Berlin steht ein weiteres Verkehrsexperiment bevor. Der bislang vernachlässigte Raum unter einem Abschnitt der Hochbahn in Kreuzberg soll zum Testfeld werden. Geplant ist, im kommenden Jahr unter dem Viadukt der U1 neue Nutzungen zu erproben – etwa einen Radweg. Ende August soll während einer Aktionswoche über die Radbahn, die sich künftig von West nach Ost durch Berlin ziehen soll, informiert werden. Doch bei einer Diskussion im Club SO36 mussten sich Mitglieder der Radbahn-Initiative viel Kritik anhören. Die geplanten Änderungen würden Obdachlose und Tauben vertreiben, hieß es. Gut möglich, dass sie auch zu einem weiteren Anstieg der Wohnungsmieten beitragen, so ein weiteres Argument. Die Planung sei eine „Schnapsidee“, sagte eine Anwohnern.
Ein Berliner Vorzeigeprojekt der Mobilitätswende gerät immer weiter in die Enge. Dabei handelt es sich um ein Vorhaben, das Charme hat – zumindest auf den ersten Blick.
Neun Kilometer von Charlottenburg bis Friedrichshain
Der Platz unter dem Viadukt, das auf dem Mittelstreifen der Gitschiner und Skalitzer Straße durch Kreuzberg verläuft, soll besser, stadtverträglicher genutzt werden. Darüber begannen junge Berliner Planer und Architekten 2015 nachzudenken. Im Mittelpunkt ihrer Ideen steht die Radbahn, die Berlins erster überdachter Fahrradweg werden soll: eine neue attraktive Verbindung quer durch Berlin, auf der man bei Regen nicht nass wird. „Sie soll rund neun Kilometer weit vom Bahnhof Zoo zur Oberbaumbrücke führen“, sagte Maximilian Hoor, der die Idee am Dienstagabend im S036 vorstellte.
„Kein Radschnellweg, sondern eine Strecke zum langsamen Fahren“, erklärte der Verkehrsplaner, der in der gemeinnützigen Unternehmergesellschaft Reallabor Radbahn der Geschäftsführung angehört. Die Firmenbezeichnung zeigt, dass sich das Team professionalisiert hat. Nachdem die heutige Senatsverwaltung für Mobilität und das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg als Unterstützer gewonnen wurden, sind die Senatsbauverwaltung sowie seit 2019 der Bund ebenfalls im Boot.
3,3 Millionen Euro Förderung vom Bund
Geld vom Staat liegt bereit. Im Rahmen des Bundesprogramms „Nationale Projekte des Städtebaus“ soll das Reallabor Radbahn bis Ende des kommenden Jahres mit 3,3 Millionen Euro gefördert werden. Längst geht es bei der Radbahn nicht nur darum, Radfahrern einen neuen Weg zu bahnen. Thema ist nicht nur die Mobilitätspolitik, sondern auch der Städtebau. Die Umgestaltung eines Stücks Berliner Innenstadt, das bislang wenig Beachtung fand, ist immer weiter ins Zentrum der Arbeit gerückt.

Nun wurden wichtige Termine bekanntgegeben. So soll am 25. August der symbolische erste Spatenstich gefeiert werden – Teil einer Aktionswoche, die vom 24. bis 28. August dauert. „Ein Teilraum unter dem Viadukt der U1 in Kreuzberg wird zum Leben erweckt. In Höhe Oranienstraße informieren wir mit einer Ausstellung, Vorträgen und Führungen über das Vorhaben und zeigen mit einfachen Mitteln baulich auf, wie die Radbahn zukünftig gestaltet werden könnte“, so die Initiative. So lange stehen die Autostellplätze nicht zur Verfügung. Auf dem Programm stehen unter anderem das Kindertheaterstück „Ronan der kopflose Radfahrer“, eine Lastenrad-Bar und ein Kiez-Spaziergang. Geplant sind auch eine Service-Station für Radler und eine grüne Oase dort, wo Autos parkten.
