Wie geht es für Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin nach dem bewaffneten Aufstand weiter? Und was sind die Konsequenzen für Russland und die Wagner-Söldner? Nach Einschätzung von US-Experten wird die russische Privatarmee wohl weiter zum Einsatz kommen. Die Rückkehr von Wagner-Truppen in ihre Ausbildungslager mit militärischer Ausrüstung deute darauf hin, dass der Kreml zumindest Teile der Gruppe eher aufrechterhalten wolle, als sie aufzulösen, erklärte das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) am Sonntag (Ortszeit). Die Zukunft der Kommando- und Organisationsstruktur sei jedoch unklar.
Die Denkfabrik stützte sich bei ihren Einschätzungen auf die Aussagen des Leiters des russischen Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow, der erklärt hatte, dass es nicht notwendig sei, die Wagner-Gruppe zu verbieten, da sie „die kampfbereiteste Einheit in Russland“ sei. In Russland wird derzeit nach einer Anweisung von Kremlchef Wladimir Putin an einem Gesetz zur Regulierung privater Militärunternehmen gearbeitet.
Dass Kartapolow versuche, Wagner-Söldner von eigener Verantwortung für den Aufstand freizusprechen, könnte nach Einschätzung des ISW auf den Wunsch der russischen Regierung hindeuten, die Kämpfer weiterhin etwa in der Ukraine oder in internationalen Missionen einzusetzen. Der Kreml hatte am Samstag erklärt, dass Teile der Wagner-Truppe dem Befehl des Verteidigungsministeriums unterstellt werden sollen. Das hatte Söldnerchef Prigoschin abgelehnt. Er wirft dem Verteidigungsministerium Missmanagement und Unfähigkeit vor.
Russische Behörden gehen gegen Gruppe Wagner vor
Am vergangenen Wochenende war in Russland ein lange schwelender Machtkampf zwischen der regulären Armee und der privaten Söldner-Gruppe Wagner eskaliert. Unter der Führung von Prigoschin besetzten die Wagner-Söldner am Samstag etwa die südrussische Stadt Rostow am Don und drohten mit einem Marsch auf Moskau. Am Samstagabend dann beendete Prigoschin den Aufstand überraschend wieder. Von dem 62-Jährigen fehlte unterdessen weiter jede Spur. Er soll nach Kremlangaben im benachbarten Belarus Zuflucht finden. In seinem Telegram-Kanal, der mehr als 1,3 Millionen Abonnenten hat, stammt die letzte Nachricht von Prigoschin vom Samstag, als er nach Verhandlungen mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko das Ende des kurzen Aufstands verkündet hatte.
Die russischen Behörden gingen unterdessen gegen die Wagner-Organisation in Russland vor. In St. Petersburg, dem Stabsquartier Prigoschins, gab es dortigen Medien zufolge Razzien in den Büroräumen. Im Land wurden auch Werbeplakate entfernt, mit denen die Privatarmee Freiwillige für den Kriegsdienst in der Ukraine rekrutieren wollte. Tausende Söldner dienen in der Wagner-Truppe. Das soziale Netzwerk VK – das russische Gegenstück zu Facebook – sperrte auf Anweisung der Generalstaatsanwaltschaft die Seite von Wagner.
Strafverfahren gegen Prigoschin läuft noch
Das Strafverfahren gegen Prigoschin wurde Moskauer Medien zufolge bisher nicht eingestellt. Ermittler des Inlandsgeheimdienstes FSB untersuchten den Fall weiter, berichtete die Zeitung Kommersant am Montag unter Berufung auf die Fahnder. „Die Ermittlungen laufen weiter“, meldete auch die russische Nachrichtenagentur Interfax unter Berufung auf eine eigene nicht näher benannte Quelle. Der Kreml hatte am Samstagabend mitgeteilt, dass das Strafverfahren gegen Prigoschin und die Wagner-Aufständischen eingestellt werde.
Kremlchef Wladimir Putin hatte am Samstag in einer Rede erklärt, dass die Drahtzieher des Aufstandes ihrer „unausweichlichen Bestrafung“ zugeführt würden. Dass dann der Kreml wenig später erklärte, die Aufständischen kämen nach Ende der Revolte und dem Abzug aus Russland doch ungeschoren davon, löste Erstaunen in dem Riesenreich aus. Kommentatoren legten das Einlenken Putins als Schwäche des Kremlchefs aus.
