1. Frühjährliche Fleischbeschau
Ich mag den Winter. Alle sind dick angezogen und die Unzulänglichkeiten der menschlichen Physis bleiben unter dicken Pufferjacken verborgen. Schals verdecken Schnupfennase und schlechtgelaunte Gesichter. Im Frühjahr dann steigt die Laune im allgemeinen, und proportional dazu fallen die Hüllen beziehungsweise die Winterklamotten werden eingemottet.
Man weiß, dass der Berliner Frühling da ist, wenn man den ersten, meist männlichen Radfahrer in Shorts und T-Shirt bei acht Grad sieht, als ob man die immer noch winterlichen Temperaturen einfach wegstrampeln könnte und überlisten, indem man sich schon mal anzieht wie im Hochsommer. Andere schlimme Indikatoren für den Wechsel der Jahreszeiten sind unbestrumpfte Beine und Miniröcke und natürlich die unvermeidbare Herrensandale. Aber die wird ja in Berlin und dem Rest des Landes auch im Winter getragen, dann allerdings mit Socke. Ein Albtraum! Marcus Weingärtner
2. Die Schrottmusik kommt zurück
Wenn am Mauerpark das Karaoke beginnt und die Schlange bei Hokey-Pokey für mehr Irritation als der Preis pro Eiskugel sorgt, dann ist Frühling. Und dann kommen sie wieder auf die Straße, die Musiker, die es eigentlich nicht können. Bevorzugt auf der Oderberger Straße, aber auch an anderen breiten Straßen laufen sie von Café zu Restaurant zu Bar und spielen genau diese drei Lieder: „Despacito“, „Careless Whisper“ und „Bésame Mucho“. Leider gehört auch zur Wahrheit: Sie können die Instrumente nicht spielen.
Das ist natürlich nicht immer so. Gerade am Mauerpark stehen oft Singer-Songwriter aus Island oder Australien, die ihre CD im Koffer verkaufen und manchmal bei Sonnenuntergang ganz magische Momente erzeugen können. Dann vergisst man das Getümmel und den Preis, den man eben für eine Eiskugel bezahlt hat und sucht den Fernsehturm, damit er im Hintergrund zu sehen ist, wenn man mit der Begleitung ein Selfie macht.
Meistens aber sitzt man im Café und muss leider die Straßenmusiker bitten, aufzuhören. Wenn sie dann protestieren und sagen, dass sie geübt hätten, kann ich nur antworten: „Aber nicht genug!“ Ich bin mir sicher, dahinter steckt im Grunde eine traurige Geschichte, irgendeine Form der Ausbeutung und erzwungener Bettelei in Form von „Despacito“. Sie sehen auch nicht fröhlich aus, wenn sie da stehen und in die Triola pusten. Es sieht nach quälendem Schichtbetrieb aus. Und ihre Saison beginnt jetzt wieder. Sören Kittel
3. Ansturm auf die Highlights: Im Frühling wird’s voll
Sie kennen vielleicht die Bilder vom Mount Everest und den sich stauenden Menschenmassen, die alle auf den höchsten Berg der Erde im Himalaya wollen. Nun, auch in Berlin gibt es ein Himalaya-Gebirge, oder zumindest eine dem Original nachempfundene Erlebniswelt im Tierpark, die seit dem Frühjahr 2022 geöffnet ist. Ein Besuch mit unserem Sohn war längst überfällig, schließlich leben im Tierpark-Himalaya nicht nur seine Lieblingstiere, die Kleinen Pandas, sondern man kann dort auch Kletterfelsen erklimmen und von oben auf Berlin blicken. Ein echtes Highlight für unseren kleinen Kraxler.

Das erste Mal stiegen wir an einem kalten Berliner Wintertag auf, es war wunderbar. Außer uns hatte sich kein Mensch auf den Gipfel verirrt, wir wähnten uns schon in einem Geheimtipp, schließlich ist die Erlebniswelt nicht eben leicht zu finden auf dem großen Areal. Dann machten wir kürzlich den Fehler, an einem warmen Frühlingstag am Wochenende das „Hochgebirge mitten in der Metropole“ erneut anzusteuern.
Was soll ich sagen, diese Idee hatten an diesem Tag gefühlt Tausende andere Berliner Familien ebenfalls. Überall sah man nun bunte Jacken und hörte johlende kleine Bergsteiger. Vor meinem inneren Auge sah ich die Mount-Everest-Massen. Mein Sohn stritt sich mit einem anderen Kind darüber, wo man hier klettern dürfe und wo nicht. Später sagte er zu mir: „Mama, neulich war es schöner hier.“ Frühling in Berlin, zumal nach den Corona-Jahren, heißt eben auch, sich die schönsten Plätze der Stadt wieder mit allen teilen zu müssen. Und Fluchtreflexe zu entwickeln ob all der Einheimischen und Touristen. Anne Vorbringer
4. Die Zeit der Gleichgültigkeit
Eigentlich kann man den Frühling gar nicht hassen. So wie man Erdbeereis nicht hassen kann. Oder Hundewelpen. In der Kombination aber schon. Neulich zum Beispiel. Da war dieser Mann im Gleisdreieckpark, vom Phänotyp ein Boomer mit Ray-Ban-Sonnenbrille und khakifarbener Zipp-off-Cargohose, die strukturelle Selbstzufriedenheit in Person. Probleme? Offensichtlich alle outgesourct.
