Mit einem dramatischen Appell an die Brandenburger Landesregierung sind Verbände und die Gewerkschaft Verdi am Montag an die Öffentlichkeit gegangen. „Das Überleben des ÖPNV muss Chefsache werden“, fordern die Landesgruppe Ost des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), der Kommunale Arbeitgeberverband (KAV) Brandenburg sowie Verdi. Damit der Nahverkehr erhalten und ausgebaut werden kann, müssten „dringend gemeinsam mit den kommunalen Aufgabenträgern zukunftsfähige Finanzierungskonzepte gefunden werden, bei denen sich das Land nicht weiter aus der Verantwortung stiehlt“. In dem Appell von Potsdam wird es nicht offen ausgesprochen. Doch klar ist: Ohne Hilfe drohen Einschränkungen des Angebots für die Fahrgäste.
Auf den ersten Blick sieht es gut aus für die Menschen, die den Nahverkehr in Brandenburg nutzen oder dort arbeiten. So haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, Anfang des kommenden Jahres das Deutschlandticket einzuführen. Mit dem neuen Jahresabonnement, das pro Monat 49 Euro kostet, können bundesweit alle Busse und Bahnen des Nah- und Regionalverkehrs genutzt werden. Das ist auch für Menschen, die zwischen Berlin und Brandenburg pendeln, eine Chance, Kosten zu senken.
Verkehrsverbund VBB: „Das Timing könnte nicht besser sein“
„Wir erwarten, dass wir einen Beitrag für den Klimaschutz leisten, dass wir mehr Fahrgäste bekommen“, sagte Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV, der Nachrichtenagentur dpa. „Damit kann ich jetzt auch eine Entscheidung treffen: Wie gehe ich mit meinem Auto um? Wie gehe ich mit dem Weg zur Arbeit um? Und da glaube ich schon, dass bei den Kosten, die wir alle haben, dass da echt ein Umstieg stattfindet.“
Hinzu kommen die Verbesserungen, die den Fahrgästen auf 17 Linien im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) bevorstehen. Mehr Zugfahrten, längere Züge, mehr Komfort: Das erwartet vom 11. Dezember an die Nutzer stark nachgefragter Strecken wie von Berlin nach Potsdam, Brandenburg, Frankfurt (Oder) und Cottbus. „Die Vergrößerung des Angebots für unsere Fahrgäste kommt zur richtigen Zeit. Wir rechnen damit, dass das 49-Euro-Abo, für das jetzt noch die Finanzierung gesichert werden muss, den Regionalzügen in Deutschland spürbar mehr Fahrgäste bescheren wird“, sagte VBB-Planer Thomas Dill. „Auch in Berlin und Brandenburg werden von Januar an mehr Menschen als bisher mit der Bahn fahren. Da passt es gut, dass wir den neuen und den bisherigen Kunden von Anfang an mehr Kapazität, neue oder runderneuerte Züge sowie zusätzliche Verbindungen bieten können. Das Timing könnte nicht besser sein.“
Fahrpreise in Brandenburg hätten sich mehr als verdoppeln müssen
Doch nach Ansicht von VDV, KAV und Verdi gerät bei all den Jubelnachrichten eine wichtige Frage in den Hintergrund: Wie kann das Angebot der kommunalen Verkehrsunternehmen, die in kreisfreien Städten und Landkreisen Brandenburgs für Mobilität sorgen, langfristig gesichert werden? „Wer bezahlt die Fahrpreisbremse?“ fragt Werner Faber, Geschäftsführer des VDV Ost. Ein attraktiver Nahverkehr, der nun auch noch auf emissionsfreien Antrieb umgestellt werden soll, erfordert „enorme finanzielle Kraftanstrengungen“, so die Verbände.
Weil die Kosten für Energie, Material und nicht zuletzt für das Personal ständig steigen, habe sich der Aufwand im kommunalen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) während der vergangenen zehn Jahre um rund 110 Prozent erhöht, rechnen sie vor.
„Die Fahrpreise hätten sich demzufolge mehr als verdoppeln müssen“, gaben sie zu bedenken. Doch das geschah nicht – ebenso wenig wie eine Erhöhung der Zahlungen des Landes. „Seit dem ÖPNV-Gesetz 2005 hält sich Brandenburg bei einer Dynamisierung der Finanzierung ‚vornehm‘ zurück. Die bisher einzige Dynamisierung erfolgte im vergangenen Jahr mit anderthalb Prozent – ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Für das kommende Jahr erwarten die kommunalen Nahverkehrsbetriebe Landeszahlungen von insgesamt 92,1 Millionen Euro. 2019 wurden noch 101 Millionen Euro überwiesen.
Seit 14 Jahren sind die Zahlungen für den Schülerverkehr nicht gestiegen
Die Finanzierung des Schülerverkehrs stagniere seit 14 Jahren ebenfalls, obwohl die Zahl der Schüler im Land seit 2008 um fast 16 Prozent gestiegen ist, so die Verbände. Lediglich für den Nahverkehr auf der Schiene gebe es mehr Geld – das aber in diesem Bereich vom Bund kommt, wie es in der gemeinsamen Mitteilung heißt.
„Die ökologisch zwingende Subventionierung der Fahrpreise kann und darf nicht hauptsächlich den kommunalen Aufgabenträgern überlassen bleiben“, lautet die Forderung. Es sei nicht möglich, politische Versprechen wie den Ausbau des Nahverkehrs zum Nulltarif zu erfüllen. „Leider ist in der aktuellen Planung zum Doppelhaushalt des Landes Brandenburg für die Jahre 2023/2024 nicht zu erkennen, wie Landesregierung und Regierungskoalition ihre Wahlversprechen einhalten wollen.“
Bis zu 140 Millionen Euro pro Jahr – auch der Ministerpräsident ist gefordert
Die Verbände und Verdi verlangen, kurzfristig im Landeshaushalt 2023/24 einen Inflationsausgleich in Höhe von rund zehn Millionen Euro bereitzustellen. Ebenfalls auf der Liste: „Eine mittelfristige schrittweise Aufstockung der kommunalen ÖPNV-Mittel um bis zu 140 Millionen Euro pro Jahr, um eine Verkehrswende umsetzen zu können.“ Nicht nur Infrastrukturminister Guido Beermann (CDU), die gesamte Landesregierung stünde im Wort – und damit auch Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD).
Der Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) fordert ein Umdenken – auch in Brandenburg. „So, wie sich der Busverkehr auf dem Land heute darstellt, mit ein paar Fahrten pro Tag meist nur zur Schulzeit, ist er keine attraktive Alternative zum Auto“, so Knie . „Darum ist es kein Wunder, dass die meisten Brandenburger mit den Füßen abstimmen. Heute fahren in vielen Gebieten fast nur noch Schüler Bus – und deren Zahl wird auch immer geringer.“
Mobilitätsforscher verlangt neue Konzepte für den Nahverkehr auf dem Land
Der Forscher empfiehlt „Upgrading“, neue flexible Verkehrsangebote, die den Bürgern mehr Mobilität bieten als heute. Anstelle der Verkehrsbetriebe sollten Fahrgäste unterstützt werden: „Zum Beispiel durch die Ausgabe von kostenlosen Mobilitätsgutscheinen, die jeweils zu einer Fahrt innerhalb eines Landkreises berechtigen“, so der Wissenschaftler.




