Verkehr

„Völlig rücksichtslos“: Warum Pendler immer wieder in Hennigsdorf stranden

Wer aus dem Nordwesten Brandenburgs nach Berlin will, steigt hier um. Doch „Teletubbie-Anschlüsse“ nerven. Ein Fahrgast berichtet, der VBB antwortet.

Alltag im Bahnhof Hennigsdorf: Der Regionalexpress RE6 aus Wittenberge ist angekommen, die Fahrgäste gehen zur S-Bahn S25 nach Berlin. Doch nicht selten wird der Anschluss verpasst.
Alltag im Bahnhof Hennigsdorf: Der Regionalexpress RE6 aus Wittenberge ist angekommen, die Fahrgäste gehen zur S-Bahn S25 nach Berlin. Doch nicht selten wird der Anschluss verpasst.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Wenn man Sven Krein fragt, worüber er sich so ärgert, spielt er ein Video vor. Es zeigt Menschen, die im Bahnhof Hennigsdorf aus einem Regionalzug ausgestiegen sind und nun zu einer wartenden S-Bahn laufen. Manche rennen sogar, weil sie den Anschluss nach Berlin unbedingt erreichen wollen.

Doch kurz bevor sie bei der S25 angekommen sind, ist das typische Motorengeräusch zu hören – und die S-Bahn fährt den Umsteigern vor der Nase weg. „Völlig rücksichtslos“, sagt Krein. Ein Beispiel von vielen, erzählt der Pendler aus Velten, der mit seinem Handy einige Filme dieser Art aufgenommen hat. Hennigsdorf ist der Bahnhof der verpassten Anschlüsse, klagt er. „Verkehrswende 0.0.“

Hennigsdorf: eine Industriestadt im Land Brandenburg, vor den Toren Berlins gelegen. Stahl und Schienenfahrzeuge werden hier produziert. Doch Hennigsdorf ist auch ein wichtiger Transit-Ort für Fahrgäste, die von Neuruppin, Kremmen, Velten und anderen Orten in die Hauptstadt wollen. Der Prignitz-Express RE6 und die Regionalbahn RB55 kommen hier an, nach einigen Minuten soll es per  S-Bahn nach Berlin weitergehen. Auch zurück ins Umland sieht der Fahrplan Umsteigen in Hennigsdorf vor.

Fahrgastfrust durch „Sichtanschlüsse“

So weit die Theorie. Die Praxis sieht leider nicht selten anders aus, klagt Sven Krein. Schuld daran sind Verspätungen sowie Zugausfälle, vor allem bei der Regionalbahn. Probleme gebe es auch bei der Rückfahrt, berichtet er. „Ich bin schon öfter in Hennigsdorf gestrandet. Die S25 kommt zu spät an, der Regionalzug fährt pünktlich ab. Für die Fahrgäste bedeutet das Warten.“ Bis zu eine Stunde.

„Sichtanschluss“: So nennen es Bahnexperten ironisch, wenn ein Zug oder Bus vor der Nase wegfährt. Die Fahrgäste können den Anschluss zwar sehen, ihn aber nicht nutzen. Patrick Schardien hat einen anderen Begriff für das ärgerliche Phänomen: „Teletubbie-Anschluss“. Wie die Figuren fürs britische Kinderfernsehen können die Fahrgäste nur winke, winke machen, dann müssen sie auf die nächste Bahn warten. „Das ist frustrierend. So etwas soll es bei uns auf keinen Fall geben“, sagt Schardien, der oberster Qualitätstester beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) ist.

„Hennigsdorf ist der schwierigste Anschlusspunkt, den wir in unserem Gebiet haben“, urteilt der Ingenieur für Verkehrswesen. „Es gibt immer wieder Beschwerden von Fahrgästen.“ Weil der Umsteigebahnhof im Landkreis Oberhavel so wichtig ist, befassen sich Schardien und sein Team intensiv mit dem Thema, immer im Kontakt mit der Bahn.

Sven Krein auf dem Bahnhof Hennigsdorf. Der Bankkaufmann aus Velten pendelt nach Berlin-Wilmersdorf.
Sven Krein auf dem Bahnhof Hennigsdorf. Der Bankkaufmann aus Velten pendelt nach Berlin-Wilmersdorf.Berliner Zeitung/Peter Neumann

Hauptproblem sei, dass die Infrastruktur für die S-Bahn und den Regionalverkehr rund um Hennigsdorf sehr verspätungsanfällig sei, analysiert Schardien. „Sie ist auf beiden Seiten eingleisig und knapp kalkuliert.“ Die Zahl der Kreuzungsbahnhöfe, in denen sich Züge begegnen und aneinander vorbeifahren können, halte sich im Umkreis in Grenzen. Das bedeutet nicht nur Wartezeiten, es führt auch dazu, dass sich Verspätungen leicht auf andere Züge übertragen.

