Berlin-Jens Reich füllt in seinem Büro einen Rucksack mit Büchern. Falls er beim Interview etwas nachschlagen will. Wir sprechen in einem Konferenzraum des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) mit ihm über den Fall Robert Rössle. Rössle leitete von 1929 bis 1948 das Pathologische Institut der Charité. Die Straße in Berlin-Buch, in der das MDC seinen Sitz hat, ist nach Rössle benannt. Kann es dabei bleiben? Jens Reich hat sich in der Historischen Kommission des Campus Buch mit den Vorwürfen gegen Rössle befasst. Der Molekularbiologe und DDR-Bürgerrechtler war Forschungsgruppenleiter am MDC, auch nach seiner Emeritierung blieb er dem Institut verbunden.
Herr Reich, kannten Sie Rössle noch zu Lebzeiten?
Ich glaube, ich habe ihn einmal als Schüler auf einer Veranstaltung erlebt, aber vielleicht vermischt sich das auch mit den Erzählungen von Kollegen, die Vorlesungen von ihm besucht hatten. Sie waren beeindruckt von ihm – er sei einer gewesen, der nach dem Krieg wieder Kultur ins Medizinstudium brachte. Er war ein belesener Mann, hat vier Sprachen gesprochen, in Frankreich und der Schweiz Freunde gehabt, eine weltoffene Persönlichkeit.
Was wusste man über ihn in der Nazizeit?
Er galt als Mitläufer, wurde bei den Nürnberger Prozessen von den Alliierten befragt und sagte, er habe in Ablehnung gegenüber dem System gestanden.
Warum wurden die Klinik und später auch die Straße in Buch nach ihm benannt?
Sein Name wurde in Buch von dem Chirurgen Hans Gummel, aber auch von dem berühmten Virologen Arnold Graffi durchgesetzt. Gummel war Schüler von Rössle, als junger Arzt NSDAP-Mitglied. Er verehrte Rössle, überhaupt wurde Rössle sehr verehrt. Er hat nach dem Krieg die völlig zerschossene Charité-Pathologie wieder mit aufgebaut, eine der wenigen Koryphäen im Osten, die meisten hatten sich ja in den Westen verdrückt.
Aber Rössle hat auch in Tempelhof gearbeitet, im Westen.
Aber erst nach seiner Emeritierung, und ehrenamtlich war er weiter an der Akademie der Wissenschaften im Osten tätig. 1949 wurde ihm als einem der Ersten überhaupt mitten im Kalten Krieg der Nationalpreis Erster Klasse der DDR verliehen. 1952 bekam er auch das große Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Ich kenne keinen anderen Mediziner, der diese beiden Auszeichnungen bekommen hat.
Wie war das möglich mitten im Kaltem Krieg?
Alle dachten nach 1945, die alliierten Besatzungszonen wären nur für eine Übergangszeit. Niemand wollte die Spaltung Deutschlands und Berlins. Rössle gehörte dazu.
Gab es Gegner der Straßenbenennung?
Ich habe nie davon gehört, auch nicht von Vorwürfen gegen Rössle. Fast alles, was ich weiß, ist erst in den letzten Jahren bekannt geworden, und das ist ein Verdienst vor allem von Frau Dr. Linz.
Mitwisser, aber nicht Mittäter
Hat sich vorher niemand mit Robert Rössle beschäftigt?
Der Journalist und Buchautor Ernst Klee. Er sagt über Rössle, er habe sich in jedem System eingefügt. 1944 wurde Rössle z.B. in den Wissenschaftlichen Beirat des Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen berufen, dem Karl Brandt, Hitlers Leibarzt, vorstand.
Was war das für eine Kommission?
In Klees Buch „Medizin ohne Gnade“ steht, es sei nicht belegt, dass die Kommission sich je getroffen hat. Auch ich habe nichts gefunden, was Rössle als Mittäter bei Euthanasieverfahren, Patientenmorden oder grausamen Experimenten in Konzentrationslagern belastet. Auch Frau Dr. Linz hat keinen Beleg. Das ist nicht überraschend, denn Rössle hatte als Pathologe mit Toten und nicht mit lebenden Menschen zu tun. Er kann also Mitwisser, aber nicht Mittäter gewesen sein. Aber auch die Mitwisserschaft muss mit einer Quelle belegt und sollte nicht nur vermutet werden.
Wie haben Sie Rössles Arbeit auf mögliche NS-Verwicklungen untersucht?