Anderthalb Jahre im Verzug
Als Nächstes soll ein 200 Meter langer Abschnitt, der sich zwischen den Kreuzungen mit der Oranien- und Mariannenstraße erstreckt, zum Testfeld für Nutzungen und Materialien werden. „Dann wird man unter dem Viadukt Rad fahren können“, sagte Hoor. Auch der übrige Raum solle anders genutzt werden. Auf der Liste der Ideen stehen Trinkwasserbrunnen, Sitzgelegenheiten und eine Packstation. „Der Termin wurde mehrmals verschoben, wir sind anderthalb Jahre im Verzug“, so der Radbahner im SO36. „Wir gehen fest davon aus, dass das Testfeld im Sommer 2023 stattfindet.“
Doch die Debatte in dem Musik-Club in der Oranienstraße zeigte, dass es weiterhin viele Bedenken gibt. Es meldeten sich Menschen zu Wort, die den Raum unter dem Viadukt der U1 für keinen guten Ort halten. Es sei laut, links und rechts gebe es viel Verkehr, berichtete ein Anwohner. Er befürchtete Gesundheitsschäden durch Feinstaub und andere Schadstoffe. Eine Frau, die seit 40 Jahren am U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof wohnt, hält den Mittelstreifen für zu schmal, um dort einen Radweg anlegen zu können. „Die Pfosten stehen eng zusammen“, sagte die Frau, die oft mit ihrem Rad unterwegs ist. „Ich will nicht unter der U-Bahn fahren. Ich will die ganze Straße.“
„Es wird weniger Parkplätze geben, das ist ein Problem“
Damit äußerte die Anwohnerin Bedenken, die schon andere formuliert hatten. „Der verfügbare Platz an der Hochbahn ist an vielen Stellen sehr knapp. Zwischen den Hochbahnständern stehen oft kaum mehr als zwei Meter zur Verfügung“, so der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) Berlin in einer früheren Stellungnahme. „Wir halten eine Mindestbreite von 3,50 Metern für erforderlich, um unterschiedliche Geschwindigkeiten im Zweirichtungsverkehr abzuwickeln.“ Die vielen Straßenquerungen seien Gefahrenstellen, die Zugänge zu den Hochbahnhöfen ebenfalls. Ein ungelöstes Problem, so sieht es auch der Fahrgastverband IGEB.
Inzwischen wird das Radbahn-Projekt von der Fahrradlobby positiv bewertet. „Sicher, es birgt einige Herausforderungen“, teilte Lisa Feitsch, Sprecherin des ADFC Berlin, am Donnerstag mit. Und über Details müsse man sicher noch reden. „Doch die Radbahn ist ein sehr innovatives Vorhaben. Ein überdachter Radweg würde Berlin gut stehen.“ Der ADFC unterstütze das Projekt, betonte die Sprecherin.
Eine Machbarkeitsuntersuchung für den Senat kam zu dem Schluss, dass es sinnvoller sei, die nördliche Fahrbahnhälfte der Skalitzer und Gitschiner Straße Radfahrern und Fußgängern zu überlasen – und für Kraftfahrzeuge zu sperren. Wurde die Radbahn-Initiative von der Zeit überholt? Ziel sei es, die Vorstellungen unter einen Hut zu bringen, sagte Maximilian Hoor im SO36.
Während der Debatte gab es auch grundsätzliche Kritik. In ihrem Bereich würden die vorgeschlagenen Änderungen kontrovers diskutiert, sagte Ulrike Hamann vom Berliner Mieterverein. Oft höre sie: „Es wird weniger Parkplätze geben, das ist ein Problem.“ Die Planer müssten sich stärker um Alternativen zum Auto bemühen, die „Klassenfrage“ sei zu stellen: „Kann ich mich bei diesen Nahverkehrspreisen mit meiner Familie durch die Stadt bewegen?“ Die Änderungen könnten die Lebensqualität in dem Gebiet steigern – mit der Folge, dass die Mieten weiter nach oben gehen.
Vermisst: Menschen mit Migrationshintergrund
Die Tauben, die heute unter dem Viadukt leben, würden verdrängt, so Hamann weiter. Und was wird aus den Wohnungslosen, die unter der Stahlkonstruktion kampieren, fügte ein Diskutant hinzu. Jemand anders vermisste in dieser Debatte Menschen mit Migrationshintergrund. „Wie kommen wir an diese Zielgruppe heran?“ Er habe noch keine Lösung, entgegnete Maximilian Hoor.

In immer mehr Städten gewinnen Alternativen zum Auto an Bedeutung, sagte Veit Hannemann von der Stadtteilkoordination Nördliche Luisenstadt. „Ich glaube nicht, dass das sozial diskriminierend ist.“







