Wenn in Berlin ein Löwe umgeht, dann hält die Stadt den Atem an. Während die Medien berichten, Gemeindejäger mit Gewehren auf die Pirsch gehen und Polizei in Hundertschaften anrückt, halten Bürgerinnen und Bürger die Augen offen – mit Erfolg. Denn nach zwei Tagen Raubtierjagd meinen einige Berliner, das Tier gesichtet zu haben. Sie berichten im Detail über sein Verhalten – und darüber, was sie gesehen, gefunden oder gehört zu haben glauben.
Dann stellt sich heraus: Es gab keinen Löwen. In Kleinmachnow am Stadtrand wurde nur ein Wildschwein gefilmt. Moment mal – aber Menschen haben den Löwen, genauer gesagt: die Löwin, doch gesehen?
Große Ereignisse sind immer auch mit großem Stress verbunden, und dieser wirkt sich auf Erinnerung, Wahrnehmung und menschliches Verhalten aus. Auch deshalb gibt es immer wieder massenhaft falsche Wahrnehmungen – und diese sind kein neues Phänomen. Daniel Gilbert, ein Psychologe der Harvard-Universität, hat bereits 1993 bewiesen, dass Menschen unter Stress dazu tendieren, selbst als „falsch“ markierte Aussagen als wahr zu bewerten. Er hatte Probanden in einer Studie Aussagen über einen Kriminalfall vorgelegt, die er als wahr oder falsch markiert hatte.
Kollektives Bewusstsein – wie zum Beispiel über ein Raubtier, das in Berlin umgeht – formt die Wahrnehmung von Zeugen. Ein berühmtes Beispiel: Bigfoot. Das Fabelwesen aus den USA wird seit 1924 in Berichten von vermeintlichen Beobachtern immer gleich beschrieben: groß, haarig und affenartig, oft mit leuchtenden Augen oder bedrohlichen Klauen. Und seit diesem ersten Bericht gibt es auch immer wieder Berichte von genau solch einem Monster, nachdrücklich beharren einige Menschen auf dem, was sie wahrgenommen haben.
Erinnerungen an Ereignisse, die es nicht gab
Es wäre einfach, solche Berichte als böswillige Lügen oder Buhlen um Aufmerksamkeit abzutun, gerade bei solchen brandaktuellen Meldungen wie der von einer Löwin am Rand von Berlin. Doch gerade dies zeigt die große Auswirkung von Medien und Sprache auf unser Bewusstsein. Selbst Erinnerungen sind nicht sicher. Laut einer Studie der Professorin für Medienpsychologie Aileen Oeberst lassen sich Menschen durchaus falsche Erinnerungen unterjubeln – zum Beispiel an Kindheitsereignisse. „Manche waren tatsächlich auch leicht schockiert, weil ihnen natürlich klar wurde, dass es relativ leicht ist, ihnen Erinnerungen zu suggerieren“, sagte die Expertin in einem Interview mit Deutschlandfunk.
Denn grundsätzlich sind Menschen nicht zu Falschaussagen veranlagt, eher zur Aufnahme von Impulsen aus ihrer Umgebung. Trotzdem, so meint Oeberst, kann gerade intensive Beschäftigung mit einem Thema zu falschen Erinnerungen und Wahrnehmungen führen. Und was könnte intensiver sein als eine international behandelte Mediensensation wie ein entlaufenes Raubtier?
Der Psychologe Michael Niedeggen erklärte 2021 in einem Interview mit der Berliner Zeitung: „Man hat festgestellt, dass man Erinnerungen implementieren kann bei Menschen, auch wenn es sie vorher gar nicht gab.“ In einem berühmten Experiment habe man Teilnehmern ein Fotoalbum gezeigt, in das das Foto einer Heißluftballonfahrt eingeklebt wurde. In das Foto wurden Personen montiert, die gar nicht dabei waren. Wenn die Eltern nun insistierten, dass man doch dabei gewesen wäre, nahmen die Probanden das Erlebnis in ihre Erinnerung auf.














