Medizin

Babyboomer im Gesundheitswesen: Mit Vollgas an die Renten-Mauer

Tausende Ärzte und Pflegekräfte treten ab, werden selbst zu Patienten. Es kommt zum Crash. Der hätte abgewendet werden müssen - vor Jahrzehnten. Ein Kommentar.

Sinnbild für Personalmangel: Ein einzelner Pfleger auf einer Station.
Sinnbild für Personalmangel: Ein einzelner Pfleger auf einer Station.imago/Gabriel Trujillo

Ein Auto fährt auf eine Mauer zu. Sie ist noch einen Kilometer entfernt, doch der Fahrer sieht sie bereits, das Navi warnt. „Die wird schon irgendwie verschwinden, es läuft doch gerade ganz gut“, sagt sich der Fahrer und denkt rasch an etwas anderes. Die Mauer kommt immer näher, bis sie sich nicht mehr ignorieren lässt und Bremsen zwecklos ist. Es kracht.

Verrückt, dieses Verhalten, doch genau das ist in Deutschland zu beobachten: Wir alle sitzen in diesem Auto auf dem Weg Richtung Mauer, dem demografischen Wandel. Der Crash ist der Punkt, an dem sich das Verhältnis zwischen denen, die arbeiten, und jenen, die in Rente gehen, drastisch verschieben wird. Dieser Punkt ist seit Jahrzehnten sichtbar und jetzt nicht mehr fern.

Die Generation der Babyboomer zieht sich aus dem Berufsleben zurück. Die geburtenstarken Jahrgänge der Sechzigerjahre hinterlassen eine gewaltige Lücke in allen Bereichen des Wirtschaftslebens. Wie sie sich auswirken könnte, lässt sich in diesen Wochen erahnen. Eine Infektionswelle hat das Land fest im Griff. Sie führt zu Personalausfällen in allen Branchen und zu Engpässen in allen Bereichen: in Schulen und Kitas, im öffentlichen Nahverkehr und Behörden, in Dienstleistung und Produktion.

Nirgendwo aber wird diese Entwicklung zu größeren Verwerfungen führen als im Gesundheitswesen. Denn nirgendwo werden Angebot und Nachfrage von Arbeit so weit auseinandergehen wie in diesem Sektor. Aus den pflegenden werden zu pflegende Menschen, früher oder später jedenfalls. Zusammen mit anderen Systemfehlern wird diese Entwicklung im Kollaps enden. Fehler, die derzeit die Infektionswelle zum massiven Stresstest werden lassen, die ebenfalls seit langem bekannt sind und nicht behoben wurden. Allen voran, dass das Gesundheitswesen nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten organisiert ist.

Klinikärzte: 44 Prozent mit Dokumentation beschäftigt

Gewinninteressen von Akteuren in diesem Gesundheitswesen und knappe Kassen der Bundesländer verstellten den Blick in eine fernere, aber gewisse Zukunft. Investitionen blieben aus, die dringend nötig gewesen wären, um den demografischen Wandel abzufedern. In den Ausbau digitaler Technik etwa. Die würde schon jetzt benötigt, um die knappen personellen Ressourcen bei Ärzten und Pflegekräften in deren Kerngeschäft zu bündeln: der Arbeit am Patienten.

Klinikärzte zum Beispiel verbringen 44 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation, damit, Daten in Computertastaturen zu tippen oder manchmal sogar noch auf Papier zu notieren. Unfassbar für ein wirtschaftlich starkes Land wie die Bundesrepublik, die beim Grad der Digitalisierung allerdings im europäischen Vergleich lediglich auf Platz 13 rangiert.

Der Vorstoß von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dieser Tage, Menschen dazu zu bewegen, tatsächlich bis 67 zu arbeiten und nicht vorzeitig in Rente zu gehen, wirkt wie ein verzweifelter Bremsversuch, um vielleicht doch noch vor der Mauer zum Stehen zu kommen. Dass sich viele bereits Jahre vorher in den Ruhestand verabschieden, dürfte kaum an einem Hang zur Bequemlichkeit liegen. In der Pflege jedenfalls nicht, in der ein stark ausgeprägtes Berufsethos vorherrscht, vorherrschen muss, um den körperlichen und mentalen Belastungen gewachsen zu sein.

Die sind offenbar schon ganz am Anfang groß. In keiner anderen Sparte brechen so viele Auszubildende die Lehre ab wie in der Pflege, nämlich fast ein Drittel. Auch der Beruf des Mediziners scheint an Attraktivität verloren zu haben. Ins Bild passt die Feststellung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD), dass 5000 Ärzte zusätzlich nötig sind, um die Babyboomer angemessen zu versorgen. Überraschung! Auch das hätte man längst wissen können.

Die Spruchweisheit „Besser spät als nie“ trifft hier nur bedingt zu, wenn man sich vor Augen führt, dass beispielsweise eine Ausbildung zum Kinderarzt an die elf Jahre in Anspruch nimmt. Immerhin wagt sich Minister Lauterbach an eine etwas größer aufgefasste Reform des Kliniksektors heran. Nicht alle Akteure des Gesundheitswesens sind von seinen Plänen begeistert. Teilweise, weil sie um das Wohl der Patienten fürchten, teilweise um das eigene Wohl besorgt sind. Was auch immer der Reformvorschlag an Gutem bewirken könnte – er muss sich erst einmal durchsetzen.

Es wird spannend sein zu beobachten, ob und welche Partikularinteressen am Ende die Oberhand gewinnen. Ob es einen Bremsversuch gibt oder das Gaspedal vor der Mauer noch einmal kräftig durchgetreten wird.