In einer Bank hat ein Mann Geiseln genommen. Ein Ehegatte dreht in einer Wohnung durch und will seine Frau erstechen. Auf einem Dach steht eine Frau, die in den Tod springen möchte: In solchen Fällen werden die Verhandler der Berliner Polizei gerufen. Sie reden, überreden und bringen die Menschen zum Aufgeben. Jedenfalls an guten Tagen.
Die Berliner Verhandlungsgruppe besteht aus einigen Vollzeit-Mitarbeitern und weiteren Polizistinnen und Polizisten aus verschiedenen Bereichen, die im Nebenamt verhandeln. So viele braucht es in dieser Stadt für eine Rufbereitschaft rund um die Uhr.
Über ihre Arbeit reden sie nur selten. Dennoch konnte die Berliner Zeitung mit Yvonne Tamborini sprechen, die als Leiterin Digitale Kommunikation der Polizei arbeitet und seit 2003 Verhandlerin ist. Ihre Kollegin, die hier Diana F. heißen soll, ist seit 1999 Mitarbeiterin der Verhandlungsgruppe.
Wann werden die Verhandler gebraucht?
Diana F.: Wir werden immer dann gerufen, wenn es gefährlich für die Einsatzkräfte und andere Betroffene ist. Bei Suizid- und Geisellagen, Entführung und Erpressung und bei sogenannten Bedrohungslagen wie etwa häuslicher Gewalt. Wir sprechen auch mit Betroffenen einer Zwangsräumung oder mit psychisch Erkrankten, wenn etwa eine Zwangseinweisung ansteht.
Wie oft werden Sie gerufen?
Diana F.: Als ich angefangen habe, hatten wir ein bis zwei Einsätze pro Woche. Jetzt ist es ungefähr das Doppelte.
Yvonne Tamborini: Damals gab es noch nicht so viele Suizidal- und Bedrohungslagen. Aber auch die Polizeistrukturen haben sich verändert. Die Kommunikation ist viel stärker in den Vordergrund gerückt. Wir werden bei Polizeieinsätzen öfter dazu gerufen.
Der Anstieg hat also mehrere Gründe?
Yvonne Tamborini: Kommunikation ist als Einsatzmittel angekommen. Die Polizei muss immer zuerst das mildeste Mittel wählen. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen psychische Probleme haben.
Diana F.: Eine Großstadt produziert mehr psychisch Erkrankte und zieht auch mehr von ihnen an. In den letzten drei Jahren hat sich die Situation durch Corona verschärft, die Krankenhäuser waren überlastet, Therapieangebote fielen weg. Immer mehr erkrankte Menschen sind unbehandelt oder schlecht behandelt in eine Krisensituation geraten.
Warum werden zum Verhandeln keine Psychologen, sondern Polizisten eingesetzt?
Diana F.: Psychologen sind anders ausgebildet. Bei ihnen stehen Krankheitsbilder im Vordergrund. Bei uns ist es die Kommunikation. Wir sind dazu da, die Situation zu entschärfen und für beide Seiten sicher zu machen. Wir sind speziell dafür ausgebildete Polizeikräfte.
Wie wird man Verhandler?
Yvonne Tamborini: Man muss gut kommunizieren können und empathisch sein. Wenn man sich bewirbt, durchläuft man ein Auswahlverfahren. Teile der Gruppe und ein Psychologe testen die Bewerber anhand von Gesprächen und Aufgaben aus der Praxis. Wenn man das geschafft hat, bekommt man ein Probejahr in der Gruppe, bei dem man an allen Fortbildungen teilnimmt. Man wird zu Einsätzen dazugerufen. Und wenn nach dem Jahr sowohl die Gruppe als auch der oder die, die sich beworben haben, sagen: das passt, dann besucht man einen entsprechenden Lehrgang beim BKA.