Ich habe Rössles Arbeit vor 1933 und nach 1933 verglichen, Literatur und Kuratoriumsprotokolle gelesen. Ich wollte einen Beweis für aktive Täterschaft an medizinischen Verbrechen finden. Cay-Rüdiger Prüll hat Untersuchungen über die Pathologie der Charité in der NS-Zeit veröffentlicht. Darin wird Rössle als Karrierist mit starkem Machtbewusstsein beschrieben, der versuchte, seine Leute unterzubringen und die Gründung einer SS-geführten medizinischen Fakultät zur Entmachtung der Charité verhindern wollte. Rössle gehörte ja noch zur Kaiserzeit-Garde, so wie Sauerbruch und Bonhoeffer. Die verteidigten sich gegen die neue Garde.
Aus ideologischen Gründen oder weil sie ihre eigenen Karrieren gefährdet sahen?
Ich denke, dass es eine Mischung war.
Gibt es politische Äußerungen von Rössle?
Ich kenne keine. Es gibt einen Fall, wo er einen Schüler, Robert Neumann, der KZ-Arzt war, 1943 mit einem markigen Spruch für die Prosektur einer der Berliner Kliniken empfohlen hat.
Wie war der Spruch?
Sinngemäß: Dieser junge Mann, der Tolles für Deutschland geleistet hat, ist für diese Position sehr zu empfehlen. Er lobt ihn allerdings nicht für seine KZ-Arzt-Tätigkeit vor dem Krieg, sondern weil er Anfang des Krieges in Shanghai eine Pathologie aufgebaut hat. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Rössle gewusst hätte, dass Neumann KZ-Arzt war.
Ist es denkbar, dass Rössle das nicht mitbekommen hat?
Medizinische KZ-Tätigkeit wurde geheim gehalten. Details wurden erst nach dem Krieg bekannt.
Spätere Karriere im Westen
Gilt für Rössle wie bei Gerichtsprozessen die Unschuldsvermutung?
Historiker sagen, man braucht einen belastbaren Beleg. Der fehlt. Und Rössle selbst ist in diesen Sachen sehr schweigsam gewesen. Viele seiner Schüler waren nazibelastet, oft NSDAP- oder SS-Mitglieder, wurden nach dem Krieg trotzdem weiter beschäftigt. Vor allem im Westen, in geringer Zahl auch im Osten. Ein prominentes Beispiel – kein Rössle-Schüler! – ist Otmar von Verschuer, der oberste Genetiker der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er hat mit Josef Mengele KZ-Experimente durchgeführt, sich nach dem Krieg rausgeredet, Mengele habe alles auf eigene Faust gemacht und wurde Professor an der Uni Münster. Auch Julius Hallervorden aus Berlin-Buch hat im Westen weitergearbeitet, in Gießen. Viele prominente Genetiker und Eugeniker der Nazizeit sind im Westen wieder in Positionen gekommen.
Was wissen Sie über Hallervorden und seine Zusammenarbeit mit Rössle?
Julius Hallervorden war Professor für Pathologie, ein Hirnforscher, der Gehirne von Kindern und psychisch kranken Patienten, die umgebracht wurden, eifrig für die Forschung gesammelt hat. Hallervorden war nachweislich informiert über deren Ermordung; er ist selbst in die Anstalten gefahren, um sich Leichen zur Entnahme „interessanter“ Gehirne auszusuchen.

Wusste Rössle davon?
Für die von Frau Linz behauptete Kooperation zwischen Hallervorden und Rössle habe ich in den Protokollen des Kuratoriums der Bucher Institute nichts Einschlägiges gefunden. Konkrete Zusammenarbeit kenne ich nur für einen Fall, die mikroskopische Untersuchung des Gehirns eines Mädchens, das in Greifswald nach schwerstem Keuchhusten an Hirnembolie verstorben war. Kein Mord.
Hat Rössle als Pathologe Euthanasie-Opfer obduziert?
Kein Beweis. Die Opfer wurden, wenn überhaupt, in den Anstalten seziert.
In innerer Opposition
Wie lange haben Sie sich mit Rössle beschäftigt?
Zwei Jahre intensiv. Ich bin von der Diskussion sehr gefesselt, weil ich exakte historische Aufarbeitung für sehr wichtig halte. Und weil ich um das Verhalten vieler Mediziner unter Diktaturbedingungen weiß; im Räderwerk seine Sache machen, obwohl man weiß, dass das Ganze nicht gut ist. Das betrifft mich natürlich auch selbst. Ich bin in meinen jungen Jahren in innerer Opposition gewesen, habe aber im Beruf darüber geschwiegen. Anpassung. Das wurde bei mir erst in den 1970er-Jahren anders.
Sie vergleichen den Nationalsozialismus mit der DDR?
