Vor einer Woche wurde in Schöneberg eine Radfahrerin von einem Lkw überrollt. Der Gerätewagen der Feuerwehr stand im Stau, weil radikale Klimaschützer die A100 blockierten. Im Internet entlud sich die Wut gegen die Gruppe „Letzte Generation“. Die wiederum beklagte die „Hetze“ gegen sie.
Umso erleichterter nahmen viele Sympathisanten die Nachricht der Süddeutschen Zeitung auf, dass nach Einschätzung der behandelnden Notärztin der Stau, den die „Aktivisten“ auslösten, die Rettung der verunglückten Radfahrerin nicht beeinträchtigt habe. Schlagzeilen lauteten danach zum Beispiel: „Klimaprotest hatte keinen Einfluss auf Versorgung des Unfallopfers.“ Der Standard, eine österreichische Zeitung, titelte gar: „Notärztin entlastet Berliner Klimakleber“.
Doch tatsächlich mussten die Retter bei ihrer Bergungsaktion wegen des fehlenden Rüstwagens ein hohes Risiko eingehen. Wäre dabei etwas schiefgegangen, hätte sich der Einsatzleiter der Wache Schöneberg vor Gericht wiedergesehen.
Die 44-jährige Radfahrerin, die auf der Bundesallee in Schöneberg von dem Betonmisch-Lkw erfasst wurde, war mit einem Bein unter dem mittleren Reifen eingeklemmt. Laut internen Aufzeichnungen der Feuerwehr verloren die Rettungskräfte, die den Betonmischer hätten anheben sollen, durch den Stau sieben bis neun Minuten Zeit.
Deshalb entschlossen sich die Retter in Absprache mit der behandelnden Notärztin, nicht länger auf den Rüstwagen zu warten. Ein Anheben hätte wohl länger gedauert und die medizinische Situation des Unfallopfers verschlechtert, heißt es in einem Vermerk des Ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes der Feuerwehr. Ein Feuerwehrmann setzte sich deshalb ans Steuer des Lkw und fuhr das Auto vom Bein der Frau herunter.
Die Verantwortung trägt nicht die Notärztin, sondern der Einsatzleiter
Generell gilt aber bundesweit: Lasten werden angehoben und nicht mit eigener Motorkraft weggefahren. „Egal ob der Rüstwagen gebraucht wurde oder nicht. Er wäre nach bundesweiten Regeln erforderlich gewesen“, sagt ein erfahrener Feuerwehrmann. „Außerdem gilt: Wir setzen uns nie in ein Unfallfahrzeug. Hätte der Kollege versehentlich den Rückwärtsgang eingelegt, hätte das 26 Tonnen schwere Fahrzeug die Ärztin oder die Kollegen umfahren können.“
Inwieweit also die Notärztin die vermeintlichen Klimaretter „entlastet“, wird sich vor Gericht zeigen. Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein sagte am Montag: „Die Ansicht der Notärztin ist eine. Es gibt weitere Betrachtungsweisen und Stellungnahmen zu diesem Einsatz. Die Verantwortung für solche Einsätze trägt grundsätzlich der Gesamteinsatzleiter.“ Unter Verweis auf das laufende Verfahren bei der Staatsanwaltschaft will sich Kirstein nicht weiter äußern.
Die Polizei ermittelt, wie berichtet, gegen einen 59- und einen 63-Jährigen, die sich an jenem Montag auf einer Schilderbrücke über der A100 festgeklebt hatten. Bis Polizisten sie losgelöst und von der Brücke geholt hatten, war die Autobahn gesperrt. Ein von der Staatsanwaltschaft bestellter Sachverständiger soll jetzt den kausalen Zusammenhang zwischen der Aktion der Männer, die den Stau verursachten, und dem verspäteten Eintreffen des Rüstwagens untersuchen. Die Klima-Kleber machen ihrerseits die Autofahrer verantwortlich, die keine Rettungsgasse freigehalten hätten.
Parallelen zum „Fall Ronja“ im Jahr 2018
Gegenstand des Sachverständigengutachtens wird auch der Ablauf der improvisierten Bergungsaktion der Schwerverletzten sein. Weil es vorrangig um das Leben der 44-Jährigen ging, die inzwischen für hirntot erklärt wurde, drängte für die Feuerwehrleute die Zeit und es mussten unkonventionelle Maßnahmen ergriffen werden.



