Demokratie

„Propagandaübung“: Berlin kritisiert Putins Scheinwahlen in ukrainischen Gebieten

In Russland und den besetzten ukrainischen Gebieten wird gewählt. Experten sind sich einig, dass das Ganze nur Schein ist – denn kritische Stimmen werden systematisch unterdrückt.

Ein Russe gibt während einer vorgezogenen Stimmabgabe im Vorfeld des 10. Septembers, dem Tag der einheitlichen Wahlen in Russland, seine Stimme ab.
Ein Russe gibt während einer vorgezogenen Stimmabgabe im Vorfeld des 10. Septembers, dem Tag der einheitlichen Wahlen in Russland, seine Stimme ab.Alexander Reka/TASS/imago

In Moskau ist an diesem Sonntag Bürgermeisterwahl. Wer Wahlkampf sucht, der sucht vergeblich, denn im Zentrum der russischen Hauptstadt gibt es kaum Plakate und Parteien-Stände erst recht nicht. In einigen Hausfluren liegen immerhin Zettel mit einem Aufruf zur Online-Stimmabgabe. Stattdessen gibt es Blumen von Amtsinhaber Sergej Sobjanin, der auf seine Wiederwahl setzt. Dieses Ziel dürfte er Prognosen zufolge auch locker erreichen.

Vor dem Roten Platz sind riesige Blumenbeete aufgestellt worden. In vielen Straßen laufen Passantinnen und Passanten nun unter blütenreich bepflanzten Bögen hindurch. Bei spätsommerlichem Wetter sind die Straßencafés voll. Von Russlands Krieg gegen die Ukraine ist nichts zu spüren.

Sobjanin ist bekannt dafür, dass er, insbesondere vor Wahlen, die Millionenmetropole aufhübschen lässt. Demonstrations- und Meinungsfreiheit gibt es kaum noch, stattdessen aber Blumenmeere, neue Spazierwege und schicke Kinderspielplätze in den reicheren Vierteln der Stadt. Bei vielen Bewohnerinnen und Bewohnern genießt der 65-Jährige Popularität. Bei kritisch eingestellten Moskauern hingegen sorgt sein Vorgehen für Spott und Verdruss. Gerne zeigt sich der Mann von der Kremlpartei Geeintes Russland bei öffentlichen Auftritten an der Seite von Präsident Wladimir Putin.

Russlands Machthaber Wladimir Putin und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin bei einer Zeremonie in Moskau.
Russlands Machthaber Wladimir Putin und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin bei einer Zeremonie in Moskau.Kristina Kormilitsyna/TASS/imago

Russland hält Wahlen in annektierten Gebieten der Ukraine ab

Doch nicht nur in Moskau stehen am Sonntag Wahlen an. Russlandweit werden an dem Tag in insgesamt 22 Regionen die Gouverneure neu bestimmt, in 16 Gebieten die Regionalparlamente. Mehr als anderthalb Jahre nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat die russische Besatzungsmacht zudem Abstimmungen in den annektierten Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson angesetzt.

Die Urnengänge dort haben bereits Ende August begonnen, doch international anerkannt werden ihre Ergebnisse nicht – ebenso wenig, wie das bei den Schein-Referenden zur völkerrechtswidrigen Einverleibung der vier Gebiete im vergangenen Jahr der Fall war.

Das Auswärtige Amt hat die derzeit stattfindenden Kommunal- und Regionalwahlen in von Russland besetzten ukrainischen Gebieten verurteilt. Bei den „Scheinwahlen“ handle es sich um „nichts weiter als eine durchschaubare Propagandaübung“, erklärte das Außenministerium am Freitag im Onlinedienst X, ehemals Twitter. „Wir erkennen Russlands versuchten Landraub nicht an“, hieß es weiter.

Wahlbeobachter: „Inhaltsleerste, langweiligste und unauffälligste Wahlkampf“

Aber auch auf russischem Boden ist man Beobachtern zufolge von fairen und freien Wahlen so weit entfernt wie noch nie seit Beginn von Putins Herrschaft vor rund 24 Jahren. „Das ist der inhaltsleerste, langweiligste und unauffälligste Wahlkampf in der jüngeren Geschichte Russlands“, schreiben die Wahlbeobachter der unabhängigen Organisation Golos (deutsch: Stimme) in einem Bericht.

