Berlin-Udo Schagen ist aus dem Oderbruch nach Berlin-Dahlem gekommen, in das Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité. Ohne ethische Fragen ist keine Medizingeschichte denkbar. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders für die Zeit des Nationalsozialismus, die zu Schagens Forschungsschwerpunkten gehört. Er hat auch die Rolle der Charité in der Diktatur erforscht. Beim Gespräch lässt er sich Zeit, wägt Antworten ab, sendet später Ergänzungen. Er will ganz genau sein.
Herr Schagen, seit sechs Jahren wird im Bezirk Pankow darüber diskutiert, ob die Robert-Rössle-Straße umbenannt werden soll. Auch Sie haben sich deshalb noch einmal mit dieser Figur befasst.
Ja, und Frau Linz, die diese Diskussion angestoßen hat, hat sich damit große Verdienste erworben. Robert Rössle ist ja kein so berühmter Arzt wie etwa Ferdinand Sauerbruch. Aber er ist für mich ein typischer Hochschullehrer für die Zeit des Nationalsozialismus. An seinem Fall kann man viel über diese Zeit lernen.
Was kann man lernen?
Es gab Ärzte an der Charité, deren Rolle im Nationalsozialismus einfacher zu beurteilen ist. Etwa Walter Stoeckel, den Gynäkologen, wie Rössle damals Instituts- bzw. Klinikleiter. Er hat als Hochschullehrer aktiv und öffentlich für nationalsozialistische Politik geworben und stimmte mit ihren ausgrenzenden gesundheitspolitischen Zielen überein. Rössle war politisch eher ein Mitläufer - so wie die große Mehrheit der Deutschen. Die Ärzte haben ja besonders aktiv mitgemacht. Es gab eigentlich nur noch die Lehrer, die in so hohem Grad als NSDAP-Mitglieder organisiert waren. Aber wichtiger noch, viele Ärzte stimmten mit nationalsozialistischen Gesundheitszielen überein und unterstützten Ideologien, die letztlich in Verbrechen mündeten.
Warum haben so viele Ärzte mitgemacht?
Zunächst waren die nationalkonservativen und bürgerlichen Eliten, die Deutschlands angeblich unverschuldete Kriegsniederlage nicht akzeptieren konnten und gegenüber der Republik feindlich eingestellt waren, vom neuen Regime begeistert. Es gab aber auch einen medizinischen Aspekt. Mediziner hatten immer schon den Traum, die Entstehung von Krankheiten zu verhindern. Die Vorstellung, dass man das durch Erbauswahl erreichen könnte, war für sie unglaublich faszinierend. Eugenische Vorstellungen, man könnte gute Erbeigenschaften durch Zucht fördern, wurden in der nationalsozialistischen Rassenhygiene zum Leitbild nicht nur der Gesundheitspolitik, sondern unzähliger ausgrenzender Bestimmungen. Hinzu kam, dass es in den 1930er Jahren tausende arbeitslose junge Mediziner in Deutschland gab. Gleichzeitig, speziell in Berlin, gab es viele fähige Ärzte, die nach NS-Kriterien als „Juden“ klassifiziert wurden. Es handelt sich hier um eine rein rassistische Zuordnung, nicht um Verfolgung eines Glaubens. Auch Protestanten oder Katholiken, die einstmals einer jüdischen Identität entstammten, wurden verfolgt. Von den niedergelassenen Ärzten in Berlin wurden fast 50 Prozent durch die Nationalsozialisten auf diese Weise ausgegrenzt und schrittweise aus dem Beruf verdrängt.

War Rössle ein Antisemit?
Er hatte viele jüdische Assistenten, die er auch gefördert hat. Mit einem von ihnen, Arnold Strauss, hat er über Jahrzehnte korrespondiert. Wenn man jemanden als Antisemiten bezeichnet, der grundsätzlich etwas gegen Juden hat, wegen ihrer „Rasse“, dann war Rössle kein Antisemit. Aber er hat den antisemitischen Mainstream mitgetragen und er hat die verordnete Entlassung der so definierten „Juden“ auch für sich genutzt.
Was hatte er davon?