Die ersten Frühlingssonnenstrahlen fielen jedenfalls gerade auf die Parkbank, und weil Herrchen sich mit drei Kugeln dann doch etwas übernommen hatte, durfte Hündchen auch mal schlabbern. Mir wurde schlecht. Mir wird sonst nie schlecht. War das noch Wohlstandsverwahrlosung oder schon Tierquälerei?
Der Frühling ist der Angeber unter den Jahreszeiten. Seht her, was ich alles kann! Plötzlich fängt alles an zu wachsen und zu sprießen, die Tage werden noch länger und alle Vögel, die schon oder immer noch da sind, glauben, sie müssten lauter sein als Vivaldis Violinen. Aus uns Menschen werden hormonverirrte Wesen, die Dinge tun, die sie monatelang nicht getan haben. Im Frühling steigen nicht nur die Anmeldungen auf Datingportalen, sondern auch die Selbstmordraten.
Nach Herbstblues und Winterfado bricht jetzt die Zeit an, die in meinen Ohren wie ein Schlaflied klingt. Ich werde müde, antriebslos. Das Leben: eine Fläche von unermesslicher Gleichgültigkeit. Wo soll da die Kraft herkommen, um etwas zu hassen oder einem Boomer das Erdbeereis ins Gesicht zu schmieren? Paul Linke
5. Warum die niedlichen Raupen an den Birken überhaupt nicht niedlich sind
Heuschnupfen war für mich lange ein Begriff, mit dem ich nichts anfangen konnte: Wer Heuschnupfen hat, muss sich eben einen Schal umwickeln, war einer meiner Sprüche. Dass so eine Malaise mich im fortgeschrittenen Alter heimsuchte, werte ich als gerechte Strafe für meine Ignoranz. Vor zehn Jahren hatte der Winter unendlich lange gedauert, und eines Tages im April explodierten alle Blüten gleichzeitig. Plötzlich war da dieses Augenjucken. Und das Niesen. Und der Rotz.
Den Frühling wollte ich mir nicht vermiesen lassen und beschloss, dass es sich um ein vorübergehendes Phänomen handele. Im Mai war es auch wieder vorüber – und vergessen.
Dann wurde es wieder Frühling. Und es passierte wieder. Ja, man könne Heuschnupfen auch spät bekommen, sagte die nette Apothekerin, die mir gleich Augentropfen gegen die Bindehautentzündung verkaufte und das Antihistaminikum Cetirizin. Gegen geschwollene, rot umrandete Klüsen halfen die Tabletten wenig. Aber ihr Vorteil liegt darin, dass man nachts gut schläft, und leider auch tagsüber. Und so lernte ich den Frühling mit seinen niedlichen Blütenraupen an den Haselsträuchern, Erlen und Birken zu hassen.
Gegen Heuschnupfen gibt es die sogenannte Hyposensibilisierung: Drei Jahre lang kann man sich jeden Monat beim Arzt eine geringe Dosis der Allergieauslöser injizieren lassen. Inzwischen jucken die Augen nicht mehr so stark. Ich bleibe aber skeptisch. Andreas Kopietz
6. Hochsaison der Übergangsjacke: das stoffgewordene Mittelmaß
Es gibt da so ein Lied, das „Übergangsjacke“ heißt. Es stammt von der Punkband Detlef und besteht mithin aus schrammeligen Gitarrenriffs und jeder Menge Rumgeschreie. „Zu viel Schnee und zu viel Regen, 13 Grad, ich bin dagegen“, brüllt der Sänger – und dann immer wieder: „Übergangsjacke, Übergangsjacke, Übergangsjacke“.
Tatsächlich entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet der Übergangsjacke ein solcher Song geschrieben wurde. Diesem konformistischsten aller Kleidungsstücke, das mit Punkrock ungefähr so viel zu tun hat wie Christian Lindner. Es handelt sich um eine Art urdeutsche Uniform, die genau jetzt wieder ihren bedauernswerten großen Auftritt hat – auch und gerade im frühlingshaften Berlin.
Nun könnte man sagen: eine Übergangsjacke – das kann doch eigentlich alles sein. Ein leichtes Wolljackett zum Beispiel, ein dünner Blazer oder eine nicht allzu dicke Bomber. Was aber gemeinhin unter dem Ü-Begriff firmiert, ist eine meist kastenförmige und oft mit Bündchen an den langen Ärmeln ausgestattete Zipperjacke, gefärbt am liebsten in bräsige Farben wie Khaki, Marine oder Oliv. Manchmal kommt die Übergangsjacke auch als leichter Puffer daher.





