Interview

Paartherapeut: Für viele Paare sind die Sommerferien eine Zerreißprobe

In den Sommerferien verbringen viele Menschen wieder Zeit mit dem Partner. Das geht nicht immer gut. Warum das so ist, erklärt Paartherapeut Fabian Lenné im Gespräch.

„Schon bei der Urlaubswahl kann es zu Problemen kommen“, sagt Fabian Lenné.
„Schon bei der Urlaubswahl kann es zu Problemen kommen“, sagt Fabian Lenné.Imago/Panthermedia

Fabian Lenné ist Paartherapeut in Berlin-Kreuzberg. Er beantwortet alle zwei Wochen eine Frage unserer Leser. Vor seinem Sommerurlaub haben wir uns zum Interview in seiner Praxis getroffen.

Herr Lenné, Sie haben mal gesagt, nach den Sommerferien haben Pärchen besonders viel Bedarf, zur Paartherapie zu kommen. Wie meinten Sie das?

Direkt nach dem Sommer vielleicht nicht. Aber sagen wir mal so: Es gibt zwei Kategorien von Paaren. Die einen nehmen sich am Anfang des Jahres schon vor, eine Paartherapie zu machen, und schaffen es nicht. Die kommen dann in der Regel nach den Sommerferien. Und dann gibt es die andere Kategorie von Paaren, die erst in den Sommerferien bemerkt haben, dass sie etwas tun müssen. Die kommen im Oktober. Es gibt also eine kleine Welle nach den Sommerferien und dann gibt es die größere Welle im Herbst.

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privat
Zur Person
Fabian Lenné, Jahrgang 1960, arbeitet seit 20 Jahren als Paartherapeut in Berlin. Er ist Autor des Buches „Vom Umgang mit der Liebe“. Lenné ist Ausbildungsleiter am Institut für Integrative Paarentwicklung.

In den Sommerferien haben Paare wieder Zeit füreinander und bemerken vielleicht auch Störendes. Ist der Sommer die Zeit der Trennungen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Eher die Zeit der Zuspitzungen. In beide Richtungen. Schon bei der Urlaubswahl kann es zu Problemen kommen. Man beschließt das Ziel halbherzig und dann sagt der Partner: „Wir fahren immer dahin, wo du hinwillst.“ Und so beginnen die Probleme. Dann kommen die Fragen: Inwiefern kann man in die Geborgenheit gehen, um diese Sachen zu lösen? Wenn man das nicht schafft, wird es kritisch. In einer gut funktionierenden Partnerschaft würde man vielleicht sagen: „Du suchst so gut funktionierende Urlaubsorte aus, da muss ich mir gar keine Sorgen machen.“ Man sieht es positiv. Es geht um Vertrauen, um Bindungsfähigkeit. In einer schlechten sieht man schnell die negativen Seiten. Während des Jahres hat man oft gar nicht richtig die Möglichkeit, um zu sehen, ob man die Fähigkeit der Verständigung noch hat. Gerade wenn man Kinder hat und einen anstrengenden Job. Manche Paare sind so eingespannt, dass die anderthalb Stunden in der Paartherapie die einzige Zeit sind, wo sie miteinander sprechen.

Weil?

Na weil sie einerseits ganz viel zu tun haben und weil sie sich nicht trauen, sich miteinander hinzusetzen.

Warum ist es so eine Überwindung über das, was wichtig ist, zu sprechen?

Die Grundlagen für eine Beziehung kommen aus der frühen Kindheit. Es geht um Bindungsfähigkeit, Grundvertrauen, all diese Dinge. 20 bis 40 Prozent der Deutschen haben Bindungsprobleme. Das heißt aber nicht, dass man kein Paar sein kann. Bindungsfähigkeit kann man übrigens früh testen beim Menschen. Wenn das Kind noch gar nicht geboren ist, kann man sehen, wie es sich entwickelt, also ob es Vertrauen hat oder nicht.

Wie geht denn das?

