Dass der Stadtkern einer europäischen Metropole neu bebaut wird – das gibt es nicht alle Tage. Berlin hat diese Chance, nach Kriegszerstörung und den autogerechten Umbauten des 20. Jahrhunderts, seine Alte Mitte wieder zu einem attraktiven öffentlichen Ort zu machen. Im Bereich Molkenmarkt und Klosterviertel sind mit einem mehrfach präzisierten Bebauungsplan die Grundlagen dafür geschaffen.
Aus einem offenen städtebaulichen und freiraumplanerischen Wettbewerb gingen Ende 2021 zwei Sieger hervor. Ein Team der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen um Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt hat auf Basis der Wettbewerbsergebnisse die Charta Molkenmarkt vorbereitet, die neben einem städtebaulichen Masterplan auch ein Gestaltungshandbuch enthalten soll. Sie soll am Dienstag vorgestellt werden.
So bedeutend die Aufgabe, so heftig der Streit. Seit 20 Jahren zeigt sich die städtebauliche Debatte um die Berliner Mitte in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite die Nachkriegsgeneration, darunter viele Architekten, die unbedingt historische Bezüge verhindern wollen, weil sie darin die Gefahr der Legitimierung alter Zustände wittern. Die andere Seite stellt genau die Besinnung auf Geschichte, verlorene Stadtstruktur und Gebäude ins Zentrum ihres Begehrens.
„Ein besonderer unter besonderen Orten“
Die Konfrontation führte im Jahr 2022 zu unfruchtbaren, vergifteten Streitereien und gipfelte im Mai 2023 in der Diffamierung der Senatsbaudirektorin, der Katalin Gennburg (Linke) unterstellte, sie agiere als „verlängerter Arm des Berliner Baufilzes“. Zuvor hatte es Gerüchte über das Einfädeln von Grundstücksdeals gegeben. Im Hintergrund schwelt zudem der Verdacht, Kahlfeldt werde sich auf die Seite der Historienfreunde schlagen. Sie hatte keinen der beiden Siegerentwürfe zum allein umzusetzenden erklärt und ein Überdenken des Vorliegenden eingeleitet. Ob es gelingt, das Beste aus beiden Entwürfen zu vereinen?
„Ein besonderer unter den besonderen Orten“ nennt Markus Tubbesing, Professor für Entwurf und Denkmalpflege an der Fachhochschule Potsdam, den Molkenmarkt: „Dort liegt das Zentrum der 800-jährigen Stadt.“ Dort solle der Ort entstehen, der für Berliner wie Nichtberliner „das Herz der Stadt“ formuliert. Das habe die europäische Stadt immer vermocht: den Menschen erlebbar zu machen, wo die Mitte ihrer Stadt liegt. „Das sollte das Leitkriterium für die Pläne sein. Man muss sich immer wieder klar machen: Dies ist ein zentraler Raum, der braucht Zentrumsarchitektur“, sagt der Architekt, Denkmalpfleger und Architekturhistoriker.

Mit den jungen Leuten, die in Potsdam Architektur studieren, hat er gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dieter Eckert Entwürfe für den Molkenmarkt und das Umfeld der Franziskanerklosterkirche entwickelt und dabei beobachtet, dass die junge Generation längst nicht mehr so polarisierend denke wie die heutigen Akteure. Bislang unbesprechbare Fragen seien in der nächsten Generation nicht mehr „des Teufels“: „Die Studierenden wollen einen qualitativ stimmigen Stadtraum, betrachten das in der Vergangenheit Realisierte als Archiv, berufen sich auf die früher angewendeten Methoden, Kriterien, Charakteristika – und beziehen das auf den aktuell in Rede stehenden Zentrumsraum.“ Ihr Denken richte sich darauf, wie eine geschichtsbewusste, sozialverträgliche und nachhaltige Stadt entstehen kann und nicht auf vermeintliche Gegensätze wie „soziale Stadt“ versus „historische Stadt“. Und weil sie Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit fänden, würden sie eine große Bereitschaft zeigen, sich auf den jeweiligen Ort, hier den Molkenmarkt, einzulassen.
