Alaz S. ist auf dem Weg von Prenzlauer Berg nach Wedding, als seine Mutter anruft. Es ist spät am Sonntag, fast 23 Uhr, er will ins Fitnessstudio. Seine Eltern wohnen in Istanbul, dort ist schon Mitternacht. „Ich wusste, dass sie mit mir die Wahlergebnisse besprechen will“, sagt der 35-Jährige. Er war gerade an der Bornholmer Straße angekommen. „Dort sah ich das erste Auto mit einem Erdogan-Plakat, das hupend an mir vorbeifuhr, und ich wusste, wie sich das Gespräch mit meiner Mutter entwickeln würde.“
In der Nacht lassen die Zahlen keine Zweifel mehr zu: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt weitere fünf Jahre im Amt. Der 69-Jährige hat am Sonntag die Stichwahl gegen den Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, 74, für sich entschieden. Die offizielle Wahlbehörde teilt nach Auszählung von 99,43 Prozent der Stimmen mit, dass Erdogan 52,14 Prozent erhalten habe, Kilicdaroglu 47,86 Prozent.
In Berlin kommt Erdogan immerhin auf rund 50 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu auf rund 49 Prozent. Allerdings sind auch am Montag noch nicht alle Stimmen ausgezählt. Berlin gilt als eine der größten türkischen Gemeinden in Deutschland. Rund 200.000 türkischstämmige Menschen leben hier, rund die Hälfte, 101.000 Menschen, sind mit türkischem Pass stimmberechtigt.
Alaz S. hat auch abgestimmt, wie die meisten Türken in Berlin musste er sich dafür eine Stunde anstellen. „Ich möchte nicht sagen, für wen ich gewählt habe“, sagt er, „aber es war definitiv nicht Erdogan.“ Auch seine Mutter hat nicht für den 69-Jährigen gestimmt. „Schließlich habe ich seinetwegen meine Heimat verlassen.“ Alaz kam vor rund sieben Jahren nach Berlin, als Teil einer „neuen Berlin-Welle“, wie er es nennt. Von 15 türkischen Freunden von damals, die sich alle aus Istanbul kannten, lebt keiner mehr in der Türkei. „Sie leben jetzt in Australien, England, Belgien, Schweden und einer in Kalifornien.“ Erdogan und seine Politik hätten einen großen Anteil daran. „Nach 2011 konnte ich merken, wie das Leben in Istanbul immer konservativer wurde.“ Gleichzeitig wurde alles teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sank.
Das ist etwas, das die in der Türkei Wahlberechtigten in Deutschland häufig nicht mitbekommen, weil sie nur für kurze Urlaube in die Heimat fliegen. Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland konnten wählen, rund 760.000 haben in einem Konsulat die Stimme abgegeben. Unter ihnen hat Erdogan ungefähr eine Zweidrittelmehrheit geholt: 67,2 Prozent. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kam auf 32,8 Prozent.
Özdemir nennt Türkei „Offenes Gefängnis“
In vielen deutschen Städten zogen Tausende Unterstützer auf die Straße: Laut Polizei blieb es überwiegend friedlich, es gab vereinzelt Anzeigen, auch in Berlin, wegen des Zündens von Pyrotechnik. Agrarminister Cem Özdemir sagte, der laute Jubel vieler Erdogan-Anhänger in deutschen Städten sende ein verstörendes Signal. „Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen.“ Wenn junge Türken den Erdogan-Sieg so ausgelassen feierten, sei das „gleichzeitig auch eine Absage an das Zusammenleben hier, eine Absage an die liberale Demokratie“, sagte Özdemir. Politik müsse dafür sorgen, dass man junge türkischstämmige Menschen in den Schulen erreiche.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb Erdogan nach dem Wahlsieg auf Twitter, Deutschland und die Türkei seien enge Partner und Alliierte, auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sei man eng miteinander verbunden. Wörtlich schrieb er: „Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.“
Kenan Kolat frustriert dieses Wahlergebnis besonders. Er ist Chef der CHP in Berlin, der Partei des Mannes, der Präsident Erdogan herausgefordert hatte und es nicht geschafft hat. „Ich habe den Wahlabend mit Freunden verbracht“, sagt er der Berliner Zeitung, „aber ich denke, dass die Wahl insgesamt nicht gerecht war.“ Schließlich sei Erdogan auf allen Kanälen in der Türkei ständig zu sehen gewesen. „Er hat die Medien schon jetzt in seiner Gewalt“, sagt Kolat. „Sie haben viele Lügen verbreitet.“
Die türkische Gesellschaft, und damit auch die in Berlin, sei tief gespalten. Alaz S. Hat auch erlebt, dass Gespräche über Politik immer hitziger geführt werden. „Ich bin am Freitag am Kottbuser Tor ausgestiegen“, sagt er, „und konnte die Spannung förmlich spüren.“ Er sah Frauen mit Kopftuch, Männer in Shisha-Bars, Türken verschiedener Herkunft, und sie alle sprachen über die Wahl in 2000 Kilometern Entfernung. Dass gerade in Berlin das Wahlergebnis so knapp ausfällt, wundert Alaz nicht.
Wird die AKP jetzt eine Staatspartei?
Zum einen gibt es in Berlin viele Kurden, die nicht für Erdogan abstimmen würden. Außerdem erleben viele junge Türken, wie autoritär der Präsident im Ausland wahrgenommen wird. Gleichzeitig spricht Erdogan bei seinen Besuchen im Westen dezidiert die Auslandstürken an und ruft sie dazu auf, sich nicht zu sehr zu assimilieren. Viele der Arbeitsmigranten haben außerdem eine konservative Einstellung und stammen aus Anatolien, einer ländlichen Gegend. Erdogans Regierungspartei AKP hat zudem gute Strukturen in Deutschland, und viele schauen türkische Medien.
Kenan Kolat sieht die Türkei schon jetzt in einem autoritären System versinken. „Ich denke, dass die AKP in den kommenden fünf Jahren zu einer Art Staatspartei wird“, sagt er. „Die Justiz hat Erdogan auch schon unter seiner Kontrolle, und wir müssen aufpassen, dass er die Grundfreiheiten nicht weiter einschränkt.“ Aber diese sind eben selten Thema gewesen im Wahlkampf. „Die Medien präsentierten immer wieder Erdogan als den starken Mann, den die Türkei braucht.“ Trotzdem hat Kolat Hoffnung. „Dass wir es immerhin geschafft haben, fast 50 Prozent des Landes auf unsere Seite zu ziehen, ist schon sehr viel.“
Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen warnt davor, die Erdogan-Wähler zu kritisieren. „Man muss die Wahlmotive verstehen“, sagt er, „je mehr wir die Leute beschimpfen, umso stärker treiben wir sie in die Hand von Erdogan.“ Erdogan hatte bereits im ersten Wahlgang vor zwei Wochen bei den Deutschtürken mit 65,5 Prozent der Stimmen deutlich gewonnen. Bei der Wahl 2018 waren es 64,8 Prozent gewesen.