Infrastruktur wurde zu sehr „optimiert“: Weichen und Gleise abgebaut

Auf der S25 sind Zugkreuzungen im angrenzenden Berlin lediglich in Heiligensee und Tegel möglich. Noch prekärer ist die Lage für den Regionalverkehr: Die nächstgelegenen Kreuzungsbahnhöfe Velten, Neuruppin und Wittstock liegen weit auseinander. „Optimierte Infrastruktur mit einer minimalen Zahl von Kreuzungsstellen“: So nennt der VBB-Mann Schardien die Strecke für den Prignitz-Express, bei deren Sanierung in den 1990er-Jahren viele Weichen und Gleise abgebaut wurden.

Warum wird in Hennigsdorf bei Verspätungen nicht gewartet? „Dort wird durchaus auf verspätete S-Bahnen gewartet“, sagt Schardien. „Aber nur in gewissem Rahmen.“ Die Deutsche Bahn (DB) habe für Regionalzüge in diesem Teil des Netzes für solche Situationen eine Regelwartezeit von bis zu fünf Minuten festgelegt. Ist die S-Bahn länger verspätet, wartet der Zug nicht. „Sonst würden anderswo Anschlüsse verpasst.“

Das Verbundteam hat seine Datenbank so angepasst, dass Missachtungen dieser Regel dokumentiert werden. Im Schnitt komme es „fünf- bis sechsmal pro Woche“ vor, dass Lokführer in Hennigsdorf nicht lang genug warten. Der VBB informiert den Zugbetreiber DB Regio über solche Fälle. Minderungen der Zahlungen hat das aber nicht zur Folge.

In Fürstenwalde wird das Personal des Anschlusszugs automatisch informiert

Doch die Fünf-Minuten-Regel gilt nur für den Regionalverkehr. Für die S-Bahn sei wichtig: „Sie soll in Hennigsdorf nicht verspätet losfahren“, so Schardien. Schließlich gebe es auch im Nord-Süd-Netz der Berliner S-Bahn infrastrukturelle Zwänge, Verspätungen könnten sich übertragen. Eine Regel gebe es aber schon: „Wenn Fahrgäste gerade einsteigen wollen, muss die S-Bahn so lange noch warten.“

Auch anderswo sind Bus- und Bahnnutzer darauf angewiesen, dass Anschlüsse klappen. Wenn sich der Zug aus Berlin in Fürstenwalde/Spree verspätet, bekommt das Personal der Regionalbahn RB35 nach Bad Saarow-Pieskow automatisch eine Meldung aufs Mobiltelefon. In vielen Fällen könne dann gewartet werden, heißt es beim Verbund. Leider gebe es Technik dieser Art im VBB-Gebiet derzeit nur dort. In der Regel müssten Bahnmitarbeiter in Zügen und Leitstellen telefonieren, um Anschlüsse zu sichern.

„Öffentlicher Verkehr muss zuverlässig funktionieren“

Öffentlicher Verkehr habe auch mit Vertrauen zu tun, sagt Sven Krein. „Er muss zuverlässig funktionieren“ – zumal im Gebiet nordwestlich von Berlin. Denn dort lasse die Verlängerung der S-Bahn nach Velten auf sich warten, sie ist erst für Mitte der 2030er-Jahre vorgesehen. Pläne, die Strecke für den Prignitz-Express nach Berlin-Gesundbrunnen zu führen, haben die Länder auf Eis gelegt. „Die Fahrgäste werden noch viele Jahre lang darauf angewiesen sein, dass die Anschlüsse in Hennigsdorf klappen.“

Wenn sein 9-Euro-Ticket ab Ende August nicht mehr gilt, wird Sven Krein wie früher zur Arbeit  fahren: erst per Auto oder Fahrrad von Velten zum S-Bahnhof Heiligensee, von dort weiter nach Wilmersdorf. Kreins Firmenticket gilt nur für den Tarifbereich Berlin AB. Von der nächsten Woche an müssen Umsteiger in vielen Fällen in Hennigsdorf auch noch den Bahnsteig wechseln, das wäre ein weiterer Risikofaktor. „Ich habe es anders probiert“, sagt Krein. „Doch es hat nicht geklappt. Schade.“