Keine Gleichsetzung! Ich weiß um den moralischen Zwiespalt in der DDR, wenn ein Arzt z. B. das politische System sehr grundsätzlich „ablehnte“, sich jedoch in vielerlei Hinsicht anpasste, auch Lebenslügen aufbaute, um den ärztlichen Beruf weiter ausüben zu können. Robert Rössle ist nach meinem Eindruck ein extremer Fall für den schweren moralischen Konflikt, in den ein Arzt kommen kann, wenn er sich um seiner Berufsausübung willen, man kann es auch „um seiner Karriere willen“ nennen, an ein diktatorisches System anpasst, das immer mehr zu einer staatlichen Mordmaschine wird. Rössle hat geltend gemacht, dass er seine Schüler nach Talent und Können ausgesucht habe und ihm Parteibuch und SS-Zugehörigkeit gleichgültig waren. Selbst ist er der NSDAP nicht beigetreten. Was ich ihm vorwerfe, ist, dass er sich nach 1945 nie zu seinem Schweigen erklärend geäußert hat.
Wie war das bei Ihnen zu Hause? Was hat Ihr Vater im Nationalsozialismus gemacht?
Er war Lazarettarzt, im Weltkrieg an der Ostfront, Polen, Weißrussland, Ukraine, Russland. Er war 1945 fix und fertig. Ich konnte mit ihm kaum über Kriegsereignisse sprechen. Nach 1945 wurde er Krankenhausarzt und hat sich an die DDR-Verhältnisse angepasst, hat „mitgemacht“.
Gab es für Sie als Arzt in der DDR schwierige Entscheidungen zu treffen?
Klinisch war ich nur zwei Jahre tätig, in Halberstadt und auf dem Land. Die belastendenden Entscheidungen waren für mich keine politischen, sondern medizinische.
Stimmt es, dass Rössle ein Vordenker der Rassentheorien der Nazis war?
Ich kenne kein Zitat von Rössle, in dem ein eindeutig antisemitischer oder rassistischer Ton angeschlagen wird. Die Stelle, die Frau Linz beibringt, beschreibt in einem Satz das eugenische Programm im damaligen Jargon. Das ist schlimm als Lehrmeinung, gewiss, jedoch macht ein einziger Satz ihn nicht zum Vordenker oder Vorbereiter von konkreten Mordaktionen, die von ganz anderen geplant und durchgeführt wurden. Rössle schrieb übrigens 1940 als Fazit seines Buches „Die Pathologie der Familie“ sinngemäß, dass es genetische Krankheitsursachen geben mag, aber entscheidend sind Umwelt- und Ernährungsfaktoren. Das war sehr deutlich gegen die Rassenideologen gerichtet.
Sie sollen zu Ute Linz’ Mann gesagt haben: Was Sie machen, ist Rache an der DDR.
So habe ich das nicht gesagt. Leider kann ich das mit dem verstorbenen Ehemann von Frau Dr. Linz nicht mehr klären.
Am Ende überlebt der Rebhuhnweg
Steckt ein Ost-West-Konflikt hinter der Debatte?
Ein Ost-West-Konflikt kommt immer dann auf, wenn jemand aus dem Westen kommt und hier „Ordnung schaffen“ will. Das ist einfach zu oft passiert. Das Argument vieler Bucher Bürger ist: Benennt bitte erstmal eure Straßen um, den Hindenburgdamm in Steglitz zum Beispiel. Oder die Manfred-von-Richthofen-Straße in Tempelhof. Danach reden wir über Robert Rössle.
Sie würden die Straße nicht umbenennen?
Ich bin für einen Kompromiss, am Eingang eine Tafel aufzuhängen und dort die Leistungen, aber auch die Kooperation zur Nazi-Zeit darzustellen: die drei Leben des Robert Rössle. Um so zwiespältige Figuren wie ihn als Denkanstoß und zur Mahnung nutzen. Wir haben ja die große Straßennamenbereinigung Anfang der 1990er-Jahre erlebt, da wurden die sozialistischen Granden abgewickelt. 1991 habe ich dazu einen Artikel in der Zeit geschrieben: Leninallee Ecke Rebhuhnweg. Am Ende überlebt nur der Rebhuhnweg. Straßen nach Politikern zu benennen, ist sinnlos, eine Generation später sind die alle wieder weg.
Vielleicht kriegen Sie ja auch mal eine Straße nach Ihrem Tod.


In der vierten Folge am 2. November: Die dunkle Rolle der Charité im Nationalsozialismus - ein Gespräch mit dem Medizinhistoriker Udo Schagen über Robert Rössle und seine Kollegen.
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> Alles zum Fall Robert Rössle


