Mobilität

Volle Züge und viel Ärger: Kommt mit dem Neun-Euro-Ticket das Chaos?

Das Billigangebot ist auch in Berlin eine Chance für den Nahverkehr. Doch es könnte zu großen Problemen führen, warnt Pro Bahn. Dafür gibt es ein Beispiel.

Schon heute ist der Andrang groß. Ein Regionalexpresszug hält im Bahnhof Alexanderplatz.
Schon heute ist der Andrang groß. Ein Regionalexpresszug hält im Bahnhof Alexanderplatz.Berliner Zeitung

Berlin-Das Neun-Euro-Monatsticket kommt – und es wird bundesweit im gesamten Nah- und Regionalverkehr gelten. Doch das neue Sonderangebot, das es ab Juni drei Monate lang geben soll, könnte schon bald seine Schattenseiten zeigen, warnt Karl-Peter Naumann von Pro Bahn. Der Ehrenvorsitzende des Fahrgastverbands befürchtet, dass der Regionalverkehr vielerorts überrannt wird. Pfingsten und an weiteren Wochenenden könnte es zum Teil sehr voll werden. „Es wäre nicht gut, wenn das Ticket gleich zu Beginn schlechte Presse bekommt, weil Fahrgäste nicht mehr in die Züge hineinkommen“, so Naumann zur Berliner Zeitung. Er erinnert an das Chaos, das bei der Einführung des Schöne-Wochenend-Tickets einige Verbindungen lahmzulegen drohte.

Zwei Tage für 15 Mark, umgerechnet 7,50 Euro, durch ganz Deutschland fahren – mit Regionalzügen und bis zu vier Mitreisenden. Mit diesen attraktiven Konditionen kam das Wochenend-Ticket der Deutschen Bahn im Februar 1995 auf den Markt. Die Gruppentarife waren sogar noch preiswerter. So konnten bis zu hundert Menschen für umgerechnet rund 80 Euro fahren. Es war kein Wunder, dass das neue Sonderangebot vom Start weg ein Erfolg wurde. Das Ziel, den Nahverkehr besser auszulasten, wurde erreicht. Allein bis zum Jahr 2000 wurden fast sieben Millionen Wochenend-Tickets verkauft. Umfragen ergaben, dass 40 Prozent der Nutzer Neukunden waren.

Für wenig Geld von Berlin an die Ostsee oder ins Ruhrgebiet

Doch auf vielen Verbindungen war der Andrang so groß, dass Zugbegleiter Überfüllungen von bis zu 200 Prozent meldeten. Betroffen waren vor allem touristisch interessante Strecken wie von Berlin an die Ostsee. Aber auch überregionale Umsteigeverbindungen, die billiges Reisen von Berlin zu Zielen wie Hamburg oder das Ruhrgebiet erlaubten, liefen über. Stammfahrgäste, die sich plötzlich mit Massen von neuen Mitreisenden und Verspätungen konfrontiert sahen, wurden rebellisch. Auch als der Preis des Wochenend-Tickets nach wenigen Monaten verdoppelt wurde, blieb das Problem bestehen. Erst als Verbindungen und Konditionen verschlechtert wurden, glätteten sich die Wogen.

Als Hamburger weiß Karl-Peter Naumann, wie es Mitte der 1990er-Jahre zum Beispiel auf der Strecke nach Westerland zuging. Damals machten Berichte von Punks aus Altona und Ottensen die Runde, die mit dem Wochenend-Ticket die Züge nach Sylt füllten – was auf der Nordseeinsel alles andere als positiv bewertet wurde. „Das Wochenend-Ticket hat einen positiven Schub ausgelöst“, bilanziert der Pro-Bahn-Ehrenvorsitzende. Doch es bedurfte weiterer Maßnahmen, um den Erfolg zu sichern.

Das nun geplante Neun-Euro-Monatsticket wird sogar noch günstigere Konditionen bieten. Für sehr wenig Geld jeweils einen Kalendermonat lang mit Linienbussen, S-Bahnen, Regionalzügen und anderen Nahverkehrsmitteln durch Deutschland reisen: Das könnte vielen Routen zahlreiche zusätzliche Fahrgäste bescheren – zum Beispiel von Berlin an die Ostsee, von München in die Berge, von Hamburg an die Nordsee.

