Das Entsetzen ist groß an der Oder: Eine Wiederholung der Umweltkatastrophe des vergangenen Jahres mit einem großen Fischsterben wird in diesem Sommer immer wahrscheinlicher. Innerhalb eines Jahres, in dem drastische Maßnahmen zum Oderschutz hätten ergriffen werden müssen, ist quasi nichts passiert. Die Äußerungen der polnischen Umweltministerin Anna Moskwa (parteilos) in der Berliner Zeitung am 14. Juni machen klar, dass ihr jeglicher Wille fehlt, ihrem Amt gemäß zu agieren.
Der gute Wille der bundesdeutschen Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) wiederum hilft der Oder nicht, wenn sogar die Brandenburger Politiker ihr die Gefolgschaft verweigern. Wenn die Interessen der Wirtschaft in der Politik höchste Priorität genießen, steht die Umwelt hintan. Für die Oder bedeutet dies, dass sie primär als Schifffahrtsstraße und als Abwasserkanal zu dienen hat. Ihre Genesung nach der Katastrophe des vergangenen Jahres hin zu einem gesunden und lebendigen Ökosystem wird so verhindert – eine Verschlechterung ihres Zustandes im Gegenteil immer wahrscheinlicher.
Wir blicken zurück: Im vergangenen Sommer verendeten in der Oder tonnenweise Fische, Muscheln und andere Lebewesen. Nicht einmal die Hälfte ihres Bestandes überlebte. Als Ursache für die schwere Schädigung des Lebensraums Oder wurde ein ganzer Ursachenkomplex identifiziert, dessen Einzelteile alle auf menschliches Handeln zurückzuführen sind. Als Erstes hatten Ausbaumaßnahmen des Flusses seine natürliche Widerstandsfähigkeit – heute wird oft von Resilienz gesprochen – gegenüber negativen äußeren Einflüssen reduziert. Außerdem war der Fluss auf bestimmten Abschnitten aufgestaut worden. Dann hatten die hohen Temperaturen und damit die Verdunstung des Wassers sowie geringe Niederschläge die Wassermenge reduziert, sodass sich die Konzentration darin enthaltener Schadstoffe erhöhte.

Diese Stoffe waren von der polnischen Industrie in Form von Salzen und Nährstoffen zuvor massenhaft in die Oder eingeleitet worden. Der Lebensraum Fluss war damit vom Menschen so verändert worden, dass eine Algenart die für sie idealen Lebensbedingungen vorfand und sich explosionsartig vermehren konnte. Die Stoffwechselprodukte der Alge wiederum vergifteten alles andere Leben in der Oder.
Klare Empfehlung der Fachleute
Die vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei wenige Wochen nach der Katastrophe herausgegebenen Handlungsempfehlungen umfassten folglich eine sofortige Beendigung jeglicher Ausbaumaßnahmen der Oder, eine deutliche Reduzierung der Einleitung von Schadstoffen, eine Vermeidung der weiteren Aufheizung des Oderwassers durch dessen Nutzung als Kühlmittel sowie eine Renaturierung des Flusses.
Wer nun hoffte, dass Teile des von den Wissenschaftlern empfohlenen Maßnahmenkataloges innerhalb des vergangenen Jahres zumindest eingeleitet worden wären, wird durch die Äußerungen der Umweltministerin Polens schwer enttäuscht. Die Ministerin erhielt in der Berliner Zeitung ausführlichen Raum, um ihre Anstrengungen zum Oder-Schutz und die der polnischen Regierung zu schildern.

Sie nennt zunächst in ihrer Ursachenanalyse mit der Sonneneinstrahlung, dem Niedrigwasser und der Trockenheit ausschließlich Faktoren, auf die der Mensch – und damit auch die Umweltpolitik der polnischen PiS-Regierung – kurzfristig keinen Einfluss hat. Über Ursachen, für die die abwassereinleitende Industrie und der polnische Braunkohlebergbau verantwortlich zeichnen, wie auch Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, verliert Anna Moskwa leider kein Wort. Lediglich die Einrichtung eines mehrstufigen Überwachungssystems für das Wasser der Oder schildert sie, aber wenn erneut die Vergiftung all ihrer Lebewesen drohen sollte, soll nur ein weiteres Gift in den Fluss gekippt werden. Dieses Mal halt ein Gift, das die Goldalgen abtöten kann.
Am 6. Juni fand in Schwedt eine Oder-Konferenz mit hochkarätiger Beteiligung von Politikern und Wissenschaftlern statt, die Berliner Zeitung berichtete darüber. Bundesumweltministerin Lemke ließ in ihren Ausführungen klar erkennen, dass ihr die Ursachen des Fischsterbens in der Oder aus 2022 sehr bewusst sind. Sie übernahm als Forderungen an die polnische Seite im Prinzip den Maßnahmenkatalog, den Wissenschaftler im vergangenen Jahr erarbeitet hatten. Wegen der geringen Chancen auf eine Umsetzung machte sich bei den Teilnehmern der Konferenz jedoch Hoffnungslosigkeit breit. Hoffnungslosigkeit und Wut herrschen auch bei den Anrainern beidseits der Oder vor, ebenso bei polnischen und deutschen Umweltschützern.
Und auf der deutschen Seite?
Der Braunkohletagebau und die Einleitung industrieller Abwässer in die Oder passieren geografisch bedingt auf der polnischen Seite des Grenzflusses. Wer nun aber meint, dass der Oder auf deutscher Seite alle mögliche Hilfe zuteilwerden würde, wird ebenfalls enttäuscht. Aktuell verklagen sieben Umweltschutzverbände das von einem grünen Minister geführte Brandenburger Umweltministerium wegen des Verstoßes gegen Europäisches Umweltrecht. Laut Europäischer Wasserrahmenrichtlinie sollten von den Mitgliedsländern der EU nämlich längst Maßnahmen ergriffen worden sein, die die Gewässer bis spätestens 2027 in einen guten ökologischen Zustand versetzen würden. Der „Bewirtschaftungsplan Oder“ schiebt das Erreichen eines solchen guten ökologischen Zustandes jedoch auf das Jahr 2040 hinaus – den der chemischen Inhaltsstoffe gar auf das Jahr 2045.
Als Ursache hierfür gibt das Ministerium fehlende Mittel und zu wenig Personal an. Man darf argwöhnen, dass beides, Mittel und Personal, derzeit benötigt wird, um Industriegroßprojekte auf deutscher Seite voranzutreiben, die dann die hiesigen Gewässer verseuchen werden.
Kann eine unendliche Geschichte werden
Ab hier kann diese Geschichte eine unendliche werden: die Spätfolgen des Tagebaus in der Lausitz für die Spree, das Auftreten von Schadstoffen im Müggelsee durch Rückflüsse aus der Erpe, in die Abwässer eingeleitet werden, die Potenzierung von Wasserproblemen durch die Ansiedlung industrieller Großprojekte in der Region wie Tesla – die Priorisierung wirtschaftlicher Interessen geht immer und überall zulasten von Ökosystemen, wie Flüsse und andere Gewässer sie darstellen.