Neben dem historisch orientierten Leitkriterium formuliert Markus Tubbesing drei weitere „Pflichtkriterien“. Erstens: nicht in erster Linie von den Gebäuden her zu denken, sondern von den beabsichtigten Stadträumen her, also den Plätzen, Straßen, Gassen, Höfen. Dort hielten sich künftig auch solche Menschen auf, die nicht im Klosterviertel wohnen. „Statt zu überlegen, wie bebaue ich Block A, B, C oder D, sollten wir uns zunächst fragen: Was sollen die Klosterstraße, der Jüdenhof, die Parochialgasse künftig leisten?“
Zweitens: Jeder dieser Räume müsse charakterlich präzisiert werden – jede Straße, jeder Platz, jede Gasse und jeder Hof. „Es muss lebhafte Räume der Begegnung und ruhige Räume für die Erholung und des privaten Rückzugs geben. So entsteht eine Stadt.“ Drittens: Um das zu erreichen, müsse auf die Parzellengrößen geachtet werden: „An ihnen entscheidet sich, ob und wo sich künftig die Vielfalt und urbane Dichte entfalten kann, die wir mit den Zentren unserer europäischen Städte verbinden.“
Hinsichtlich der Kosten plädiert Tubbesing für das Setzen von Prioritäten: „In weniger öffentlichen Bereichen muss kein großer Aufwand betrieben werden; umso hochwertiger muss die Ausführung an herausragenden Orten wie dem Molkenmarkt sein – als Signal: Dieser Ort ist wichtig.“
Gebäude für 200 Jahre – und ohne Beton
Nachhaltigkeit definiert er vorrangig im Sinne der Bestandsdauer von Gebäuden. 200 Jahre sollten sie schon stehen. Und er hält am Molkenmarkt das Bauen ohne energieintensiven Beton für möglich: Dieses Material sei in erster Linie im Tiefbau unentbehrlich. Aber am Molkenmarkt könne man auf schwere Infrastruktur wie Tiefgaragen verzichten; die Bewohner dieses Innenstadtquartiers sollten größtenteils ohne private Pkw auskommen, findet Tubbesing. Anlieferung sei auch über die Gassen möglich, so wie in vielen anderen Metropolen Europas, deren belebte Innenstädte zugleich echte Lieblingsorte sind. Der Molkenmarkt könnte so ein „Vorbild in der Mobilitätswende“ werden – und wenn Energiequellen wie Geothermie zum Einsatz kämen, auch Vorbild der Energiewende.
Er verweist darauf, dass die Architekturstudierenden inzwischen häufig vom „einfachen Bauen“ sprechen: „Das ist mit handwerklich verarbeiteten Naturmaterialien wie Putz, Backstein, Lehm und Holz möglich und auch energetisch günstig. Hohe Effizienz durch Lowtech mit wenig technischer Struktur – das bringt immense Einsparung von Beton und Stahl.“ Energetisch betrachtet bedarf das moderne Diktum nach „Licht, Luft und Sonne“ dringend einer Differenzierung: „Dort, wo uns in der Stadt die Sonne zusetzt, können engere Straßenquerschnitte für Verschattung sorgen.“
„Sonne gar nicht erst in die Straße lassen“
Tubbesing beobachtet, dass sich die Studentinnen und Studenten immens für Erfahrungen interessieren, die auf den Umgang mit erhitzten Städten vorbereiten. Vorbilder gebe es zum Beispiel im Süden Europas: „Italienische Städte haben 2000 Jahre Erfahrung mit Hitze“, sagt er, „da wird mancherorts die Sonne gar nicht erst in die Straße hineingelassen“. Klar ist auch, dass die Versiegelung vieler Flächen mit wasserundurchlässigem Asphalt rückgängig gemacht werden kann.
