Debatte

Straßenumbenennung in Berlin: „Jemanden in Nazi-Nähe zu rücken, passt ins linke Profil“

Im Sommer beschloss der Bezirk Pankow nach Jahren des Streits, die Robert-Rössle-Straße umzubenennen. Nun gibt es scharfen Protest von Experten. Sie drohen mit einer Klage.

Robert-Rössle-Büste auf dem Campus Berlin-Buch.  Die nach Rössle benannte Straße soll laut Beschluss der BVV Pankow umbenannt werden.
Robert-Rössle-Büste auf dem Campus Berlin-Buch. Die nach Rössle benannte Straße soll laut Beschluss der BVV Pankow umbenannt werden.Maurice Weiss/Ostkreuz

Der Brief, der am 4. November auf den Schreibtischen aller Pankower Stadträte landete, ist lang, der Ton scharf. Von „faktenwidrigen Behauptungen“ ist die Rede, von einer „Blamage“, vor der man das Bezirksamt bewahren wolle, von einem Verstoß gegen das Bezirksverwaltungsgesetz. Eine Klage, heißt es, sei „unumgänglich“.

Unterschrieben haben den Brief drei Männer, die in Berlin-Pankow gut bekannt sind: Andreas Eckert, Vorstandsvorsitzender der Eckert & Ziegler AG, einer weltweit führenden Krebstechnik-Firma; Detlev Ganten, Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums und ehemaliger Charité-Vorstandsvorsitzender; sowie Christian Zippel, ein ehemaliger Chefarzt in Buch, der selbst mal Politiker war.

Im Anhang des Briefes finden sich weitere renommierte Namen, eine Gruppe aus Medizinern, Historikern, Ost- und Westdeutschen, die sich sonst mit starken Meinungsäußerungen eher zurückhalten, aber nun ihre Stimme erheben, weil sie nicht länger zusehen wollen. Sie kritisieren, was in Pankow geschieht, dass hier eine Straße umbenannt werden soll. Ohne Grund, wie sie sagen.

Es geht um Robert Rössle, mal wieder, jenen Mediziner, um den seit sieben Jahren in Pankow gestritten wird, um die Frage: Wie tief war der Chef der Pathologie an der Charité in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt? Darf eine Straße in Berlin weiter seinen Namen tragen?

Ute Linz, eine pensionierte Medizinerin, brachte die Vorwürfe gegen Rössle auf. Ihre Großmutter war den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Linz sieht in Rössle einen Kollaborateur der Nazis, wirft ihm vor, Wegbereiter ihrer Rassentheorien gewesen zu sein, ihre Mordmaschinerie in Gang gehalten zu haben. Durch sie begann in Pankow die Diskussion um Robert Rössle, wurden historische Kommissionen eingesetzt, gab es Anhörungen und eine Bürgerversammlung.

Viele der Männer, die in dem Brief genannt werden, waren an der Diskussion beteiligt, wühlten sich – genau wie Ute Linz – durch Archive, kamen aber zu anderen Einschätzungen als sie, sahen in Rössle eher einen Mitläufer als einen Naziverbrecher, sprachen sich dafür aus, den Namen zu behalten und zusätzlich zum Straßenschild eine Tafel anzubringen, auf der erklärt wird, wer Rössle war. Lieber Geschichte erklären als sich ihrer entledigen! Umso erstaunter waren sie, als im Juni dieses Jahres auf der Bezirksverordnetenversammlung Pankow die Umbenennung der Rössle-Straße mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Als habe man ihnen gar nicht zugehört.

„Eine kleinkarierte Diskussion“

„Frau Linz’ Argumente wurden blind übernommen“, sagt Christian Zippel, der Bucher Chefarzt. Detlev Ganten, Gründer des Max-Delbrück-Centrums, spricht von einer „kleinkarierten und persönlichen Diskussion“, einem „lächerlichen Beschluss“. Ute Linz habe eine Diskussion angestoßen, die „gut und richtig“ sei, aber der Schluss sei falsch. „Frau Linz stellt Rössle neben Julius Hallervorden, den Nazi-Hirnforscher. Das ist nicht richtig, das kann nicht sein.“ Andreas Eckert, Chef der Eckert & Ziegler AG, findet es „sehr schräg“, wie die Erkenntnisse von Experten ignoriert werden. „Es scheint unhistorisch und ungerecht, die Straße umzubenennen“, sagt er.

Die drei Männer haben eine enge Beziehung zur Robert-Rössle-Straße. Zippel hat hier schon zu DDR-Zeiten gearbeitet, Ganten nach der Wende das Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin gegründet und sich für das Euthanasie-Denkmal auf dem Campusgelände eingesetzt, der West-Berliner Betriebswirt Andreas Eckert baute zusammen mit dem ostdeutschen Krebsforscher Jürgen Ziegler ein Unternehmen auf, das heute Strahlentechnik in 90 Länder liefert, „das einzige Tech-Dax-Unternehmen Berlins“, wie Eckert sagt.

