirm einer funktionierenden Friedensordnung zu leben, nichts anhaben können.

Diese Gewissheit ist mit dem Krieg in der Ukraine ein für alle Mal vorbei, und es kann sich lohnen, diesem Verlust unter der Gedankenführung des 92-jährigen Philosophen nachzuspüren. In weiten Teilen unterstützt Habermas den abwägenden Kurs von Bundeskanzler Olaf Scholz, der zuletzt als willensschwacher Zauderer beschrieben wurde, der mit seiner politischen Trägheit das Ansehen Deutschlands in der Welt verspielt habe. Habermas hingegen ist bemüht, sich von derlei Empfindungen frei zu machen. Vielmehr geht es ihm darum, die großen Linien der durch den Krieg veränderten weltpolitischen Konstellation herauszuarbeiten.

Das Dilemma das Westens

„Das Dilemma des Westens besteht darin“, so Habermas, „dass er einem gegebenenfalls auch zur atomaren Eskalation bereiten Putin nur durch eine sich selbst begrenzende militärische Unterstützung der Ukraine, die diesseits der roten Linie eines völkerrechtlich definierten Kriegseintritts bleibt, den Grundsatz signalisieren kann, dass er auf der Integrität staatlicher Grenzen in Europa besteht.“ Zu diesem Dilemma gehört die schwer zu ertragene Erkenntnis, dass sich das vermutlich noch lange hinziehende Kriegsgeschehen nicht in die einfache Unterscheidung von Sieg oder Niederlage auflösen lässt.

Der Ernstfall ist eingetreten, und zu den kaum hinzunehmenden Erkenntnissen gehört auch jene, dass er womöglich nicht ohne Putin zu beheben ist. Trotz des beinahe zwingenden Bedürfnisses, ihn als Angeklagten vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu sehen, verweist Habermas darauf, dass Putin noch immer über die Vetomacht in der UN verfüge und seinen Gegnern mit Atomschlägen drohen könne. Und so schließt Habermas in kühl-pragmatischer Diktion: „Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die – im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer – den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt.“

Einen philosophischen Königsweg, so die bittere Lehre aus dem Text, hat also auch Jürgen Habermas nicht anzubieten. Und doch stellt sein Essay ein souveränes Angebot dar, die hitzigen Debatten der letzten Wochen um Waffenlieferungen, deutsche Zögerlichkeit und das Hadern mit dem politischen Personal in einem anderen Licht zu sehen.