Die Spieler sind bereit. Sie sitzen zu Hunderten unter dem Viadukt an der Schönhauser Allee. Columba livia forma domestica, Stadttauben. Wer zum U2-Bahnsteig hinaufsteigt, sieht ihre Unterseiten bedrohlich über der Treppe in die Luft ragen. Unter manchen Schwanzfedern sind die Ausscheidungsorgane zum Bersten mit Verdauungsprodukten gefüllt. Herzlich willkommen zum Taubenbingo im U-Bahnhof Eberswalder Straße!
Und da kommen sie schon, die Spielpartner. Pendler auf dem Weg zur Arbeit. Eltern, die ihre Kinder zur Schule begleiten. Touristen mit Rollkoffern, unterwegs zum Flughafen BER. Das Spiel beginnt vor dem Eintreffen jeder U-Bahn aufs Neue, und es ist immer wieder gleich spannend. Die Einsätze bitte! Rien ne va plus! Es kann losgehen.
Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Husten
Was die Tauben zu dem täglichen Wettbewerb beisteuern, ist klar. Die vielen Dutzend Kleckse, die auf den Stufen, den Handläufen und den Leuchten am Zugang zu dem Hochbahnhof in Prenzlauer Berg prangen, führen es den U-Bahn-Nutzern vor Augen. Die Flecken sind so individuell wie die Vögel, die über der Treppe gurren, kopulieren, nisten. Manche Kleckse sind weiß, andere zeigen gelbe Schlieren. Einige sind flüssig, andere weisen halbfeste Bestandteile auf. Und alle wimmeln vor Keimen.
Die Liste der Bakterien, Hefen, Pilze und Viren, die Tauben mit ihrem Kot ausscheiden, ist lang. Da sind Campylobacter jejuni, coli und lari, Salmonella enteritidis und Mycobacterium avium. Nicht zu vergessen Cryptococcus neoformans sowie Listeria monocytogenes. Auch in getrockneter Form, unsichtbar durch die Luft schwebend, bleiben die Mikroorganismen aktiv. Über die hoch infektiösen Chlamydophila psittaci heißt es zum Beispiel in einem Fachaufsatz: „Die Erreger werden inhaliert und können die Lunge befallen. Nach ein bis drei Wochen entsteht eine Lungenentzündung mit Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Husten.“ Noch jemand ohne Fahrschein?
Flatsch! Wutsch! Klacks! Ein Kotklecks folgt auf den anderen. Taubenbingo (oder Taubenkotbingo) ist ein Spiel, das nie endet. Und es gibt Menschen, die dafür sorgen, dass die Spieler gesund und fit bleiben. Einer von ihnen kreuzt fast täglich gegenüber unter dem Hochbahnviadukt auf. Im Blickfeld der Kunden, die bei Konnopke Currywurst und Pommes verspeisen, schafft eine Frau prall gefüllte Tüten und aufgeschnittene Getränkekartons herbei. Die Tüten enthalten Vogelfutter, das die Frau auf das Pflaster schüttet. In die Kartons kommt frisches Wasser und ein Pflasterstein, damit die Tauben in Ruhe trinken können, ohne dass die Krallen nass oder von den Kanten verletzt werden.

Menschen wie sie gibt es nicht nur am U-Bahnhof Eberswalder Straße. Meist grimmig beseelt, unwirsch bis stumm kümmern sie sich vielerorts um Tauben, von denen es in Berlin schätzungsweise 50.000 Exemplare gibt. Auch in den Hochbahnhöfen Bülowstraße und Nollendorfplatz, am Schlesischen Tor und an der Warschauer Straße, am Alexanderplatz, am Ostbahnhof und in Schöneberg wird gegurrt, kopuliert, genistet.
Im S-Bahnhof Schönhauser Allee schauen Fahrgäste auf dick verkrustete Mauervorsprünge, auf denen Tauben inmitten grau-weißer Kothaufen brüten. Manchmal verfängt sich ein Vogel in den Stacheln, die über den Bahnsteigen zur Taubenabwehr montiert wurden. Bis der über den Fahrgästen baumelnde Kadaver entfernt wird, kann schon mal einige Zeit vergehen. So lange gibt es in dem Bahnhof nicht nur für Kinder einiges zu sehen: den Reigen des Lebens – und den Schlusspunkt.