Robert Rössles Name, finden die Männer, stehe auch für die Nachkriegsgeschichte. Der Mediziner habe sich nicht nur für den Wiederaufbau der Charité eingesetzt, sondern auch für die Akademie der Wissenschaften in Buch, sagt Detlev Ganten. „Ohne ihn würde es den Campus hier wahrscheinlich gar nicht geben.“

Der Vorwurf, Robert Rössles Gedanken der Eugenik hätten zum Euthanasieprogramm der Nazis geführt, ist blamabel für eine offizielle Institution wie eine BVV oder ein Bezirksamt.

Udo Schagen, Medizinhistoriker

Ihr Brief an die Pankower Politiker ist in Kooperation entstanden: Andreas Eckert hat das Anschreiben verfasst, Christian Zippel die Meinungen der Experten in einem elfseitigen Anhang zusammengetragen. Punkt für Punkt wird darin die Begründung des Antrags, dem die Bezirksverordneten zugestimmt haben, auseinandergenommen. Der Vorwurf, Robert Rössles Gedanken der Eugenik hätten „letztendlich zum Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten“ geführt, sei „blamabel“ für „eine offizielle Institution wie eine BVV oder ein Bezirksamt, weil fern jeglicher (…) Erkenntnisse zur Geschichte der Eugenik“, erklärt der Medizinhistoriker Udo Schagen, bekannt für seine Forschungen über die Charité im Nationalsozialismus. Götz Aly, der sich seit 40 Jahren mit dem Holocaust und den Euthanasie-Verbrechen der Nazis beschäftigt, schreibt, Rössle sei bei seinen Recherchen immer mal wieder „am Rande“ vorgekommen. „Aber es fand sich nichts Konkretes gegen ihn, und dass er allgemein erbhygienische Maßnahmen befürwortet, unterschied ihn nicht von wichtigen gesundheitspolitischen Sprechern der Sozialdemokratie.“

Am längsten ist die Entgegnung auf die Anschuldigung, Rössle habe Menschen gegen ihren Willen obduziert, darunter „Personen jüdischen Glaubens“. Hierzu werden nicht nur Pathologieprofessoren zitiert, sondern auch Juden selbst: Hermann Simon vom Centrum Judaicum und zwei Berliner Rabbiner. Christian Zippel hat mit ihnen über die Frage gesprochen, ob Rössle Menschen, auch Juden, gegen ihren Willen seziert hat, und kommt zu dem Schluss, der Vorwurf sei „in mehrfacher Hinsicht unsinnig“.

Es sind ähnliche Argumente, wie sie schon früher in der Diskussion um Rössle vorgetragen wurden, aber der Ton hat sich verändert, ist schärfer, polemischer. An manchen Stellen liest sich der Brief wie eine wissenschaftlich-historische Abhandlung, an anderen wie eine Petition von Wutbürgern. Man spürt die Verärgerung über die Bezirkspolitiker, die, wie Detlev Ganten sagt, lieber nach politischer Gesinnung entscheiden, als sich mit einer komplexen Biografie wie Rössles auseinanderzusetzen. Er spricht von einer „Zeitgeist-Entscheidung“. Es passe gut ins linke Profil, jemanden in die Nähe der Nazis zu rücken.

„Eine gewisse Verachtung der Bürgermeinung“

Christian Zippel fühlt sich an die DDR erinnert, als er Protestbriefe gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und das Einreiseverbot von Biermanns Verleger unterschrieb. Am meisten ärgert ihn, dass die Meinung des Bucher Bürgervereins, der sich gegen eine Umbenennung der Rössle-Straße ausgesprochen hat, bei der BVV-Entscheidung nicht beachtet wurde. Er sieht darin „eine gewisse Verachtung der Meinung der Bürger, einen Missbrauch der Demokratie“. Dazu passt für ihn, dass auch sein eigener Brief nicht weiter beachtet wird. Fast zwei Monate ist es her, dass er ihn an die Stadträte und den Bürgermeister geschickt hat, und bis heute hat er nur eine kurze Antwort darauf bekommen, von einer CDU-Stadträtin. 

Fragt man die Pankower Politiker, was sie zu den Vorwürfen sagen, warum sie den Brief nicht beantworten, fallen die Reaktionen meist ähnlich aus: ratlos, fragend, auch ein bisschen müde. Ob denn da irgendetwas Neues drinstehe, ob das nicht alles längst bekannt sei?

Es passt zu der Debatte der letzten sieben Jahre. Schon Ute Linz, die sie angestoßen hat, beschwerte sich darüber, wie wenig und wie leidenschaftslos diskutiert werde, wie oft sie nachhaken musste, um gehört zu werden. Erst als sie einen Medizinnobelpreisträger aus den USA auf ihre Seite zog, kam Schwung in die Sache, ging es voran mit dem Umbenennungsprozess. Und nun, da alles beschlossen ist, soll das Straßenschild ausgetauscht und Rössle wieder vergessen werden, so scheint es. 

