Wie es sich anfühlt, Mitwirkende der am Sonntag schließenden Documenta Fifteen zu sein, hat die kubanische Künstlerin Tania Bruguera kürzlich in der Zeitschrift Monopol beschrieben. Man sei unwillentlich in eine Diskussion hineingezogen worden. „Plötzlich mussten wir alle befürchten, als antisemitisch abgestempelt zu werden, weil wir in dieser Ausstellung waren.“ Nicht wenige Künstler, so Bruguera, hatten das Gefühl, dass die Documenta gekapert worden sei. Bruguera, die schon 2002 auf der Documenta 11 dabei war, beklagte darüber hinaus, dass im Schatten der aufgeheizten Antisemitismus-Diskussion von Kunst kaum mehr die Rede gewesen sei.
Für die Kunstkritikerin Sabine Vogel war das kein Problem. In einem durchaus wohlwollenden Rückblick auf das Kasseler Event erklärte sie, warum „die meisten Vertreter des herkömmlichen Kunstbetriebs ziemlich ratlos und sogar beleidigt“ gewesen seien. „Denn sie und ihre Netzwerke der Macht“, schreibt Vogel, „werden hier mit einer fulminanten Fülle und Power neuer Kunst-Geschichten überflüssig gemacht. Die meisten der ausgestellten Projekte haben völlig andere Anliegen, als verkauft oder gesammelt zu werden oder in einem Museum zu landen.“ Sie seien nicht vermarktbar und existieren ohne Kurator, Galerist, Kunstinstitution, auch ohne die Documenta 15.
Zensur, Rassismus, Antisemitismus
Einschätzungen wie diese hätten Ausgangspunkt einer spannenden Nachbetrachtung sein können. Was nun jedoch in Kassel zurückbleibt, sind die Trümmer eines wohl kaum als soziale Plastik durchgehenden kommunikativen Unvermögens. Das ist nicht zuletzt der künstlerischen Leitung zuzuschreiben, dem indonesischen Kollektiv Ruangrupa. Nach der Entdeckung antisemitischer Darstellungen und Motive in Kunstwerken, Archivmaterial und Dokumentarfilmen hat es Ruangrupa nicht vermocht, sich adäquat zum Gezeigten und den daraus resultierenden Vorwürfen zu positionieren. Halbherzige Entschuldigungen wechselten einander ab mit Relativierungen und schroffen Zurückweisungen. Von Fehlinterpretationen war die Rede, nicht aber von Fehleinschätzungen und -verhalten. Das Bekenntnis, über alles reden zu wollen („We need to talk“) war früh dem Gestus beleidigter Verstocktheit gewichen. Man regierte man Gegenvorwürfen, Zensur und Rassismus als starke Geschütze.
Sicher, Ruangrupa blieb von Beginn an jene wohlwollende Neugier verwehrt, die einem Gast in der Regel gebührt. Obwohl mutmaßlich antisemitische Haltungen einzelner Teilnehmer bereits im Januar 2022 im Raum standen, schienen die unterschiedlichen Gremien der Documenta-Leitung auf die in verschiedenen Eskalationsstufen über die Schau hereinbrechende Debatte völlig unvorbereitet zu sein. Zu besichtigen ist nun ein organisatorischer Totalschaden, der die Verantwortlichen, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), die hessische Bildungs- und Kulturministerin Angela Dorn (Grüne) und indirekt auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), nachhaltig beschädigt hat. In dem verworrenen Geflecht aus Gesellschaftern, Generaldirektion und einem eilig hinzugezogenen Expertengremium wurde die politische Verantwortung wie ein glühendes Stück Metall weitergeschoben. Die internationale Findungskommission, die Ruangrupa berufen hatte, ist weder moderierend noch erläuternd in Erscheinung getreten, die Auswechslung der überforderten Documenta-Chefin Sabine Schormann durch den routinierten Kulturmanager Alexander Fahrenholtz blieb wirkungslos.