Und so verzwirbeln sich bei diesem Thema mehrere Aspekte. Da ist Berlins Stadtnatur, die uns kreischende Möwen auf dem Einkaufszentrum Alexa, possierliche, S-Bahn fahrende Stare am Alexanderplatz und emsige Füchse am Bundeskanzleramt beschert. Da sind die Mühen der Mobilitätswende, die Nichtautofahrer mit Herausforderungen konfrontieren, wie sie Autofahrer nicht bewältigen müssen. Der Fairness halber muss man sagen, dass U-Bahnhöfe wie der an der Eberswalder Straße nicht nur von Tauben verschmutzt werden. In den Wochenendnächten leisten Jugendliche aus Märkisch-Oderland, Pankow und anderswo, die gut gelaunt in die umliegenden Clubs streben, den entscheidenden Beitrag. Zeng! Klirr! Kaputt ist die Wodkaflasche. Haha!
Hass und Dummheit
Womit wir beim eigentlichen Thema wären: Wie die Menschen in dieser Stadt, in dieser Region, mit Berlin umgehen. Wie sie die Aggressionen, die sie tagtäglich empfangen, den Stress, den sie tagtäglich erleiden, an ihrer Umgebung auslassen. Wie dadurch aus Hass und Dummheit noch mehr Hass und Dummheit werden. Taubenmuttis sind noch eine relativ sanftmütig wirkende Ausprägung des soziophoben, asozialen Phänotyps, der in Berlin in großer Zahl vertreten ist. Am anderen Ende der Berlin-Hass-Skala behaupten sich betrunkene 17-Jährige aus Bernau, Hellersdorf und Dahlem, pöbelnde Fußballfans oder auf Krawall gebürstete Mercedes-AMG-Raser.
Der Staat hält sich zurück. Warum kann man das Taubenfüttern nicht verbieten? Verbote dieser Art wären „rechtswidrig, da sie gegen das höherrangige Bundestierschutzgesetz und das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz verstoßen“, entgegnet Christian Arleth, der juristische Referent der Berliner Landestierschutzbeauftragten. Rechtlich gesehen seien laut Arleth Stadttauben keine Wild-, sondern Haustiere, ihr Kot gefährde die Gesundheit übrigens nicht. „Deutsche Kommunen stehen in der Pflicht, die tierschutzrechtlichen Halterpflichten nach Paragraf 2 Tierschutzgesetz im Hinblick auf Stadttauben zu erfüllen“, betont Arleth. „Dies gelingt am besten durch die Errichtung betreuter Taubenschläge.“ Ohne Kontrolle, Fütterung und den Austausch von Taubeneiern durch Gipsattrappen ließe sich das Problem nicht lösen. Eine Mahnung, die immer wieder zu hören ist, aber kaum beherzigt wird. 50 Taubenschläge würden in Berlin gebraucht, wurde 2019 errechnet. Eine Zahl, die nicht annähernd erreicht wird.
Und so gurren, kopulieren, nisten sie weiter, die Tauben von Berlin. Taubenfreunde schütten weiterhin Futter aus, U-Bahn-Fahrgäste schauen weiterhin beklommen nach oben. Das Taubenbingo geht unbarmherzig weiter.
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zeigen sich machtlos. Verblechung, Umgitterung, Spikes und Netze würden die Probleme nur zu anderen Orten verschieben, bedauert ein Sprecher. Im Jahr 2018 erprobte das Landesunternehmen im U-Bahnhof Gleisdreieck Klebepasten, doch sie wurden wieder entfernt. Weil sie Gliedmaßen, Gefieder und Schnäbel verkleben, seien sie als Vergrämungsmittel verboten, heißt es.
Abschießen oder aufs Gleis schubsen?
Von einem anderen Lösungsansatz hat sich die Tierschutzorganisation Peta distanziert. Ihrer Darstellung zufolge haben mutmaßliche Angestellte der Münchener Verkehrsgesellschaft (MVG) im U-Bahnhof Harras Tauben erschossen, berichteten die Aktivisten 2020. Anzeige wurde erstattet.