Ihr Co-Vorsitzender Grigori Melkonjanz wurde erst kürzlich in Moskau inhaftiert. Die Organisation, die bereits in den vergangenen Jahren immer wieder massive Verstöße gegen das Wahlrecht sowie Betrug offenlegte, ist dem Machtapparat ein Dorn im Auge und bereits seit Jahren als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt.

Auch dieses Mal hat Golos bereits Fälle von Druck und Manipulation aufgedeckt, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist. In staatlichen Institutionen etwa fordern Vorgesetzte ihre Angestellten mittlerweile ganz offen und unverfroren dazu auf, ihre Stimme den Kandidaten von Geeintes Russland zu geben, schreiben die Golos-Experten in ihrem Bericht. Die Kremlpartei mit ihren landesweit insgesamt 34.000 Kandidaten werde zudem in staatlichen Medien so viel gezeigt und gelobt wie keine andere Partei.

Russland geht hart gegen politische Gegner vor

Seit Kriegsbeginn gegen die Ukraine haben die Repressionen gegen Kremlkritiker im flächenmäßig größten Land der Erde massiv zugenommen. Die Zahl der Bewerbungen für politische Ämter ist drastisch gesunken. Die Straflagerhaft für Russlands wohl bekanntesten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der 2013 bei der Bürgermeisterwahl in Moskau noch auf mehr als 27 Prozent der Stimmen gekommen war, wurde Anfang August auf 19 Jahre erhöht. Ihrer Freiheit für viele Jahre beraubt sind auch Politiker wie Wladimir Kara-Mursa, Ilja Jaschin, Andrej Piwowarow – die Liste ließe sich lange fortsetzen.

Die einzige wirkliche Oppositionspartei, die noch Kandidaten ins Rennen schickt, ist Jabloko. Doch die liberale Partei mit dem Apfel-Logo, die schon seit 2007 nicht mehr in der Duma sitzt, kämpft mittlerweile vor allem gegen die politische Bedeutungslosigkeit – und gegen staatliche Schikanen. Ein Jabloko-Kandidat wurde in St. Petersburg beim Verteilen von Wahlkampfbroschüren festgenommen. Bei einer Parteikollegin rückte die Polizei zur Hausdurchsuchung an, gegen eine andere laufen Ermittlungen wegen einer weiß-blau-weißen Fahne – ein Symbol russischer Kriegsgegner.

Wichtig seien die September-Wahlen vor allem für den Machtapparat in Moskau, sagen unabhängige russische Experten. Immerhin handelt es sich um die letzte große Abstimmungswelle, bevor Putin sich aller Wahrscheinlichkeit nach im kommenden Frühjahr in seine fünfte Amtszeit wählen lassen will.

Wahlen in Russland haben hohen symbolischen Wert

„Die Demonstration von Kontrolle ist das Hauptthema dieser Wahlen“, sagt der im Exil lebende Politologe Kirill Rogow in einem Medien-Briefing, das die Deutsche Sacharow-Gesellschaft organisierte. Auch sein in Moskau gebliebener Kollege Alexander Kynew spricht von „symbolisch sehr wichtigen“ Abstimmungen für den Kreml – auch mit Blick darauf, dass viele der Regionen, in denen nun gewählt wird, traditionell eher als Protestregionen galten.

Der renommierte Soziologe Lew Gudkow wiederum hält es für Kalkül, dass es ausgerechnet bei diesen Wahlen in Kriegszeiten kaum noch sichtbaren Wahlkampf gibt. Unzufriedene und oppositionell eingestellte Bürgerinnen und Bürger sollten gar nicht erst auf die Idee kommen, sie könnten mit ihrer Stimme noch etwas bewirken, sagt der Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Auf die Frage, inwieweit die Wahlen jetzt angesichts der massiven Repressionen überhaupt noch als aussagekräftiger Stimmungstest gelten können, hat Gudkow eine äußerst knappe Antwort parat: „Gar nicht.“ Dann muss er kurz schmunzeln und fügt hinzu: „Das ist wie eine Art Schönheitswettbewerb der örtlichen Bürokratie.“