Diana F.: Wichtig ist, in diesem Jahr festzustellen, ob man über seinen Dienst hinaus weitere Einschränkungen mit seiner Familie und seinem Privatleben vereinbaren kann. Denn die Rufbereitschaften sind sehr zeitintensiv. Schwimmengehen bei 39 Grad ist nicht. Essengehen auch nur so, dass man mittendrin abbrechen kann. Man stellt in der Zeit sein privates Leben hinten an.
Also ist eine intakte Familie ein wichtiges Kriterium?
Diana F.: Das ist im Auswahlverfahren ganz wichtig. Aber auch die Dienststellen müssen mitspielen.
Yvonne Tamborini: Wenn ich morgens gerade Durchsuchungsbeschlüsse vollstrecke oder in einer Vernehmung sitze, kann es sein, dass ich nach fünf Minuten angerufen werde und weg muss. Dann müssen meine Kollegen den Job für mich machen.
Wenn jemand an der Dachkante steht und springen will, wie gehen Sie da vor?
Diana F.: Das ist jetzt sehr theoretisch. Aber wir sind sehr empathische Menschen, die versuchen, herauszufinden, warum jemand da steht, und ihm andere Wege aufzuzeigen.
Yvonne Tamborini: Wir brauchen eine gewisse Zeit zum Einsatzort. Und wir sind nie die ersten dort. Auf dem Weg dorthin gibt es oft schon viele Informationen über den Menschen – was er schon gesagt hat, was er sich wünscht und was nicht. Dann entwickelt sich zwischen uns auch eine Idee, wie wir mit ihm kommunizieren können. Dann schauen wir: Wie sicher ist es für uns, nah ranzukommen? Eines Tages saß jemand auf einem Fabrikschornstein. Wir sind mit der Drehleiter der Feuerwehr hoch. Schon auf der Hälfte der Anfahrt sieht er mich und brüllt: „Du blöde Tussi! Wegen euch Frauen sitz’ ich hier oben! Mit Euch rede ich nicht.“ Dann bin ich wieder runter und ein Kollege fuhr hoch.
Das ist gut ausgegangen?
Der Kollege brachte den betrunkenen Mann heil herunter.
Ist ein Einsatz bei Suizidgefährdeten schon mal schiefgegangen?
Diana F.: Ja, aber ich würde nicht von Schiefgehen sondern von einem schlechten Ausgang sprechen. Wir haben alles versucht, mit allen Angeboten, diese Person auf einen anderen Weg aufmerksam zu machen. Aber wenn die Person sagt, sie will nicht mehr, dann ist das ihr freier Wille.
Yvonne Tamborini: Trotzdem macht das etwas mit uns. Einsätze, wo ein Mensch entschieden hat, vor deinen Augen sein Leben zu beenden, nachdem wir mehrere Stunden oder auch nur ein paar Sätze miteinander gesprochen hatten, trägt man sein ganzes Leben mit sich herum.
Wie verkraften Sie das?
Diana F.: Uns stehen zum Beispiel Einsatzpsychologen beratend zur Seite. Wir bleiben auch untereinander in Kontakt. Die ersten Stunden sind natürlich geprägt von diesem Schock. Aber wichtig ist, darauf zu achten, was nach zehn, vierzehn Tagen noch hängen bleibt.
Für Ihren Job müssen Sie schon seelisch robust sein, oder?
Yvonne Tamborini: Man kann nur guter Verhandler oder Verhandlerin sein, wenn man ein großes Herz hat. Das macht einen aber auch weitaus sensibler. Das klingt jetzt blöd, aber jeder Mensch, der gegangen ist, macht dich besser in der Kommunikation. Weil man weiß, was passieren kann.
Diana F.: Deshalb ist jeder Einsatz erst beendet, wenn die Person sicher ist. Auch wenn sie einen anlacht und die Kommunikation super ist, ist es erst vorbei, wenn die Person gesichert von Polizeibeamten in Empfang genommen wurde.