„Die Strecke von Berlin nach Stralsund ist ein Beispiel für die Strecken, auf denen es sehr voll werden könnte“, warnte Naumann. Für den Regionalexpress RE3, der diese Verbindung ans Meer auf ganzer Länge befährt, hat die zuständige Stelle in Mecklenburg-Vorpommern lediglich einen Zwei-Stunden-Takt bestellt. Das reicht schon unter heutigen Bedingungen zumindest am Wochenende oft nicht aus.

„Wir wollen dauerhaft begeistern“

Am Sonntagabend sei das Risiko groß, am selben Tag überhaupt nicht mehr ans Ziel zu kommen. „Für Neukunden, die zum ersten Mal oder nach langer Zeit wieder Bahn fahren, ist das keine gute Werbung“, so Naumann. Doch die zu erwartenden Zustände werden die Fernpendler, die am Sonntag in ihre Arbeitsorte zurückfahren, ebenfalls nerven – und darüber nachdenken lassen, ob sie beim nächsten Mal lieber mit dem Auto fahren sollten. Naumann forderte, mehr Züge einzusetzen, wann immer das möglich sein. „Die Verantwortlichen müssen dafür sorgen, dass das Angebot aufgestockt wird.“

Auch ein hochrangiger Mitarbeiter der Deutschen Bahn (DB) äußert sich skeptisch. „Wir wollen unsere Neu- und Stammkunden dauerhaft begeistern“, sagte er der Berliner Zeitung. „Dieses Ziel werden wir nicht erreichen, wenn es so wird wie bei der Einführung des Wochenend-Tickets.“ Damals habe es „völlig überfüllte Züge“ gegeben. Eine weitere Gefahr sei, dass Kunden vom Fernverkehr abwandern – was die Erträge schmälert. Der Eisenbahner befürchtet, dass das auf drei Monate befristete Neun-Euro-Ticket ein Strohfeuer sein wird. „Es wäre besser gewesen, wenn der Bund die dafür vorgesehenen 2,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Infrastruktur verwenden würde“, sagte er. Immer noch seien wichtige Strecken eingleisig, fehle in Bahnknoten Kapazität. Eine andere Idee: „Mit dem Geld könnten wir alle verbliebenen Dieselstrecken elektrifizieren.“

„Dann sind einige Züge voll, na und?“

„Ich finde es skandalös, wie über das Thema diskutiert wird“, sagte dagegen Andreas Knie,  Mobilitätsforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Es sei völlig verfehlt, zu erwartende einzelne Überfüllungen zu betonen. „Dann sind einige Züge voll, na und? Das zeigt, dass das Angebot angenommen wird“, entgegnete er. Zudem seien es Einzelfälle. Fast alle Züge hätten genug Kapazität, um weitere Reisende aufnehmen zu können. Die Folgen der Corona-Pandemie machen sich weiterhin in den Fahrgastzahlen bemerkbar. „Im ersten Quartal 2022 liegen sie mit 81 Prozent immer noch deutlich unter dem Vor-Corona-Niveau“, sagte Knie. „Wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwollen.“ Da komme jede Aktion recht, um auf den öffentlichen Verkehr aufmerksam zu machen.

„Ja, es wird überfüllte Züge geben“, sagte Eike Arnold, Sprecher des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). „Pfingsten könnte es auf manchen Strecken voll werden.“ Doch auf den gesamten Drei-Monats-Zeitraum des Neun-Euro-Tickets bezogen, werde es bei Einzelfällen bleiben. „Wir hoffen auf das Verständnis unserer Fahrgäste – und darauf, dass sie sich über Alternativen informieren“, so Arnold. „Doch wir werden den Betrieb bewältigen.“ Es bleibe dabei: Um für Bahnen und Busse zu werden, sei das Neun-Euro-Monatsticket eine historische Chance.

„Der Ball ist auf dem Elfmeter-Punkt“, sagte Andreas Knie. „Nun muss er nur noch im Tor versenkt werden.“