Es gibt eine lustige Frage, mit der man alle Beziehungsratgeber ersetzen kann. Die Frage lautet: „Konnten Sie mit ihren Eltern über alles sprechen, was Sie im Innersten bewegt?“ Wenn die Leute sagen „Ja“, dann ist es nicht so schwierig mit den Bindungsgeschichten. Die meisten Menschen in der Paartherapie stocken aber bei der Frage. Fast alle Eltern kriegen das „warm, satt, sauber“ bei ihrem Kind hin, also sie decken die Grundbedürfnisse ab. Aber dieses „sich wirklich für die kleine Seele des Kindes interessieren“, da wird es schon etwas schwieriger. Es geht um dieses Urgefühl des Vertrauens und der Geborgenheit, das man herstellen muss. Stellen Sie sich einen kleinen Jungen vor. Der sitzt auf dem Schoß der Mutter, springt dann herunter, geht los, erforscht die Welt, ärgert die Katze, macht Schabernack. Und wenn das Kind genug hat, dann kommt dieses Bindungsverhalten: Der Junge kommt zurück und klettert auf den Schoß der Mutter. Jetzt ist die Frage: Kommt das Kind auf den Schoß und fühlt sich wohl? Interessiert sich die Mutter für das Innerste? Wenn das gut geht, dann ist alles in Ordnung. Als Erwachsener läuft der Alltag ja nicht viel anders ab. Wir gehen morgens los, machen was kaputt, untersuchen was, kaufen was wie ein kleiner Junge. Abends kommen wir zurück und wollen eigentlich wieder auf den Schoß. Der Schoß, den gestalten wir und unser Partner.

Wenn ich jetzt aber Sex haben will mit anderen Menschen, dann sollte ich mein Innerstes doch lieber nicht nach außen kehren, oder?

Nee, aber vielleicht gibt es ja die Momente, in denen man darüber sprechen kann? Es gibt da eine schöne Übung, die man mit seiner Partnerin machen kann. Man kauft sich schicke Sonnenbrillen, setzt sich im Frühsommer ins Café und guckt die Leute, die vorbeilaufen, an und redet mit dem Partner darüber, wen man sexuell attraktiv findet. Oder noch besser: Man schlägt dem Partner mögliche andere Partner vor. So nach dem Motto: „Den da drüben müsstest Du doch scharf finden, oder?“ Das Erstaunliche ist, dass viele Paare berichten, dass niemand in der Beziehung weiß, worauf der andere Partner steht. Aber so kann man ins Gespräch kommen über sexuelle Fantasien. Das mit dem Sex und mit dem Fremdgehen, das ist ein echtes Thema. Da hat die Evolution einen Fehler gemacht.

Wie meinen Sie das?

Es widerspricht sich ein bisschen. Bindung, Nähe, sich auf die Familie einlassen, das widerspricht dem Sexuell-Triebhaften. Wenn ich meine Familie pflege, kriege ich Dopamin. Aber wenn ich hinter einer Frau her bin, kriege ich auch dieselben Dopaminstoffe. Wir haben Motivationssysteme in uns, die sich widersprechen. Wir müssen lernen, das auszuhandeln. Sexualität wird bei mir in der Praxis als Symptom gewertet. Es ist die erste Lampe, die angeht. Wenn gar kein Sex stattfindet oder komischer Sex oder er selten ist, ist es die erste Lampe, die angeht und zeigt, wenn in der Partnerschaft etwas nicht funktioniert.

Was tue ich, wenn ich merke: Mit meinem Partner bekomme ich keine wirkliche Nähe hin? Wenn ich mich viel streite?

Wenn es Gefühlswelten am anderen gibt, die man nicht versteht, wenn man sich streiten will oder sich angegriffen fühlt, dann ist es ratsam, sich Zeit zu nehmen und wirklich in die Gefühlswelt des anderen einzutauchen. Wenn der Partner meckert, dann stört ihn etwas. Der Partner findet etwas blöd. Da steckt eine Gefühlswelt dahinter. Wenn der andere Partner sagt: „Du kannst doch meckern, ist mir egal.“ Dann entsteht dieses Vertrauen und diese Nähe nicht. Und wenn ich mutig genug bin, den Perspektivwechsel zu machen, dann bekomme ich auch mehr Nähe und Vertrauen hin. Das sind die Momente, wo man spürt, dass man gespürt wird. In dem Moment ist alles wieder friedlich. Man ist unterschiedlicher Meinung, aber man ist nicht mehr getrennt. Es entsteht eine Verbindung.

Was sagt man einem Menschen, der morgens aufwacht und nicht weiß, ob er oder sie seinen Partner liebt?

Dass er ein Problem hat. Es gibt Leute, die hin und her gerissen sind in sich. Die haben dann Bindungsstörungen und Erfahrungen im Kindesalter gemacht, sodass das dem Partner gegenüber oszilliert. Zwischen „Du bist die Tollste oder der Tollste“ am Abend und am nächsten Morgen hat man Angst vor Vereinnahmung. Beides ist unbewusst, man wacht morgens auf und will schnell weg. Beides ist falsch. Das ist eine desorganisierte Bindung. Das sind Menschen, die nirgendwo ankommen können. Wenn man das mit 45 oder 50 noch hat, sollte man was tun. Bei jungen Menschen ist das normal.

Robert Musil sagt: Man kann eine Beziehung zerschweigen, aber zerreden kann man sie nicht. Lieber streiten oder schweigen?