Bürgermeister Sören Benn von der Linken sagt: „Der Beschluss ist gefallen. Wir können ihn nicht rückgängig machen. Daran ändert auch der Protestbrief nichts.“ Viele Jahre sei darüber diskutiert worden, der Eindruck, man sei einer Einzelmeinung gefolgt, sei nicht richtig. Er verweist auf einen Charité-Medizinhistoriker, der sich eher für die Umbenennung der Rössle-Straße ausgesprochen habe. Aber am Ende, sagt Benn, sei es nun mal so. „Die BVV musste eine Entscheidung treffen, und diese Entscheidung ist eine politische gewesen.“

Hanna Wettig, Fraktionschefin der Grünen in Pankow, die den Beschlussentwurf in der BVV-Sitzung im Juni vorgetragen hat, sagt, sie verstehe nicht, was der Brief solle. Die Umbenennung sei beschlossen, in einem „wasserdichten demokratischen Verfahren“. Es gehe nicht darum, gegen Robert Rössle einen Prozess zu machen, sondern um die Frage, ob dieser Mann geehrt werden solle. „Und da lautet das Urteil Nein.“ Die Bürger in die Entscheidung miteinzubeziehen, sei nicht sinnvoll, Rössles Geschichte zu komplex, findet sie. „Das sollten schon Experten machen.“ Wendet man ein, dass es doch Experten sind, die sich in dem Brief äußern, sagt sie: „Ach ja, stimmt“ und verweist auf ihren Kollegen Oliver Jütting, der den Antrag geschrieben habe und sich besser mit Rössle auskenne.

Das Verwaltungsverfahren wird von so einem Brief nicht aufgehalten.

Oliver Jütting von den Grünen in Pankow

Oliver Jütting sagt: „An der Situation ist jetzt sowieso nichts mehr zu ändern. Das Verwaltungsverfahren wird von so einem Brief nicht aufgehalten.“ Ernst nimmt er ihn trotzdem, die Ankündigung der Klage vor allem. Im Berliner Straßengesetz heißt es, eine Umbenennung könne nur erfolgen, wenn dies im öffentlichen Interesse erforderlich ist. Die Unterzeichner des Briefes können dieses öffentliche Interesse „nicht ansatzweise  erkennen“, schreiben sie. Andreas Eckert kündigt bereits eine Schadenersatzforderung von einer halben Million Euro an. So hoch seien die Kosten, die allein auf seine Firma mit seinen 30 Tochter- und Beteiligungsgesellschaften in 90 Ländern zukommen würden, wenn die Adresse geändert werden müsste.

Oliver Jütting aber bezweifelt, dass Eckert überhaupt klageberechtigt ist. Das hänge von den Hausnummern ab, ob sie sich in dem öffentlichen oder privaten Teil der Straße befänden, erklärt er. Er hat eine kleine Anfrage an das Bezirksamt gestellt. Aus der Antwort geht hervor: Eckerts Firmenadresse mit der Nummer 10 gehört zum privaten Teil der Straße, was bedeuten würde: Er ist nicht klageberechtigt. Man merkt Oliver Jütting die Freude darüber an. Er war der Erste in Pankow, der Ute Linz’ Kampf gegen Rössle unterstützt hat, ihr Kampf ist nun auch zu seinem geworden.

Hängt am Ende alles von einer Hausnummer ab?

Jütting ist sicher, Rössle wird nun bald von den Straßenschildern verschwinden. Cécile Vogt soll ihn ersetzen, eine Hirnforscherin, die 13-mal für den Nobelpreis nominiert wurde, ohne ihn jemals bekommen zu haben, die mit Juden zusammenarbeitete und deshalb aus Berlin-Buch in den Schwarzwald ziehen musste. Die Sache liege beim Straßen- und Grünflächenamt, sagt Sören Benn. Jetzt müsse nur noch der Frauenbeirat dem neuen Namen zustimmen, sagt Oliver Jütting.

Es klingt absurd: Nach sieben Jahren Diskussion um Robert Rössle, seine Verdienste und seine Rolle im Nationalsozialismus hängt die Frage, ob die Straße in Buch umbenannt wird oder nicht, von einer Hausnummer ab. Aber warum hat Firmenchef Eckert das nicht gemerkt? Warum kündigt er eine Klage an, wenn die Rössle-Straße Nummer 10 gar nicht im öffentlichen Teil der Straße liegt?

Andreas Eckert antwortet prompt: Die Nummer 10 sei der Ort gewesen, wo sein Betrieb Anfang der 90er-Jahre in einer Baracke angefangen habe und die aus rein praktischen Gründen noch immer als Postadresse genutzt werde. „Unser Grundstück aber und unsere Firmenzentrale liegen in der Robert-Rössle-Straße 7.“ Und die, auch das steht in der Antwort auf die kleine Anfrage, befindet sich im öffentlichen Teil der Straße. Mit anderen Worten: Der Kampf um Robert Rössle in Pankow ist nicht vorbei.