Er hat die Verkleinerung des Instituts, die sich durch die Entlassungen ergab, positiv gesehen, weil er auf für ihn bequeme Weise gestandene Wissenschaftler, deren Spezialfach er in seinem Institut für verzichtbar hielt, loswurde.
Was wissen Sie über die Entlassung der Juden an der Charité im Frühjahr 1933?
Damit ist die Charité unter der Leitung ihres Dekans Gustav von Bergmann der Politik fast zuvorgekommen. Das Ministerium hatte eine Anweisung schon ausgearbeitet, aber noch nicht umgesetzt, da haben die Institutsdirektoren schon Entlassungsbriefe geschrieben.
Hat Rössle versucht, Arnold Strauss zu halten?
Rössle hatte Strauss praktisch zeitgleich mit diesen Entlassungsmaßnahmen als Oberarzt vorgeschlagen. Dann gab es ein Entlassungsschreiben, das Rössles Unterschrift nicht trägt. Drei Monate später gab es ein weiteres, da ist dann die Unterschrift von Rössle drunter.
Was bedeutet diese Verzögerung?
Ob Rössle sich zunächst geweigert, ob er sich vor der Unterschrift gedrückt hatte? Das weiß man nicht. Arnold Strauss hat aber sein Leben lang an Rössle gehangen und ihn sehr verehrt. Er hat auch alle Briefe aufbewahrt, die Rössle ihm später geschrieben hat. Von Rössle selbst gibt es ja keinen Nachlass, offenbar weil seine Tochter den aufgelöst hat.
Was schrieben sich die Männer?
Rössle stellte Empfehlungsschreiben für Strauss aus. Auch später schrieben sie sich drei-, viermal im Jahr, nicht während des Krieges, aber danach wieder. Aber aus heutiger Sicht würde man erwarten, dass der Chef bei ungerechtfertigter Entlassung eines geschätzten Mitarbeiters protestiert; das hat er nicht getan. Er hat sich so verhalten wie alle Kollegen.
Niemand an der Charité protestierte?
Wir haben bisher 160 Namen von Mitgliedern der medizinischen Fakultät gefunden, die 1933 entlassen wurden. Wahrscheinlich waren es mehr. Für keinen hat irgendeiner ihrer Chefs sich öffentlich eingesetzt.
Wäre dies für die Professoren gefährlich gewesen?
Für die Ordinarien der Berliner Medizinischen Fakultät, über die wir hier reden, würde ich sagen: Nein. Das waren alles berühmte Persönlichkeiten. Es gibt ja auch – zugegeben wenige – Beispiele von Professoren, die in bestimmten Fragen oppositionell gehandelt haben. Denen ist nichts passiert.
Warum waren sie bei der Entlassung so übereifrig?
Man war Teil des Establishments. Sie fühlten sich als Bestandteil der bürgerlich-nationalen Obrigkeit. Rössle mit Sicherheit auch. Es war die erste Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, der die meisten zu diesem Zeitpunkt positiv gegenüberstanden.
Hat Rössle die Machtübernahme der Nazis begrüßt?
Schriftlich niedergelegt fand sich dazu bisher nichts. Rössle war auch nie in der NSDAP. Sauerbruch und Stoeckel, die den Nationalsozialismus aktiv gefördert haben, waren das auch nicht.
Warum nicht?
Sie brauchten es schon aus Altersgründen nicht für ihre Karriere. Viele ihrer jüngeren Oberärzte sind in die Partei eingetreten. Rössle durfte als Chef der Universitätspathologie auch die Pathologen für andere Berliner Krankenhäusern auswählen. In der NS-Zeit wurden 29 Stellen neu besetzt, in 13 Fällen mit NSDAP-Mitgliedern. Da hat sich Rössle auch gegen aus seiner Sicht weniger qualifizierte Parteimitglieder ausgesprochen und sich durchgesetzt.

War Rössle ein großer deutscher Pathologe?
Ja. Er hat auf vielen Gebieten der Pathologie entscheidende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht. Etwa zum schwarzen Hautkrebs. Er hat die Systematik der Entstehungsweise der Leberzirrhose als erster genau beschrieben. Er hat über die Entstehung von Allergien bedeutende Arbeiten veröffentlicht. Alles schon vor seiner Berliner Zeit.