Und wie gelingt eine dauerhaft angenehme Ästhetik? „Wohlbefinden hängt nicht von einer spektakulären Kulisse ab“, sagt der Kenner vieler Architekturvorbilder und nennt das Züricher Niederdorf, das lebendige Zentrum der Schweizer Großstadt, mit seinen einfachen, aber vielfältigen Stadthäusern und historischen Bezügen: „Nicht Einzelarchitektur ist wichtig, sondern der schöne Stadtraum, also die Straßenzüge, die Plätze …“ So etwas entstehe nicht durch Wettbewerbe, sondern durch das gemeinsame Setzen von Gestaltungskriterien und Entwurfsprinzipien und ein übergeordnetes Interesse am Stadtraum.

Als Autor publizierte er u.a.: „Der Wettbewerb Groß-Berlin 1910. Die Entstehung einer modernen Disziplin Städtebau“, Ernst-Wasmuth-Verlag, 2018 und „Atlas zum Städtebau“ als Mitherausgeber und Autor mit Vittorio Magnago Lampugnani und Harald R. Stühlinger, zwei Bände, Hirmer-Verlag München, 2018.
An der Hochschule ist er Prodekan für Forschung und Transfer sowie stellvertretender Dekan.
Und dann wäre der schon erwähnte Punkt: die Parzellengröße, die große offene Frage. Tubbesing ist überzeugt: „Wenn sich die momentane Idee, mit großen Wohnungsbaugesellschaften große Baublöcke zu errichten, durchsetzen sollte, käme nie eine dichte und vielfältige Stadt heraus. Die Baugesellschaften können großmaßstäblichen Siedlungsbau, sind aber nicht die richtigen Akteure für einen solchen Stadtraum.“ Ohne vielfältige Akteure könne es keine Lebendigkeit geben.
Aber wer könnten die Akteure sein? Die Sorge ist groß, eine Handvoll Superreiche oder eine geschickt agierende Interessengruppe könnte sich mit einem Trick die attraktiven Grundstücke krallen. Dann übernähme womöglich Spekulation die Regie wie an so vielen Stellen in Berlin in den vergangenen Jahren (übrigens auch, als nach dem CDU-Filz Berlin von SPD, Grünen und Linke regiert wurde).
In Mitte hat sich seit Jahrzehnten eine starke, lebendige und vielfältige Beteiligungskultur entwickelt: Gruppen, Gesellschaften, Vereine, Stiftungen, Initiativen und Privatpersonen. Eine solide Basis für ein Gelingen. Tubbesing warnt: „Das sollte man nicht ersticken, sondern diese Energie nutzen.“ Zu diesen Gruppen gehört der Förderverein des Gymnasiums zum Grauen Kloster-Mitte e.V., der in Zusammenarbeit mit der Stiftung Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster am historischen Standort des ehemaligen Franziskanerklosters, wo seit dem 16. Jahrhundert das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster lag, eine tolerante, weltoffene Schule etablieren will. Sehr verlockende Entwürfe von Bauten in Backstein werden auf der Internetseite präsentiert.
Unter anderem der Förderverein wird auf dem Mitte-Fest 2023, das die Stiftung Mitte Berlin vom 1. bis 3. September an der Parochialkirche veranstaltet, vertreten sein – ein Beleg dafür, dass die Bürgerschaft auf der Suche ist nach einer gesellschaftlichen Vorlage für ein soziales, zukunftsfähiges, geschichtsbewusstes Quartier.

Das Programm für das Mitte-Fest im Flyer zum Download: https://stiftung-mitte-berlin.de
In dieser Vielfalt der Akteure liege, so Tubbesing, ein wichtiges Kriterium für das künftige Klosterviertel: Kleinteiligkeit, große Variation, Integration verschiedener Modelle auf engstem Raum. Das könnte für die Besitzformen bedeuten, dass kommunales Eigentum mit Mietern eine ebenso große Rolle spielt wie auch Kleinteilig-Privates.