Mit was für Tätern haben Sie es bei Geiselnahmen zu tun oder bei Bedrohungslagen? Wenn sich etwa ein Ehemann mit seiner Frau in der Wohnung einschließt und droht, sie zu töten?
Diana F.: Der große Unterschied ist, dass es bei Bedrohungslagen sehr oft emotional zugeht und diese im nahen sozialen Umfeld stattfinden, aus ungeplanten Motiven heraus. Geisellagen sind oft mit Geld- oder anderen Forderungen verbunden.
Yvonne Tamborini: Bei einer Geiselnahme will der Täter meistens etwas. Er hat die Geisel als Faustpfand. Etwa in einem Amt, wo er will, dass die Mitarbeiterin ihm mehr Geld für die Wohnung gibt, und damit droht, dass sonst etwas bestimmtes passiert. Dann haben wir einen echten Verhandlungsansatz. Bei einer Bedrohungslage ist das oft diffus.
Ist eine Bedrohungslage komplizierter zu lösen?
Yvonne Tamborini: Wenn ich jemanden habe, der sagt: Gebt mir ein Auto, dann fahre ich jetzt hier weg und du kriegst die Geisel zurück, ist das für uns ein anderer Ansatz. Da sind wir schon in einer Verhandlungssituation. Wenn jemand in einer psychischen Ausnahmesituation einen anderen mit einem Messer bedroht, müssen wir mit ihm erstmal über eine Idee sprechen, etwas entwickeln, wie man aus dieser Akut-Situation herauskommt.
Ab wann ist es günstig, mit einem Geiselnehmer Kontakt aufzunehmen?
Diana F.: Sicher nicht in der Hochstressphase, wo er selber noch nicht weiß, was er machen will. Außer es passiert den Menschen, die er in seiner Gewalt hat, sofort etwas. Dann muss die Polizei handeln. Denn Leben retten ist das Allerwichtigste. Aber natürlich ist es ratsam, erstmal zu gucken, dass er einen eigenen Plan entwickelt und sich beruhigt.
Yvonne Tamborini: Wir sagen auch immer: Wer kommuniziert, etwa am Telefon, schädigt in der Zeit kaum einen anderen.
Wie beruhigt man einen Geiselnehmer?
Yvonne Tamborini: Um in der Kommunikation eine Beziehung aufzubauen, ist ein gutes Maß zwischen Zuhören und Selbersprechen nötig. Wir versuchen zunächst, eine Gesprächsebene schaffen, in der vieles möglich ist und keine Stigmatisierung, etwa als Täter, stattfindet. Mit einer schnellen Einordnung werden die Auswege geringer. Je größer wir das Feld fassen, mit jemandem zu kommunizieren, desto mehr Möglichkeiten einer Lösung hat man.
Diana F.: Wichtig ist es, wertfrei mit ihm zu reden. Wenn ich ihm signalisiere, dass das, was er gemacht hat, nicht nachvollziehbar und idiotisch ist, klappt das nicht. Wenn ich versuche, die Hintergründe zu ergründen, warum er das macht, und was der Auslöser ist, dann hat man schon sehr viele Anfasser, um ins Gespräch zu kommen und die Person zu verstehen.
Yvonne Tamborini: Für mich macht es keinen Unterschied, ob sich jemand das Leben nehmen will oder Täter ist. Es geht immer darum, einen Menschen kennenzulernen, zu verhandeln, um zu erreichen, dass er sich nicht umbringt oder vom Opfer ablässt beziehungsweise ein Zugriff möglich wird.
Können Sie an der Stimme oder der Art zu sprechen erkennen, wie gefährlich ein Täter ist?
Diana F.: Das wäre Wahrsagerei. Aber jeder von uns hat ein Bauchgefühl. Und mehrere Meinungen ergeben ein relativ gutes Gesamtbild. Und wir haben Stimmanalytiker, die uns unterstützen.
