Es wird unruhig im Saal. Der Justiziar des Senats hat gerade darauf hingewiesen, dass während des NS-Regimes sechs Millionen Juden umgebracht wurden. „Ich hör’ schon die Fans das im Hintergrund bestreiten“, sagt er. Der Richter weist darauf hin, dass die Nazi-Verbrechen wissenschaftlich bewiesen seien. Die „Fans“ sind wegen Rüdiger Borrmann da.
Fortgesetzt wird an diesem Montag der Rechtsstreit zwischen dem Senat und dem Berufsschullehrer Borrmann. Der wehrt sich gegen seine Kündigung wegen seiner Kritik an der Impfpolitik der Bundesregierung – auch mit kontroversen Nazi-Vergleichen. Nun hat der Senat nachgegeben. In der zweiten Instanz des Arbeitsgerichts einigten sich der Lehrer und die Schulverwaltung nach längeren Diskussionen und Feilschen auf einen Vergleich, allerdings mit Widerrufsrecht.
Der angestellte Lehrer hatte während der Corona-Pandemie ein YouTube-Video veröffentlicht, in dem das Tor eines Konzentrationslagers mit der Inschrift „Impfung macht frei“ abgebildet war. Borrmanns Anwalt, Tobias Gall, argumentierte vor Gericht mit „Kunstfreiheit“. Es handele sich bei dem Bild um ein „Meme“.
Auf das Bild von dem KZ folgte ein Tweet des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), der eine Ausweitung des Impfens ankündigte mit der Aussage „Impfen ist der Weg zur Freiheit“. In weiteren Videos behauptete der Lehrer unter anderen, die Corona-Impfpflicht habe schlimmere Folgen als die Regime von Hitler, Stalin und Mao. Das Tragen von Masken wiederum gleiche einem „modernen Hakenkreuz“.
Der Lehrer akzeptiert die Kündigung und erhält 50.000 Euro Abfindung
Anwalt Gall redete sich teils in Rage und kritisierte die Medien. Es habe einen zehnminütigen „Tagesthemen“-Beitrag über den Lehrer gegeben. Das sei unverhältnismäßig, so der Jurist. Borrmann selbst sucht in der Verhandlungspause die Nähe zu Journalisten. Und in Anwesenheit des Richters tönt er: „Gibt es nicht einen Schulsenator, der anerkennt, was ich geleistet habe für die Demokratie? Für meine Schutzbefohlenen! Dass sie dieses Zeugs …“
Das Land Berlin kündigte dem Lehrer, weil er die Impfpolitik mit dem Nazi-Regime gleichsetze, den Nationalsozialismus verharmlose und die Opfer missachte. Auch viele Schüler des Oberstufenzentrums in Berlin-Wedding hatten sich – teils öffentlich – über die Aussagen des Pädagogen beschwert. Sie fühlten sich von dem 62-Jährigen politisch unter Druck gesetzt.
Der 62-jährige Lehrer akzeptiert schließlich seine Kündigung „aus betrieblichen Gründen“ und erhält 50.000 Euro Abfindung. Die Senatsschulverwaltung erklärt, „dass aus heutiger Sicht die Vorwürfe nicht weiter aufrecht erhalten werden“. Dieser Aspekt ist Teil des Vergleichs. Die Senatsschulverwaltung hat nun vier Wochen Zeit für einen möglichen Widerruf des Vergleichs.
Prozessbeobachterin spricht vom Nürnberger Kodex
Die Fans, von denen der Justiziar des Senats sprach, sind in einer Prozesspause aktiv. Eine Frau, die einen Button mit dem Logo der Partei Die Basis trägt, fragt einen Medienvertreter, ob er von der „offiziellen Presse“ sei. Eine andere Frau spricht Borrmanns Anwalt an. Ob er denn nicht was zum Nürnberger Kodex sagen könne. Im Fall der Corona-Impfung handele es sich ja auch um ein „medizinisches Experiment“. Der Anwalt antwortet, dass man ja wisse, wie die vorherrschende Meinung sei und dass man dem Gericht nicht die Gelegenheit geben dürfe, auf seinen Mandanten „einzudreschen“.
Der Nürnberger Kodex ist vor 75 Jahren im Lauf des ersten Nürnberger Ärzteprozesses entstanden. In dem Prozess wurden 1946/47 Ärzte und Gesundheitsbeamte wegen Euthanasie und Menschenversuchen während der Zeit des Nationalsozialismus angeklagt. Sie hatten mit der Begründung, kriegswichtige medizinische Forschung zu betreiben, grausame Verbrechen an wehrlosen Häftlingen von Konzentrationslagern unternommen. Am 20. August 1947 verkündete das amerikanische Militärgericht mit den Urteilen auch zehn medizinethische Grundsätze, den Nürnberger Kodex.





