Berlin-Vergangenes Wochenende hat die ukrainische Aktivistin Julia Singh aus Protest eine ukrainische Flagge aus ihrem Wohnungsfenster geschwenkt, als der umstrittene prorussische Autokorso ihre Straße hinunterfuhr. Ein Video des Einzelprotests lud sie bei Instagram hoch – das Ergebnis wurde bisher fast 39.000-mal aufgerufen. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erzählt sie von ihren Hoffnungen für Lehren nach dem Autokorso und ihrem Blick auf Deutschlands Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in ihrem Heimatland.
Wie fühlen Sie sich aktuell als Deutsch-Ukrainerin?
Ich wohne seit 14 Jahren in Deutschland und habe meine ukrainische Staatsbürgerschaft aufgegeben, um Bürgerin dieses Landes zu werden. Bis jetzt war ich so glücklich hier. Jetzt fühle ich mich aber verraten und bin völlig untröstlich, wie alle Deutsch-Ukrainer. Wir arbeiten hier, zahlen unsere Steuern, und jetzt werden diese Steuern dazu verwendet, unsere Familien, unsere Nachbarn zu ermorden. Damit trägt Deutschland die Verantwortung für alles, was in Butscha, in Irpin, in Mariupol passiert ist. Die Ukraine schützt Europa davor, dass ein russischer Angriff auch hierhin kommt. Dennoch gibt Europa jeden Tag immer noch rund 700 Millionen Dollar für russisches Gas und Öl aus. Solange wir dieses Öl und Gas noch kaufen, führt Putin diesen Krieg mit der Zustimmung aller internationalen Mächte, die weiterhin Geschäfte mit Russland machen und damit den russischen Angriffskrieg finanzieren.
Am Sonntag haben Sie gegen den prorussischen Autokorso während seiner Fahrt durch ganz Berlin protestiert. Was haben Sie dabei erfahren?
Ich erfuhr erst von dem Autokorso, als er an meiner Wohnung vorbeifuhr und ich diese Autos so laut hupen hörte. Als ich die ganzen russischen Fahnen sah, konnte ich nicht glauben, dass dies geschah, an einem Tag, an dem wir alle die Bilder von ermordeten Zivilisten, darunter auch Kinder, in Butscha gesehen hatten. Ich musste dagegen Stellung nehmen und habe meine Fahne einfach aus dem Fenster gehisst. Es hieß, dieser Marsch solle den Respekt für das russische Volk oder die Solidarität mit der Ukraine symbolisieren – aber da war keine ukrainische Flagge zu sehen. Ich habe nur Hass gesehen. Viele der Autofahrer zeigten mir den Mittelfinger, als sie meine Fahne sahen. Auch ein paar Teenager auf der Straße beschimpften mich als „ukrainische Hure“.
Was hat das mit Ihnen gemacht? Können Sie sich als Ukrainerin in Berlin noch sicher fühlen?
So eine Demo darf nicht wieder stattfinden. Ich kann mir nur vorstellen, was am 9. Mai passieren könnte, wo es normalerweise große russische Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs gibt. Was ich mit meinem Video zeigen wollte, ist, dass wir uns nicht von Jungen ablenken lassen, die „ukrainische Hure“ schreien. Wir können nicht zulassen, dass mitten in Berlin, das eigentlich antifaschistisch sein soll, Demonstrationen stattfinden, um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu feiern. Alle Demonstrationen zur Unterstützung des Krieges müssen verboten werden, zumindest bis er vorbei ist.
Seitdem haben Sie viele neuen Abonnenten für Ihren Kanal „Voices of Ukraine“ gewonnen. Was wollen Sie damit im Online-Raum für den Krieg leisten?
Die erste Idee war, russischsprachige Menschen anzusprechen, weil es in den russischen Medien so viel Desinformation gibt. Ich dachte, dass eine Seite mit Videos von Menschen aus der Ukraine, die die Auswirkungen des Krieges auf ihr Leben erzählen, wo man sehen kann, dass es sich um echte Menschen handelt, vielleicht helfen könnte. Aber leider kann man eine solche jahrzehntelange Propaganda nicht mit einem einzigen Internetprojekt bekämpfen. Das ist ein Krieg, der bereits verloren ist. Jetzt richtet sich die Seite jedoch mehr auf unsere westlichen demokratischen Partner aus – um zu zeigen, warum wir so dringend Unterstützung bei der Beendigung dieses Krieges brauchen.
Wie bewerten Sie die Berliner Reaktion auf dem Krieg bisher?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Reaktion der Bevölkerung und der der Politiker. Es ist unglaublich, was die Berliner für die Geflüchteten leisten: Es gibt so viele Freiwillige und Initiativen, die ihnen bei der Suche nach einer Unterkunft und mit allem Möglichen helfen. Meine Eltern und Großeltern sind auch nach Berlin gekommen, und die Unterstützung bei der Beantragung von Sozialgeld und Krankenversicherung ist die beste, die ich in 14 Jahren in Deutschland erlebt habe.
Aber dann ist da noch der kalte Zynismus der deutschen Politiker. Es bricht mir wirklich das Herz, wie sie die Hilfe für die Ukraine hinauszögern und sich weigern, ihr die Waffen zu geben, die sie braucht. Was bisher der Ukraine gegeben wurde, reicht aus, um das Land zu verteidigen, aber um die Invasoren zu vertreiben, braucht man viel mehr Kraft. Aber im Moment fehlt Deutschland der politische Wille, diese Unterstützung durchzusetzen. Das macht uns alle mitverantwortlich für diese Situation. Die Menschen müssen den Politikern zeigen, dass sie nicht wiedergewählt werden, wenn sie Russland weiterhin unterstützen.
Es gibt allerdings mehrere Figuren in der Bundesregierung, die ein Embargo gegen russisches Öl und Gas befürworten, sie halten aber die Einführung eines solchen Embargos von heute auf morgen für zu gefährlich für die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands.
Was derzeit auf höchster Entscheidungsebene in Deutschland geschieht, ist ein Verrat an allem, wofür dieses Land steht. Im ersten Artikel des Grundgesetzes steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Aber was tun wir gerade? Wir schicken weiter Waren und Geld nach Russland und Belarus, damit sie weiter Kriegsverbrechen begehen, Zivilisten ermorden, Frauen und Kinder vergewaltigen können. Nur damit die Menschen in Deutschland keine kleinen Unannehmlichkeiten erleben müssen? Wenn das bedeutet, dass wir fünf Pullover tragen müssen, dann werden wir diese fünf Pullover tragen, bis das Wetter wärmer wird. Dieses Land ist von vornherein dasjenige, das den Faschismus zu verurteilen und ihn überall auf der Welt zu bekämpfen hat. Es kann nicht sein Unterstützer sein. Dies ist eine verzweifelte Zeit, die verzweifelte Maßnahmen erfordert.