Yvonne Tamborini: Aber man kann sich nicht hundertprozentig auf einen Tonfall, auf eine Stimmlage verlassen. Im Hintergrund können ganz andere Dinge passieren.
Wie weit kommen Sie Wünschen Ihres Gegenübers entgegen?
Yvonne Tamborini: Wir hören uns an, was unser Gegenüber möchte, und entscheiden dann über die Verhandlungsstrategie. Es gibt auch Dinge, die nicht erfüllbar sind. Wenn jemand zum Beispiel in Berlin mit der Aida abgeholt werden möchte. Aber wenn er die fliegende Untertasse haben möchte oder den Mikrochip desimplantiert, kann es schon sein, dass wir sagen: Okay, reden wir darüber.
Das gab es schon?
Yvonne Tamborini: Das kann schon sein, dass wir mit jemandem so verhandeln, indem wir uns in seine Welt begeben. Dort fühlt er sich wohler, und wir gehen dort mit hin, immer unser Verhandlungsziel vor Augen.
Das sind nicht unbedingt Bedrohungslagen?
Yvonne Tamborini: Das sind alltägliche Sachen in dieser Stadt.
Diana F.: Bei Bedrohungen und Geiselnahmen passiert das nicht so oft. Aber in unserer Kommunikation gibt es keine No-Gos. Unsere Taktik passen wir immer an.
Bei Bedrohungen in Wohnungen müssen Sie oft durch die geschlossene Tür sprechen. Welche Mittel bleiben Ihnen dann noch?
Diana F.: Wenn keine Reaktion kommt oder wir merken, dass es da drin eskaliert, wird sich der Polizeiführer zum Handeln entschließen.
Yvonne Tamborini: Und manchmal treten wir dann zurück, und andere Lösungen werden gefunden.
Diana F.: Manchmal sind wir nach dem Einsatz da, um dem Betreffenden zu sagen, dass die Polizei ihm nichts Böses wollte. Wir erklären ihm, dass unser Vorgehen zu seinem Schutz und dem des Opfers ist.
Yvonne Tamborini: Bei häuslicher Gewalt passiert es oft, dass das bedrohte Opfer plötzlich auf der Seite des Täters steht. Dann versucht man, dem Opfer die Situation zu erklären. Dass der Mann jetzt auch erstmal mit uns kommt und dass das eine Straftat war.
Sie bringen also nicht nur Leute davon ab, Dummheiten zu begehen?
Yvonne Tamborini: Zu den Aufgaben von Verhandlern gehört auch das Betreuen von Zeugen und Angehörigen. Wir erklären ihnen, was jetzt polizeilich passiert. Wir hatten zum Beispiel den Fall einer Familie, die noch nicht lange in Deutschland war. Der Vater fuhr in die Heimat und wurde dort entführt. Man wollte Lösegeld von der Familie. Wir haben die Familie betreut und versucht, Wege zu finden, wie sie mit den Tätern kommunizieren können. Das ist auch Teil unserer Arbeit.
Sie sagten, dass das Verhandlersein eine zusätzliche Aufgabe ist, bei der man aus dem Alltag gerissen wird. Als es 2020 im Forum Köpenick eine Geiselnahme in einer Postbank gab, wo waren Sie da gerade?
Diana F.: Ich war gerade bei einer Trauerfeier.
Yvonne Tamborini: Als vor ein paar Jahren ein Mann auf den Springbrunnen am Alex stieg und damit drohte, sich umzubringen, war ich bei uns noch Leiterin des Social-Media-Teams und bin auf einen Livestream vom Alexanderplatz gestoßen.
Diana F.: Das war eine besondere Situation. Denn meist arbeiten wir nicht in der Öffentlichkeit. Doch diesmal stand eine Masse an Schaulustigen drumherum, die das 1:1 ins Internet streamte. Für mich eine ganz neue Erfahrung.
Hilfe-Nummern:
Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote:
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