Erste Video-Ansprache von Putin seit Ende des Wagner-Aufstands
Putin zeigte sich am Montag erstmals seit dem Ende des Aufstands der Söldnertruppe Wagner in einer Videoansprache der Öffentlichkeit. Der Kreml veröffentlichte das Video am Montag anlässlich eines Jugendforums mit dem Titel „Ingenieure der Zukunft“. In seiner Rede lobte Putin die „stabile“ Arbeit der russischen Industrie „im Angesicht ernster Herausforderungen von außen“.
Experten und westliche Politiker sehen Putin durch den Wagner-Aufstand dennoch geschwächt. Die Rebellion machte nach ihrer Einschätzung Risse in Putins Machtgefüge deutlich.
Europäer sehen „Risse“ in Putins Machtgefüge
Der Aufstand von Prigoschin spalte die russische Militärmacht und zeige die Schwächen des politischen Systems, sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag beim Außenministertreffen in Luxemburg. Die deutsche Ressortchefin Annalena Baerbock (Grüne) sprach von einem „innenpolitischen Machtkampf in Russland“, der „massive Risse in der russischen Propaganda“ offenbare.
„Das Monster, das Putin mit Wagner geschaffen hat, beißt ihn nun“, sagte Borrell weiter. Es sei beunruhigend, dass eine Atommacht wie Russland dermaßen instabil werden könne.
Putin hatte Prigoschin jahrelang freie Hand gelassen, in russischen Gefängnissen Kriminelle für seinen Söldnerdienst zu rekrutieren. Wagner-Söldner spielten in den vergangenen Monaten eine wichtige Rolle im Ukraine-Krieg, vor allem bei dem langwierigen und verlustreichen Kampf um die ostukrainische Stadt Bachmut. Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg verglich Putin deshalb mit dem Zauberlehrling aus der gleichnamigen Ballade von Johann Wolfgang von Goethe: „Er wird die Geister nicht los, die er rief“, sagte Schallenberg.
„Risse, Brüche und Verwerfungen innerhalb des russischen Systems“
Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna sagte, die Krise offenbare „Risse, Brüche und Verwerfungen innerhalb des russischen Systems“. Baerbock ergänzte, es seien „verheerende Folgen des russischen Angriffskriegs auch auf das Machtsystem von Putin“ erkennbar. Es sei aber noch „unklar, welche weiteren Akte in diesem Schauspiel folgen werden“.
US-Außenminister Antony Blinken hatte am Sonntag ebenfalls von „Rissen“ in Putins Machtgebäude gesprochen. Während die US-Geheimdienste laut Medienberichten allerdings vor dem Aufstand Hinweise auf die Pläne Prigoschins hatten, wurden die Europäer vom Ausmaß der Revolte offenbar überrascht.
Berlin beobachtet Lage in Russland – und kann „ansonsten wenig tun“
Die Bundesregierung kann sich nach Angaben ihres Sprechers Steffen Hebestreit noch keinen Reim auf die Ereignisse vom Wochenende in Russland machen. „Wir können beobachten und ansonsten wenig anderes tun“, sagte der Regierungssprecher am Montag in Berlin. „Wir verfügen über keine eigenen Erkenntnisse, die wir hier bereitstellen könnten, was sich da wirklich zugetragen hat.“
Eine Bewertung des Söldner-Aufstands – etwa zu den Auswirkungen auf die Machtstellung von Putin – wolle die Bundesregierung folglich nicht abgeben: Hebestreit sprach lediglich von einem „Putschversuch, oder was immer das gewesen sein mag“. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe sich laufend mit den internationalen Partnern beraten „und ansonsten sich mit allem sehr zurückgehalten“, sagte Hebestreit.
Bei den Ereignissen vom Wochenende handle es sich nach Einschätzung der Bundesregierung „erstmal um eine innerrussische Angelegenheit“, fuhr Hebestreit fort. Möglicherweise dauere es noch „Tage und Wochen, bevor wir da zu einer einer belastbaren Einschätzung kommen können“.
Hebestreit fügte hinzu: „Das waren sehr aufregende Stunden, die wir da erlebt haben.“ Es habe sich um eine „sehr sehr ernste Angelegenheit“ gehandelt.








