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Berlin aufs Maul geschaut: Hauptstädter erzählen von ihrer Kindheit

Nach dem Vorbild des Philosophen Walter Benjamin sammelt Johannes Zillhardt Kindheitserinnerungen von Berlinerinnen und Berlinern. Auf Video.

Johannes Zillhardt interviewt Jutta Haase für sein Projekt „Berliner Kindheiten“.
Johannes Zillhardt interviewt Jutta Haase für sein Projekt „Berliner Kindheiten“.Emmanuele Contini

Du hast doch was zu erzählen, trau dich ruhig – das ist die Devise des Kulturwissenschaftlers Johannes Zillhardt. Auf Video nimmt er die frühen Lebenserinnerungen von Berlinerinnen und Berlinern auf, stellt sie auf seine Internetseite „Berliner Kindheiten“ und hat sie auch in einem Buch veröffentlicht. Der Titel:  „Freiheit ist auf der Straße. Berliner Kindheiten“ (Transit-Verlag).

Der Denker Walter Benjamin (1892–1940), in Berlin geboren, ist Zillhardts Vorbild. Was Vorgänger Benjamin in den 30er-Jahren als seine „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ beschrieb, dreht er seit fünf Jahren weiter. 110 Frauen und Männer vom Jahrgang 1915 bis zum Jahrgang 2001 erzählen in fünf bis acht Minuten langen Clips Episoden aus ihrer Kindheit.

Da ist zum Beispiel die Goldschmiedin Jutta Haase aus Charlottenburg, geboren 1966; sie beschreibt die Abgeschlossenheit von West-Berlin hinter der Mauer. „Früher waren wir ja wirklich unter uns. Alles, was außerhalb von Berlin war, war für uns nicht erreichbar.“

Jutta Haase aus Charlottenburg erinnert sich an die Zeit in West-Berlin.
Jutta Haase aus Charlottenburg erinnert sich an die Zeit in West-Berlin.Emmanuele Contini

Der Musiker Heini Heimpel aus Zehlendorf, geboren 1961, berichtet von der Angst der Mütter von Neugeborenen in den Jahren 1961 und 1962. Eine große Anzahl Babys kam mit körperlichen Behinderungen zur Welt. Es dauerte, bis klar war, dass das Medikament Contergan die Ursache war. Seine Mutter, die häufig mit sich selbst beschäftigt und oft nicht für ihn da war, habe das nicht betroffen, sie habe Medikamente in der Schwangerschaft rigoros abgelehnt. „Sie war letzten Endes eben doch cool.“

Walter Benjamin beschreibt den Charme von Erinnerungen so: „Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt, ohne dies zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit.“ Johannes Zillhardt sagt: „Ich will echte Typen, ihre authentischen Sprechweisen, ich will bei den Videos gleich klar wissen: Wer ist diese Person?“ Sein Projekt bestehe aus „kleinen mosaikhaften Splittern“, sein Ziel sei es, „die ungleichartige Vielfalt Berlins mit den Bewohnerinnen und Bewohnern abzubilden“. Berlin sei nicht wie andere Städte, Berlin sei mehr Konstrukt als organisch gewachsen, urteilt der 41 Jahre alte Zuwanderer aus dem Ruhrgebiet.

Zillhardt findet Interviewpartner in der Kneipe, beim Bäcker, unter Nachbarn

Die charismatischen Interviewpartnerinnen und -partner findet Johannes Zillhardt in seinem Heimatbezirk Wedding unter Nachbarn, beim Bäcker, in der Eckkneipe. Oder er pinnt Zettel an Laternen in Bezirken, die in seiner Abbildung noch fehlen. Mit ihm zu sprechen, ist eine Freude. Der begeisterte und begnadete Zuhörer genießt das Gespräch sichtlich, zitiert wörtlich aus dem Gedächtnis von den Begegnungen. Acht Jahrgänge fehlen ihm noch zum vollständigen Glück: 1916, 1919, 1932, 1972, 1983, 1986, 1998, 1999. Wer will mitmachen? Bitte schreiben Sie an: susanne.duebber@berlinerverlag.com