Autofahrer geraten bei den vergeblichen Versuchen, festgeklebte Klimaaktivisten vom Asphalt zu reißen, in Rage, zerren an den Protestierenden oder treten gar auf sie ein. Die Berliner Polizei hat es mit solchen Szenen seit dem Beginn der Proteste der Letzten Generation in Berlin immer wieder zu tun. Die Beamten stehen bei den Aktionen zwischen den Fronten. Sie müssen die Blockaden so schnell wie möglich beenden. Die Polizei steht aber auch in der Pflicht, Gewalttaten gegen die Protestierenden zu verhindern.
Innenministerin Iris Spranger (SPD) sorgte jetzt vor der für Montag angekündigten Lahmlegung des Verkehrs in der Hauptstadt mit einer Äußerung für Aufsehen. Für Gewalttaten gegen die Aktivisten der Letzten Generation müssten Autofahrer „leider“ zur Rechenschaft gezogen werden, erklärte die Senatorin in der „Abendschau“ des Senders RBB.
Sprangers Äußerung provoziert Kritik
Grüne und Linke kritisierten die Worte als Brandbeschleuniger vor dem erwarteten Protestmontag. Der Innenexperte der Linken, Niklas Schrader, warf Spranger vor, Verständnis zu zeigen für Selbstjustiz. Die Senatorin hatte in der Nachrichtensendung des RBB erklärt, sie könne die Wut der Autofahrer nachvollziehen. Eigenmächtiges und gewaltsames Vorgehen gegen die Demonstranten dürfe aber nicht die Antwort sein.
Juristen in ganz Deutschland bewerten die Frage unterschiedlich, wie weit Autofahrer gegen die mutmaßliche Nötigung durch die Klimaaktivisten vorgehen können, ohne sich selbst strafbar zu machen. Zwei Rechtsgüter stehen dabei einander entgegen: das Recht auf Notwehr und das Recht auf Versammlungsfreiheit.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Autofahrer
Vier Ermittlungsverfahren laufen Stand Januar bei der Berliner Staatsanwaltschaft gegen Autofahrer, die bei Straßenblockaden zu Gewalt gegen Demonstranten gegriffen haben sollen. Eine Anklage wurde bisher noch nicht erhoben.
Tatsächlich haben Gerichte Klimaaktivisten der Letzten Generation bereits wegen Nötigung verurteilt. Die rechtliche Bedingung für Notwehr könnte also vorliegen. Unter Notwehr versteht die deutsche Justiz die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs.
Demonstrationsrecht ist geschützt
Allerdings ist die Versammlungsfreiheit ein hohes rechtliches Gut. Die Berliner Staatsanwaltschaften sehen ein Recht auf Notwehr bei blockierten Autofahrern bisher nicht gegeben. Es sei verhältnismäßig, auf das Eintreffen der Polizei zu warten, erklärt Karen Sommer, Staatsanwältin und Sprecherin der Berliner Strafverfolgungsbehörden. Ausnahmen seien medizinische Notfälle, wie etwa die einsetzenden Wehen bei einer Schwangeren.
Der auf Verkehrsrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Helmut Klinski sieht dagegen einen größeren Handlungsspielraum bei Autofahrern in der Gegenwehr. Die Straßenblockaden der Klimaaktivisten seien eindeutig eine strafbare Nötigung. „Meines Erachtens können sich die Autofahrer hiergegen zur Wehr setzen und sich auf Notwehr gemäß Paragraf 32 des Strafgesetzbuchs berufen“, sagt er.

Verkehrsjurist mahnt zur Vorsicht
Doch Autofahrer sollten vorsichtig handeln. Erlaubt sei nur eine verhältnismäßige Gegenwehr. „Verhältnismäßig sind keine Beleidigungen, natürlich ist auch nicht verhältnismäßig, die Klimaaktivisten mit dem Auto anzufahren oder umzufahren oder sie mit dem Auto durch langsames Fahren von der Straße zu drängen“, erklärt Kinski.
Erlaubt sei es aber, Protestierende wegzutragen, bevor sie sich auf den Asphalt kleben. Wer versuche, die angeklebten Aktivisten von der Straße zu lösen, sollte Hautverletzungen bei den Protestierenden vermeiden. „Der Autofahrer sollte also vorsorglich ein Lösungsmittel dabeihaben, um die angeklebten Hände von der Fahrbahn zu entfernen“, rät der Jurist.
Würzburger Strafrechter sieht Spielraum für Gegenwehr
Der Würzburger Strafrechtler Eric Hilgendorf geht sogar noch weiter als der Berliner Verkehrsrechtler. Wer sich rechtskonform verhalte und attackiert werde, darf sich verteidigen, selbst wenn der Angreifer dabei verletzt werde, sagt Hilgendorf. Er vergleicht ein eigenmächtiges Lösen von Demonstranten vom Asphalt, das Hautverletzungen verursacht, mit dem Einsatz von Pfefferspray durch Frauen gegen Belästiger.
Der Münchner Strafrechtsprofessor Armin Engländer rät bei der Gegenwehr dagegen zur Zurückhaltung. Bei einem Strafverfahren sei der Einzelfall ausschlaggebend. Betroffene könnten strafrelevante Faktoren im Vorfeld nicht erkennen und gingen bei eigenmächtigem Handeln ein hohes Risiko ein, sich strafbar zu machen, warnt Engländer.
Das Bundesverfassungsgericht setzt breiten Rahmen für Proteste
Der bayerische Strafrechtsexperte verweist darauf, dass die Versammlungsfreiheit auch ungenehmigte Kundgebungen schützt, sofern sie nicht in Gewalt ausarten. Das Bundesverfassungsgericht habe immer wieder klargestellt, dass bloße Behinderungen durch Blockaden keine unerlaubten Ausschreitungen darstellten.
Die Tiefen der juristischen Debatte dürften Autofahrer in einem von Aktivisten mit einer Blockade provozierten Stau weniger beschäftigten als die angespannten Nerven. Der Berliner Stressforscher Mazda Adli glaubt, dass sie damit den Protestierenden in die Falle gehen. „Wer als Autofahrer durch Klimaaktivisten aufgehalten wird, erlebt Ärger, manchmal Wut. Das sind Emotionen, die natürlich auch durch die Aktivisten eingeplant sind. Aufmerksamkeit durch Entrüstung“, sagt er.
Blockaden wecken Urinstinkte
Der Stressforscher hat sich mit den teils gewaltigen Reaktionen auf die Aktionen der Letzten Generation auseinandergesetzt. Das Versperren des Weges löse bei Menschen enormen Stress aus. Der Urinstinkt der Verteidigung des eigenen Territoriums werde geweckt. So erkläre es sich, dass besonnene Bürger gegenüber den Aktivisten bisweilen völlig aus der Haut fahren. Der morgendliche Berufsverkehr, den die Klimaaktivisten regelmäßig behindern, sei ohnehin für viele eine Stressspitze am Tag.
Die stoische Reaktion der Demonstranten, die in der Regel auf Beleidigungen nicht reagieren, trage nur bedingt zur Entspannung bei. Das Schweigen und die Aussichtslosigkeit verbaler Appelle steigerten das Maß der Aggression bei den Autofahrern. Adil wirft der Letzten Generation vor, mit Absicht Eskalationen zu provozieren und damit dem Klimaschutz zu schaden. „Das können wir uns eigentlich bei der Dringlichkeit des Themas erst recht nicht leisten“, erklärt Adil