Ich mag solche Entweder-oder-Sachen nicht. Wenn es Einerseits-Andererseits gäbe, dann hätten wir den Perspektivwechsel. Anders gesagt: Man kann Sachen zerschweigen und Sachen zerreden. Beim Amber-Heard-Prozess gab es einen Moment, da wurde ein Tonband vorgespielt und Johnny Depp sagte: „Please let me go.“ Er will aus dem Zimmer und nicht, dass sie ihm hinterherrennt. Da wäre das Schweigen das Bessere gewesen. Wenn man so ein Streitvideo aufnehmen würde … Die meisten Paare würden sich nach 30 Minuten schämen, was sie da sagen. Aber wenn man im Streitmodus ist, ist man ganz anders drauf. Es gibt Paartherapeuten, die sagen: Wenn Paare zu aufgeregt sind, dann hat es sowieso keinen Sinn zu diskutieren oder eine Paartherapie zu machen.

Oft will der Mann im Streit in Ruhe gelassen werden.

Es gibt zwei Richtungen bei Bindungsstörungen. Es gibt die Ängstlich-Ambivalenten. Das sind die, die ins Kämpfen gehen und hinterherlaufen. Die anderen sind die Vermeidenden. Bei Frauen ist es oft so, dass sie vehementer werden. Das sind zwei verschiedene Bindungsmodi. Das kleine Mädchen wird immer lauter geschrien haben, bis jemand kommt. Der kleine Junge wird sich zurückgezogen haben, weil ihm unangenehm war, was da passiert. Man denkt immer, derjenige, der immer lauter wird, sei der Aggressor. Wenn man es sich aber auf der Bindungsebene anschaut, dann ist derjenige, der sich zurückzieht, trocken und kalt wird, derjenige, der auf der Bindungsebene sagt: „Du gehörst nicht mehr zu mir. Wer bist Du? Du interessierst mich nicht.“ Da wird die Frau lauter, weil sie natürlich gehört werden will. Das schaukelt sich dann auf.

Das ist aber nicht gut.

Nein, das ist schrecklich. Für beide Beteiligten. Das Laute verscheucht den Mann und das Leise ist das, was der Frau Schmerzen zufügt. Man muss bedenken, was das für eine Strafe ist, wenn man einem Kind sagt: „Ich rede jetzt nicht mehr mit Dir.“ Das tut total weh. Das sollte man verbieten. Das tut fast so weh wie Schläge.

Finden Sie es gut, wenn sich Paare vor Ihnen streiten?

Nein, das mache ich nicht mit. Ist aber eine Stilfrage. Manche Therapeuten lassen das laufen.

Im Grunde wollen Sie doch, dass Ihre Paare sich geborgen fühlen, oder?

Ja, Fähigkeit zur Geborgenheit, das ist das große Wort. Viele Menschen haben eine Geborgenheitsstörung oder eine Geborgenheitsambivalenz. Das sind natürlich große Worte. Geborgenheit heißt, dass man wieder in die Nähe kommen kann. Viele Paare spüren punktuell Nähe. Geborgenheit heißt, dass man die Nähe abrufen kann. Die meisten haben Angst davor. Sie spüren das aber nicht als Angst. Das gilt es zu diskutieren.

Viele Menschen suchen sich immer wieder den falschen Partner aus. Wie kommt das?

Klar, das ist ein toller Trick, damit man der Bindungsstörung immer ausweichen kann. Wenn man immer mit schrägen Vögeln zusammen ist, dann weiß man ja, dass man sich nicht dauernd auf jemanden einlassen muss. Wenn ich mit Einzelklienten arbeite, die immer an den falschen Partner kommen, dann üben wir das richtig. Wir schauen: „Wo ist das Toxische? Wo ist das Problem?“ Und dann kommen die wieder und erzählen, wie sie etwa bei einer Party den falschen Partnern aus dem Weg gehen konnten.

Was ist, wenn beide Partner in der Beziehung vermeidend sind?

Dann wird es schnell langweilig, dann passiert in der Beziehung nichts. Man liegt nebeneinander da und schaut fern und wieder Netflix und noch eine Folge, dann ist das irgendwann nicht mehr erfüllend. Beide Seiten sind dann gleich zögerlich und schaffen es, den wichtigen Fragen aus dem Weg zu gehen. Auf jeden Fall ist das entwicklungsfähig. Und das kann 20 Jahre so gehen. Es gibt Paare, die entwickeln sich nicht weiter. Aber wenn dann die Kinder aus dem Haus sind und es nach 20 Jahren nicht besser wird, dann fängt man an, Fragen zu stellen. Dann kommen die Menschen oft in die Paartherapie und fangen an sich zu entwickeln. Es geht darum, über die Angst zu sprechen und zu erfahren, warum man in der Beziehung nicht tiefer gehen kann.

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