Er blieb auch nach 1945 an der Charité. Warum?
Zahlreiche Ordinarien wurden wie Rössle in der Zeit der Weimarer Republik berufen und sind über die Zeit des Nationalsozialismus an der Charité geblieben. 1945 haben die Sowjets die Uni zunächst geschlossen. Dann wurden die Professoren und Institutsleiter neu berufen. De facto kamen fast alle, die nicht vor der Sowjetarmee geflohen waren, wieder in ihre alte Position. In der Sowjetischen Besatzungszone wurden sie als Spezialisten gebraucht.
Rössle arbeitete bis 1948 an der Charité und danach in West-Berlin.
Nach seiner Emeritierung war er noch drei Jahre Chefarzt am Wenckebach-Krankenhaus. Bekannte Ärzte und Wissenschaftler wie Rössle wurden auch als 70-Jährige noch eingestellt, sodass sie den Vorteil, in Westmark bezahlt zu werden, für sich nutzen konnten.
Hat ihm die DDR das übel genommen?
Die haben da keine Auseinandersetzung geführt und auch seine Ost-Rente nicht gekürzt.
Wie trat Rössle öffentlich auf?
Die Berichte über ihn besagen, dass er allgemein beliebt und geachtet war, aufgrund seiner sachlichen Art zu diskutieren. Dass er zwar versucht hat, seinen Einfluss auszuweiten, aber nicht im öffentlichen Streit.
Ute Linz wirft Rössle vor, er habe im Nationalsozialismus die Leichen von Juden obduziert, ohne rechtliche Grundlage.
Die Obduktion von Leichen war ja sein Metier. Wenn wissenschaftliche oder ärztliche Gründe für eine Obduktion sprachen, etwa zur Sicherung der Diagnose, war es damals kaum üblich, dass von Angehörigen einem ärztlichen Votum widersprochen wurde. Es gibt die Vermutung, dass aufgrund der Nähe von Oranienburg und anderer Konzentrationslager, Ärzte der Charité die dortigen Opfer mit obduziert hätten. Einer der früheren Assistenten von Rössle, Robert Neumann, war viel später KZ-Arzt in Buchenwald und danach auch in Auschwitz. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Rössle davon nichts wusste. Aber ich kann auch nicht nachvollziehen, dass ihn dies mehr als andere Mitläufer des Systems belastet.
Frau Linz sagt auch, Rössle sei Vordenker der Eugenik gewesen.
Ja, dem kann man zustimmen. Aber in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Eugenik zunächst einmal das Nachdenken darüber, wie man den Ausbruch von Krankheiten durch Aufklärung über die Erbsituation verhindern kann. Rössle war einer von vielen Zwillingsforschern. Da soll herausgefunden werden, welche Eigenschaften durch Erbanlagen und welche durch äußeren Einfluss geprägt werden. In den 1930er Jahren wurde Eugenik im deutschsprachigen wissenschaftlichen Mainstream zur ausgrenzenden Rassenhygiene.
Hat er mit seiner Forschung einen Grundstein für die Euthanasie der Nazis gelegt?
Nein. Das kann man nicht sagen. Die Eugenik war Ende des 19. Jahrhunderts ein internationaler, neuer Zweig der Wissenschaft. In dieser Szene war er nicht besonders prominent
War Rössle an Medizinverbrechen beteiligt?
Nach allem, was wir wissen, war er das nicht. Andere Ärzte an der Charité waren an tödlich ausgehenden Impfversuchen beteiligt. Walter Stoeckel war ein vehementer Befürworter des Zwangs zum Schwangerschaftsabbruch aus rassistischen Gründen. Völlig unmenschlich.
Muss die Robert-Rössle-Straße umbenannt werden?


In der fünften Folge am 9. November: Wie stand Rössle wirklich zu seinem jüdischen Assistenten Arnold Strauss? Eine Recherche führt in die USA.
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> Alles zum Fall Robert Rössle



